Das Ubuntu-Prinzip

Afrikanische Traditionen können zu einer menschenfreundlicheren Wirtschaft beitragen
Südafrikanische Tänzer beim Ubuntu-Dorf, das während des Klimagipfels in Johannesburg errichtet wurde. Foto: dpa/ Marco Longari
Südafrikanische Tänzer beim Ubuntu-Dorf, das während des Klimagipfels in Johannesburg errichtet wurde. Foto: dpa/ Marco Longari
Die Förderung des Lebens und der Beziehungen zueinander sind zentrale Gedanken in vielen afrikanischen Traditionen. Wie dieser Grundsatz helfen kann, die ökologischen und ökonomischen Krisen der Industriegesellschaften zu überwinden, beschreibt Boniface Mabanza Bambu von der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika in Heidelberg.

"Afrika gibt es nicht, Afrika kann nur im Plural gedacht werden." Dieser Grundsatz kann angesichts essentialistischer und homogenisierender Zerrbilder zu diesem Kontinent nicht oft genug wiederholt werden. Wie alle Länder der Welt durchleben auch afrikanische Länder in unterschiedlichen Ausprägungen verschiedene Umwälzungen. Die Krisen, ob soziale, politische, ökologische oder ökonomische, die die Weltgesellschaft heute prägen, erschüttern auch den afrikanischen Kontinent. Doch der Kontinent leidet zusätzlich darunter, häufig nur auf krisenhafte Situationen reduziert zu werden. Durch diese reduktionistische Wahrnehmung wird der Blick für die Ressourcen versperrt, die von afrikanischen Kontexten für die Überwindung gegenwärtiger Krisen der Menschheit hervorgehen können.

Diese Ressourcen sind nicht in den herkömmlichen Konzepten zu finden, welche zur Entstehung der Krisen maßgeblich beigetragen haben, die das Fortleben der Menschheit bedrohen. Das vorherrschende Gesellschaftsmodell, das Ungerechtigkeiten zwischen und innerhalb der Länder und somit strukturell Gewalt reproduziert und die Grenzen der Belastbarkeit der Öko-Systeme sprengt, ist nicht zukunftsfähig. Entscheidend ist die Frage, wie andere Gesellschaftsmodelle aussehen können. Es gibt besonders in den Peripherien, wie einige der dezentralen Räume auf dem afrikanischen Kontinent sie darstellen, Ansätze, die trotz aller Widrigkeiten der Geschichte lebendig geblieben sind. Sie haben das Potenzial, zu einer Kultur der menschen- und schöpfungsfreundlichen Ökonomie beizutragen. Die folgenden Zeilen wollen einige dieser Ansätze anhand konkreter Beispiele skizzieren.

Trotz aller unterschiedlichen Ausprägungen ist auf dem afrikanischen Kontinent eine Konstante in der Lebensphilosophie festzustellen, die Betonung der zentralen Stellung und sakralen Bedeutung des Lebens. Es zu fördern sollte das Ziel aller politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Institutionen. Dieses Leben wird nicht nur als gemeinschaftlich, sondern auch als kosmisch vermittelt verstanden. Wie der kongolesische Theologe Matondo Tusisila schreibt, „besagt Lebensförderung die Steigerung der Lebenskraft, das heißt die Stärkung der Teilhabe an der Einheit der Wirklichkeit, welche nur in der Verwiesenheit von allem auf alles Bestand hat. Eine Steigerung der Lebenskraft, die nicht als Stärkung dieser streng gemeinschaftlich und kosmisch vermittelten Teilhabe intendiert wird, stellt extrem Bedrohliches für die Gesellschaft dar, weil sie nur unter gleichzeitiger Beeinträchtigung der Lebensfähigkeit anderer und auf Kosten des kosmischen Gleichgewichtes zu bewerkstelligen ist“.

Die Verwirklichung dieser Vision eines Lebens im Einklang mit dem Recht auf Leben aller Menschen und mit dem Existenzrecht der Mitwelt, welche jede Generation bewahren muss, um sie intakt an die Nachwelt weitergeben zu können, verlangt die Berücksichtigung bestimmter Regeln. Eine davon lautet, dass niemand lebensnotwendige Ressourcen für sich allein beanspruchen darf. Diese Regel bringt die Ökonomie des Teilens auf den Punkt. Sie legt Wert darauf, Lebens-Mittel zirkulieren zu lassen, um Leben zu ermöglichen. Mit Lebens-Mitteln sind hier alle Ressourcen gemeint, die für ein Leben in Würde notwendig sind.

Verantwortung für andere

Man hört in vielen afrikanischen Ländern oft, dass Menschen, die eine Arbeit haben, nicht nur für sich selbst arbeiten, sondern „Brotgewinner“ für viele andere sind. So spielt beispielsweise in der Debatte um eine mögliche Entschädigung der 2012 in Marikana/Südafrika getöteten Minenarbeiter deren Verantwortung nicht nur für ihre eigenen Familien eine Rolle, sondern auch für alle, für deren Überleben sie Verantwortung übernahmen. In manchen Großstädten wie Kinshasa in der DR Kongo äußert sich diese Art von Solidarität des einen Brotgewinners oder der -gewinnerin mit den anderen, indem er oder sie, an dem Tag, an dem er oder sie sein oder ihr Gehalt entgegennimmt, seine oder ihre Kinder zu den verschiedenen Verwandten schicken, um ihnen jeweils einen Teil von diesem Gehalt vorbeizubringen. Die Verantwortung für die anderen ist umso größer, je größer die Möglichkeiten sind, über die eine Person verfügt. Hier wird Lebensfreude nicht von der Akkumulation des Reichtums abgeleitet, sondern von der Bereitschaft zu teilen und die damit verbundenen Möglichkeiten für andere. Hier teilen Menschen nicht von ihrem Überfluss, sondern vom Wenigen, was sie haben. Dies verlangt, dass diejenigen, die haben, versuchen, so zu leben, dass alle anderen auch leben können. Niemand darf sich „breit“ machen auf Kosten der anderen.

Die zweite Regel eines Lebens im Einklang mit der Mitwelt betrifft den Umgang mit den Grundlagen des Lebens selbst. Dies lässt sich vor allem in ländlichen Gebieten beobachten, wo die Menschen von und mit der Natur leben. Sie legen Wert darauf, so wenige Eingriffe in die Natur wie möglich zuzulassen. An diese Verpflichtung erinnern bestimmte Rituale, die die Menschen durchführen, wenn sie sich doch gezwungen sehen, für ihren Energiebedarf zum Beispiel Angriffe auf die Mitwelt vorzunehmen. Diese zielen darauf ab, die Seelen in den Bäumen, in den Flüssen, in den Bergen und an vielen Orten zu erkennen, zu würdigen und sie gegebenenfalls um Vergebung zu bitten. Die Anerkennung der Wälderseelen ist in vielen Regionen eine bewährte Methode für den Schutz der Natur. In den Städten äußert sich der Respekt gegenüber den Ressourcen, die Menschen zum Leben brauchen, durch die akribische Wiederverwendung von Materialien, die in anderen Teilen der Welt zum „Wegwerfen“ verdammt wären.

Keine Gesellschaft kann ohne die schöpferische Kraft seiner Mitglieder überleben. Die Wahrnehmung Afrikas in westlichen Gesellschaften, die von der anlassbezogenen Berichterstattung stark beeinflusst wird, versperrt oft den Blick auf die innovative Kraft, die es in afrikanischen Gesellschaften gibt. In den verschiedenen Bereichen des Lebens entstehen viele neue Ideen, welche die lokalen Potenziale nutzen, um Lösungen angesichts der sich ergebenden Probleme zu entwickeln. Fast in jeder Großstadt gibt es ein Viertel, das dafür bekannt ist, ein Erprobungsort für geniale und kostengünstige Lösungen zu sein. In Kinshasa zum Beispiel, der Hauptstadt der DR Kongo, wird das dem Stadtteil N’djili, zugeschrieben. Hier werden Autos neu erfunden, Ersatzteile neu gemischt, Haushaltsgeräte zu einem neuen Leben erweckt. Recycling und Adaptation von in anderen Teilen der Welt entworfenen Lösungen wird hier gelebt. Aber dort werden auch Produkte direkt entwickelt, welche auf die ganz konkreten Bedürfnisse des Alltags antworten. Zum Beispiel: Was ist das beste System, um Wasser zum Händewaschen im Esszimmer oder in der Toilette permanent zu haben, da wo fließendes Wasser fehlt? Behälter zum Nachfüllen zu entwickeln, die diesen Zweck erfüllen, heißt die Antwort, die an vielen Orten konkrete Gestalt angenommen hat.

Ökonomisch kreativ

Dies kleine Beispiel zeigt den Versuch, mit den wenigen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, so umzugehen, dass das Alltagsleben erleichtert wird. Weitere Beispiele sind in vielen anderen Bereichen des Lebens zu finden: von der Medizin bis hin zur Versorgung mit Grunddiensten wie Strom oder Wasser in den großen Städten, in denen Millionen Menschen jeden Tag mit dem Kampf konfrontiert werden, von öffentlichen Netzen abgeschnitten zu werden, aber jeden Tag Wege finden, am Leben teilzunehmen. Was oft negativ als informelle Ökonomie beschrieben wird, ist Ausdruck einer großen Kreativität, welche die Kraft aus der Pflicht zieht, auch unter schwierigsten Umständen zur Lebensermöglichung der Gemeinschaft beizutragen. Diese innere Kraft ist eine Form von Widerstand gegen den drohenden Tod, aber sie kann nur Früchte tragen, wenn sie mit ökonomischer Vernunft verbunden wird. Das lässt sich überall dort beobachten, wo formelle Strukturen zusammengebrochen sind, etwa im Kongo oder in Simbabwe. Dort sind nur noch die wenigsten formell als Arbeitnehmer beschäftigt. Sie legen aber große Kreativität im Handel mit Produkte an den Tag, die sie im benachbarten Ausland kaufen, um auf der anderen Seite der Grenze eine gute Gewinnmarge zu erzielen und damit ihre Familien zu unterstützen, die darauf angewiesen sind.

Der südafrikanische emeritierte Bischof Desmond Tutu hat die Ubuntu-Lebensphilosophie in seinem befreiungstheologischen Ansatz sowie in der praktischen „Versöhnungsarbeit“ in Südafrika nach der Abschaffung der politischen Apartheid bekannt gemacht. Die Ubuntu-Geisteshaltung ist nicht das, was heute die Gestaltung der Makrostruktur in Afrika prägt. Sie zeigt im Kleinen ihre Wirkung. Sie basiert auf Teilen, auf Unentgeltlichkeit und auf Würdigung der Verschiedenheit gegen das Verlangen nach Akkumulation und Exklusion. Ubuntu versteht sich als Raum für nicht-kommerzielle Interessen und geschenkte Zuwendung. Wie wertvoll wäre es heute in einer auf Wettbewerb und auf Ausschluss gebauten Welt, in der alles nach dem Marktwert beurteilt wird, die unentgeltliche Zuwendung wiederzuentdecken? Sich dessen bewusst zu sein, dass das Leben geschenkt ist, schafft die Voraussetzung für Gewaltlosigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit gegenüber den zukünftigen Generationen und für die Hoffnung, dass eine andere Welt - ohne Kosten-Nutzen-Kalkül - möglich ist.

Aber dies kann im heutigen, vom kapitalistischen Geist dominierten Kontext nur im Widerstand Wirklichkeit werden. Für diesen Widerstand hat der afrikanische Kontinent der Weltgesellschaft viel zu geben. In seinen dezentralen Räumen zeigen viele Afrikaner worauf es beim Leben in positiven Beziehungen zueinander und zur Mitwelt ankommt. In diesen Räumen zeigt sich, dass Menschen nicht zu Egoismus und Konkurrenzkampf verdammt sind und dass der Teufelskreis von Ungleichheiten und von Zerstörung sowohl des Menschen als auch der Umwelt zu stoppen ist. Denn der Mensch kann sich auch durch Solidarität und Gegenseitigkeit und Verbundenheit mit der Mutter Erde und mit der Mitwelt definieren. Um solche Traditionen zur Entfaltung zu bringen, bedarf es einer grundlegenden Veränderung der dominanten Kultur, und diese Veränderung geht tiefer als oft angenommen. Wenn es stimmt, dass tiefgreifende soziale Veränderungen ohne die Transformation der Kultur, die das Denken und das Handeln der Menschen prägt, nicht möglich sind, dann beginnt der Einsatz für ein Gesellschaftsmodell, das einen Ausgleich von Interessen aller Menschen und der Mitwelt beinhaltet, notwendigerweise mit einem Umdenken. Dieses Umdenken betrifft nichts Geringeres als unser Mensch-Sein, die Art, wie wir uns begreifen und verhalten.

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Boniface Mabanza Bambu

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