Die Bultmann-Ketzer

Wie mein Vater in den Fünfzigerjahren in kirchlichen Kreisen von Ex-Nazis bedroht wurde
Sie nannten sich ironisch „die Bultmann-Ketzer“: Roland Linck (ganz rechts) im Kreise von Kommilitonen der Universität Kiel, Anfang der Fünfzigerjahre.
Sie nannten sich ironisch „die Bultmann-Ketzer“: Roland Linck (ganz rechts) im Kreise von Kommilitonen der Universität Kiel, Anfang der Fünfzigerjahre.
Wer Anfang der Fünfzigerjahre in Schleswig-Holstein als junger Pfarrer offen mit damals modernen Theologen wie Rudolf Bultmann sympathisierte, musste nicht nur mit Kritik, sondern sogar mit makabrer Bedrohung im Stil der Nazis rechnen. Der Hamburger Historiker Stephan Linck schildert die damalige Mentalität in kirchlichen Kreisen und eine bedrückende Geschichte, die einst sein Vater erlebte.

Die frühe Zeit der Bundesrepublik ist in vielem bisher wenig erforscht. Seit Jahrzehnten prägt das Bild vom „Wirtschaftswunder“ unseren Blick auf die Fünfzigerjahre. In jüngerer Zeit erst bekommt dieses Bild Risse, weil die fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in dieser Zeit thematisiert wird. Im Zentrum damaliger Diskussionen stand aber vor allem die hitzig geführte Debatte um die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Die Mehrheit der Bevölkerung sah eine reale Gefahr, die Sowjetarmee würde mit dem Militär ihrer neuen Satellitenstaaten in den Westen einmarschieren, und die harte Unterwerfungspolitik in Osteuropa nährte die Befürchtungen.

Innerhalb der Evangelischen Kirche wurde die Auseinandersetzung um die Wiederaufrüstung zur Zerreißprobe. Ein Teil der Kirche war strikt gegen die Wiederbewaffnung und kämpfte für ein neutrales, unbewaffnetes und wiedervereinigtes Deutschland. Dies waren vor allem die kirchlichen Bruderschaften, die aus der Bekennenden Kirche hervorgegangen waren. Einer der bekanntesten Vertreter war der Mitunterzeichner der Stuttgarter Schulderklärung und Präses der Synode der EKD, Gustav Heinemann.

Heinemann war Mitbegründer der CDU und 1949 Bundesinnenminister geworden. Aus Protest gegen Adenauers Pläne zur Wiederaufrüstung trat Heinemann 1950 vom Ministeramt zurück und im folgenden Jahr aus der CDU aus und gründete mit prominenten Protestanten die Notgemeinschaft für den Frieden Europas, aus der 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) hervorging. Mit ihrem Eintreten für ein wiedervereinigtes, neutrales und unbewaffnetes Deutschland gewann die Partei aber kaum Zustimmung und kam bei keiner Wahl über zwei Prozent der Wählerstimmen.

Dennoch wurden die GVP und andere Initiativen gegen die Wiederaufrüstung scharf bekämpft. Wie hart die pazifistische Richtung angegangen wurde, zeigte sich im Mai 1952 in Essen. Dort sollte eine Kundgebung der „Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung und Generalvertrag“ stattfinden, die polizeilich verboten wurde. Als die Demonstration trotzdem stattfand, erhielt die Polizei die Schusswaffenfreigabe, um die Veranstaltung aufzulösen. Dabei wurde ein junger Kommunist, Philipp Müller, erschossen. Während Müller in der DDR als Märtyrer im Kampf gegen die „westdeutsche Restauration“ Namensgeber zahlreicher Plätze und Straßen wurde, sahen die Westmedien die Aggressivität der jungen Kommunisten als Hauptursache der Eskalation. Kaum wahrgenommen wurde, dass die Veranstaltung zwar vorrangig von Jungkommunisten und Jungsozialisten besucht wurde, die „Jugendkarawane“ aber von einem engen Vertrauten Martin Niemöllers, dem Geschäftsführer des Bruderrats der EKD, Pfarrer Herbert Mochalski, organisiert worden war.

Die Situation in Schleswig-Holstein unterschied sich wesentlich von der im übrigen Gebiet Westdeutschlands. Als 1950 eine Koalition aus CDU, bhe (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) und DP (Deutsche Partei) die Regierung übernahm, gab es in der ersten Regierung nur einen Minister, der nicht NSDAP-Mitglied gewesen war. In der schleswig-holsteinischen Landeskirche wurde die Öffentlichkeitsarbeit ab 1947 von Hans Beyer geleitet, einem ehemaligen Offizier des Sicherheitsdienstes der SS, ab 1952 war der ehemalige Nationalsozialist Wolfgang Baader Leiter der Pressearbeit, auch er war vor 1945 für den Sicherheitsdienst der SS tätig.

Nachdem am 9. November 1959 der Pellwormer Pastor Dr. Johann Haar antisemitisch bedroht worden war, diffamierte ihn Baader in einer landeskirchlichen Pressemeldung als „Sozialdemokrat und Vierteljude“. Und als ein Jahr zuvor Martin Niemöller von der Evangelischen Studentengemeinde in Kiel zu einem Vortrag über Antisemitismus eingeladen worden war, hatte Baader zusammen mit dem Dekan der Theologischen Fakultät Prof. Redeker versucht, die Veranstaltung zu verhindern. Martin Redeker war 1936 im Zuge der Nazifizierung der Theologischen Fakultät nach Kiel berufen worden und ehrenamtlicher Mitarbeiter des „Eisenacher Institutes zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gewesen. Ab 1954 war Redeker Abgeordneter der CDU im schleswig-holsteinischen Landtag. Als 1958 seine Wiederaufstellung durch die CDU gefährdet war, setzten sich Bischof Halfmann und Kirchenamtspräsident Epha gemeinsam mit der Theologischen Fakultät erfolgreich beim Ministerpräsidenten für die Wahl Redekers ein.

In Schleswig-Holstein gab es in den Fünfzigerjahren keine kirchliche Bruderschaft. Von den mehr als 500 Geistlichen der Landeskirche waren drei als religiöse Sozialisten, also Sozialdemokraten, organisiert. Dies reichte bereits zum Vorwurf der Agententätigkeit für Moskau, den der Leiter der Landeskirchlichen Pressestelle, der ehemalige SS-Mann Hans Beyer, erhob. Die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) hatte in Schleswig-Holstein kaum Anhänger, und der Einsatz gegen Wiederaufrüstung und für ein wiedervereinigtes Deutschland wurde diffamiert. Als eine kleine Gruppe von Theologen aus dem Umfeld der GVP 1956 einen Aufruf gegen die Wiederaufrüstung veröffentlichte, gab es harte Proteste. So schrieb der Leiter des Evangelischen Laiendienstes an Bischof Wilhelm Halfmann:

„Wo aber von kirchlichen Amtsträgern Verwirrung der Gewissen hervorgerufen wird, sollte das nicht weniger energisch als moralische Verfehlungen behandelt werden. Wer ein Evangelium von der deutschen Wiedervereinigung an die Stelle des Evangeliums von Jesus Christus setzt, sollte vor die Frage gestellt werden, in wessen Dienst seine Predigt steht und somit auch sein Amt.“

Einen persönlichen Zugang zur Atmosphäre der damaligen Zeit fand ich jüngst bei der Sichtung des Nachlasses meines vor zehn Jahren gestorbenen Vaters Roland Linck. Die Zeit vor seinem Tod hat er genutzt, seinen Nachlass zu ordnen. So hatte er auf meine Bitte hin seine alten Fotos nachträglich beschriftet. Aus seiner Studienzeit in Heidelberg hatte er Fotos aller seiner Professoren im Album, von der Kieler Universität hingegen sind es vor allem Fotos der Studentengemeinde mit dem damaligen Studentenpastor Heinz Zahrnt, der meinen Vater und seine Freunde prägte. Ein Foto vom Rande einer Studentenkonferenz war mir sehr eindrücklich. Es zeigte meinen Vater mit befreundeten Kommilitonen. Er hatte als Bildunterschrift hinzugefügt: „Die Bultmann-Ketzer“. Der Theologe Rudolf Bultmann vertrat mit seiner Entmythologisierungstheologie den Standpunkt, dass beispielsweise die Jungfrauengeburt Christi nicht wörtlich zu verstehen sei, sondern als Mythos. Mein Vater und seine Freunde konnten mit Bultmanns Lesart der Bibel viel anfangen. In den lutherischen Kirchen der Fünfzigerjahre waren solche Gedanken verfemt. Die Flensburger Theologische Konferenz brandmarkte Bultmanns Theologie tatsächlich als „Irrlehre“, also Ketzerei.

„Geeigneter Kandidat“

Wie ernst es mit dem Ketzereivorwurf damals war, habe ich bei der Bildunterschrift meines Vaters nicht begriffen. Dies wurde mir erst jetzt klar, als ich den Rest seines Nachlasses sichtete. Da fand ich einen Brief an den Vikar Roland Linck, der auf den 22. Oktober 1953 datiert war – mein Vater machte damals sein Vikariat bei Propst Wolfgang Prehn in Husum. Prehn war eine der herausragenden Persönlichkeiten in der schleswig-holsteinischen Bekennenden Kirche gewesen. Mein Vater wohnte bei Prehns, und dorthin war auch der Brief adressiert.

In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass in der ehemaligen Eisengießerei Mildstedt eine Müll- und Kadaververwertung eingerichtet worden sei, die mit einer Probeverbrennung eröffnet werden solle. Das Landeskirchenamt hätte zugestimmt, dass mein Vater hierfür ein geeigneter Kandidat sei, und er wurde aufgefordert, sich am folgenden Mittwoch einzufinden, damit er verbrannt werden solle. Fräulein Freytag – meine Mutter und damals frisch verlobt –, Feldbrunnenstraße 29 in Hamburg, habe ihre Zustimmung „gern erteilt“.

Mit anderen Worten: Das Schreiben bewegt sich zwischen einem extrem schlechten Scherz und einer Morddrohung.

Wieso erhielt ein junger Vikar ein derartiges Schreiben? In der Einleitung wird auf die Zustimmung namentlich von Oberkonsistorialrat Carl Brummack aus dem Landeskirchenamt Kiel verwiesen. Mein Vater sei aufgrund seiner Bultmannschen Theologie kein Gewinn für die Kirche und aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Gesamtdeutschen Volkspartei „kein Gewinn für die Adenauersche Integration“. Jemand hatte also diese Tötungsandrohung geschrieben, weil mein Vater einer falschen theologischen Richtung angehörte und Pazifist war. Mein Vater war zwar nicht, wie ihm unterstellt wurde, Mitglied der GVP, er war aber mit dem Vikar Christian Dethleffsen befreundet, der Geschäftsführer des kleinen schleswig-holsteinischen Landesverbandes der Partei war.

Was das Schreiben besonders unangenehm macht, ist die Einbettung von kirchlichen Insider-Informationen. Die Bultmann-Kontroverse war ein innerkirchlicher Streit, Oberkonsistorialrat Brummack vor allem innerhalb der Kirche bekannt und die damalige Anschrift meiner Mutter war bekannt, wenn man wusste, dass ihr Vater der langjährige Hanseatische Missionsdirektor Walter Freytag war. Die Feldbrunnenstraße 29 war seine Dienstwohnung. Dies lässt die Vermutung aufkommen, jemand innerhalb der Kirche habe das Schreiben aufgesetzt. Dass diese Person um die Stilllegung der Eisengießerei in Mildstedt wusste, schränkt das Umfeld auf das Gebiet der Propstei Husum-Bredstedt ein. Es wirkt so, als ob die Autorenschaft bei einem Mitglied des Propstei-Konventes, also einem Theologen liegt. Verifizieren lässt sich dies aber nicht. Fakt ist: Das Schreiben wurde auf einer Schreibmaschine verfasst, es wurden Korrekturen vorgenommen und die Anspielungen waren präzise. Die verfassende Person legte Wert auf Genauigkeit des fiktionalen Schreibens. Auf alle Fälle sollte mein Vater annehmen, dass ein kirchlicher Insider, wenn nicht gar ein Konventsmitglied, das Schreiben verfasst hatte. Sicher ist, dass das vergiftete Klima innerhalb der Propstei Husum-Bredstedt einer der Gründe war, weshalb Propst Prehn bald darauf die schleswig-holsteinische Landeskirche verließ und Vorsteher des Rauhen Hauses in Hamburg wurde.

Nicht unberührt gelassen

Ob mein Vater seinem Propst von dem Schreiben erzählte, ist unbekannt. Als er aber fünf Jahre später in seiner Gemeinde Ostenfeld bei Husum scharfen Angriffen der Kirchenvorstandsmehrheit ausgesetzt war, schickte Prehn von Hamburg aus Pastor Potten mit dem Auto nach Ostenfeld, um meinen Eltern das Rauhe Haus zu zeigen und sie zum schnellstmöglichen Verlassen der Pfarrstelle zu bewegen. 1958 verließen meine Eltern die Landeskirche und mein Vater wurde Pastor am Rauhen Haus.

Den Drohbrief hat er mir zeitlebens nicht gezeigt, er bewahrte ihn aber auf. Ich nehme dies als Beleg, dass ihn das Schreiben nicht unberührt gelassen hat. Es zeigt anschaulich das gesellschaftliche und kirchliche Klima der Fünfzigerjahre und das Ausmaß von Anfeindungen, denen Andersdenkende und Pazifisten in der Kirche damals ausgesetzt waren.

Stephan Linck (Text und Foto)

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"