„Schauen Sie in unsere Gesichter“

Warum sich Rumänien auch dreißig Jahre nach dem Sturz der Diktatur in einer Dauerkrise befindet
Foto: Kathrin Jütte
Foto: Kathrin Jütte
Anfang des Jahres hat Rumänien die halbjährliche Ratspräsidentschaft der EU übernommen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Land in einer tiefen Krise befindet. Wie schwierig die Aufgaben sind, vor denen das zweitärmste Land der EU steht, davon konnten sich die Teilnehmer einer Studienreise der Arbeitsgemeinschaft „Diakonie in der Großstadt“ und der Diakonie Deutschland ein Bild machen.

Rat- und Hilflosigkeit stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Natalia-Elena Intotero (PDS) führt das Ministerium für die im Ausland lebenden Rumänen. Es liegt im Norden Bukarests, im Stadtteil Primverii, einem der teuersten Bezirke der Stadt. Hier waren auch die Mitglieder des Politbüros nach dem Zweiten Weltkrieg untergebracht; hier baute die Nomenklatura in den Sechzigerjahren Villen mit Parks und Swimmingpools. Heute siedeln Investoren ihre Büro- und Firmengebäude in diesem Viertel an.

In den nüchternen Räumen ihres Ministeriums im Bukarester Bulevardul Primverii 22 offenbart sich eines der größten Probleme des südosteuropäischen Landes: Angesichts der Armut und Perspektivlosigkeit haben in den vergangenen Jahren vier Millionen, also fast ein Fünftel der 19 Millionen Rumänen, auf der Suche nach einem besseren Leben, ihre Heimat verlassen. Während sie zunächst nach Ungarn und in die Türkei zogen, lassen sie sich seit dem EU-Beitritt 2007 in Italien, Spanien, aber auch in Frankreich und Deutschland nieder.

Die größte Gruppe mit 1,2 Millionen Menschen lebt in Italien, eine Million in Spanien und 700.000 in Deutschland, berichtet die Ministerin von der regierenden sozialdemokratischen Partei. Und jährlich wandern weiter Hunderttausende ab.

Mit Kampagnen und Programmen will Intotero den Trend stoppen und die im Ausland lebenden Rumänen zurückgewinnen. Aber fragt man sie, ob diese Programme greifen und ob Menschen zurückkehren, kann sie bis heute keine validen Zahlen liefern. Für die Regierung heißt das auch: Die kritische Elite verlässt das Land, zurück bleibt die Stammwählerschaft. Während es zunächst schlecht ausgebildete Arbeiter waren, die ihr Land verließen, cunarii, wie sie nach den spanischen Erdbeerpflückern genannt werden, zieht es inzwischen auch hoch qualifizierte Kräfte, insbesondere Mediziner fort. Diese Menschen fehlen auf dem rumänischen Arbeitsmarkt.

Und nicht nur das: Intotero weist auf die sozialen Probleme hin. Weil die Eltern im Ausland arbeiten, wachsen viele Kinder bei Großeltern, anderen Verwandten oder auf der Straße auf. Andererseits lebten viele Eltern und alte Menschen ohne ihre im Ausland lebenden Kinder. Die so genannte Arbeitsmigration ist damit zu einer gefährlichen wirtschaftlichen und sozialen Bedrohung für das Land geworden. Zwar transferieren die cunari jährlich Milliarden Euro ins Land, doch diese Gelder stimulieren die Wirtschaft nur kurzfristig.

Auf der Suche

Eine, die geblieben ist, ist Dana (Name geändert). Doch das bereut die 44-Jährige aus Hermannstadt/Sibiu heute bitterlich. Dana kennt viele Statistiken über Rumänien, keine sieht gut aus: miserables Bildungssystem, korrupte Politik, Vetternwirtschaft, grassierende Gewalt. „Dieses Land hat in den vergangenen zwei Jahren zwei Ministerpräsidenten abgewählt. Viorica Dancila ist bereits die dritte Premierministerin seit den Wahlen vor zwei Jahren. Ich sehe nicht, wie sich hier etwas ändern soll, da ist die Abwanderung die logische Entwicklung dessen, was hier passiert“, sagt sie. Und: „Schauen Sie in unsere Gesichter.“ Resignation und Traurigkeit hätten sich buchstäblich in die Gesichter der Bukarester eingefräst. Damit es zum Leben reicht, hat sie, wie viele Menschen in Bukarest, zwei Jobs: im Muzeul Nacional de Art al României und in der Gastronomie am Abend. All ihre Hoffnung hat Dana inzwischen in ihre Kinder gesteckt, die schon an italienischen Universitäten studieren. „Ich hoffe inständig, dass sie das Land verlassen“, sagt sie. In der Tat: Es fehlt dem Land an qualifizierten Arbeitskräften, Perspektiven und Steuereinnahmen. Über viele Jahre wurden Ämter in Rumänien auch nach dem Kriterium der Loyalität vergeben. Kein Wunder also, dass die amtierende Ministerpräsidentin Viorica Dancila für viele als eine Marionette des Parteivorsitzenden Liviu Dragnea gilt.

Korruption, Amtsmissbrauch und Elend, in manchen Regionen extreme Armut, Mangel an Warmwasser, Heizung, Strom. Sicher, das alles gibt es in Rumänien. Und es ist wichtig, dass all dieses zur Sprache kommt. Und doch gibt es viele Menschen, die ihr Land verändern wollen. Einer davon ist Vlad Voiculescu. Der 35-Jährige in Jeans und Turnschuhen, mit ruhigem Blick durch randlose Brillengläser, hat ein offenes, jungenhaftes Gesicht. Mit dem Laptop im Gepäck zählt Vlad Voiculescu zur gut ausgebildeten Elite Rumäniens: Studium und Berufstätigkeit im Ausland, davon die letzten sechs Jahre als Wirtschaftswissenschaftler bei der Ersten Sparkasse in Wien. Schon von dort aus organisierte er ehrenamtlich Medikamententransporte in seine Heimat, damit an Krebs erkrankte Menschen lebensnotwendige Präparate erhalten. Doch damit nicht genug. Voiculescu ging zurück nach Rumänien und gründete 2013 in seinem Heimatdorf die Hilfsorganisation MagiCamp, mit der zunächst 32 an Krebs erkrankten Kindern ein Urlaub ermöglicht wurde. Im vergangenen Jahr nutzten 320 Kinder die Möglichkeit, kostenlos Ferien zu machen und dabei von einem medizinischen und pflegerischen Personalstab betreut zu werden.

Das Geld der Eltern ist knapp, viel muss in die Behandlung investiert werden. Damit sich das ändert, hat der engagierte Banker umgerechnet 1,5 Millionen Euro mit seinem Team über den Internetkanal YouTube eingesammelt - es ist die größte Spendenkampagne Rumäniens. Mit „Magic Home“ und „Magic Makers“ organisiert er mit Freiwilligen gesponserten Familienurlaub und auch die Klinikbegleitung der Kinder durch ihre Eltern. Ein spendenfinanziertes „Magic Home“ ist nahe der größten onkologischen Klinik Bukarests entstanden.

Jung, gut ausgebildet, mehrsprachig und mit einem ordentlichen Einkommen: Menschen wie Vlad leben in Rumänien ähnlich wie ihre Altersgenossen in Westeuropa. Doch es sind nicht sehr viele. Und die meisten armen Menschen leben in einer völlig anderen Welt. Das Bildungs- und das Gesundheitswesen in Rumänien seien eine Schande, sagt Vlad. Dazu kommt: Die langen Jahre der Diktatur haben ihre Spuren hinterlassen. Der Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft bedeutet für Rumänien einen historischen Neuanfang. „Die meisten Menschen hier konzentrieren sich auf das Private“, erklärt er. So hätten die heute 40- und 50-Jährigen nur für das eigene Fortkommen gearbeitet. Politisch sei das eine Katastrophe. Die Gesellschaft in Rumänien müsse für alle funktionieren. „Seit 2007 sind wir in der Europäischen Union und könnten best-practise-Beispiele übernehmen, doch wir fragen Euch nicht“, moniert er. Ein weiteres Problem: Rumänien hat große Schwierigkeiten, viele EU-Fördergelder tatsächlich für Projekte auszugeben, berichten Vertreter sozialer Organisationen in Bukarest. Das liegt zum einen daran, dass Behörden, die die Gelder verwalten, nicht genug Werbung dafür betreiben, oft zu bürokratisch und umständlich arbeiten. Somit ist in der Vergangenheit viel Geld verloren gegangen, mit dem das Land seine Infrastruktur hätte verbessern können. Zum anderen müssen viele der Antragsteller oftmals zwischen zehn und fünfzig Prozent der Gesamtsumme des Projektes selbst aufbringen. Das ist für viele soziale Organisationen in Rumänien ein nicht zu überwindendes Hindernis.

Prestigeneubau

Und deshalb hat sich Vlad Voiculescu ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Er will in Bukarest Bürgermeister werden. Mit seiner neuen Partei „Rumänien gemeinsam“ will Voiculescu bei den Wahlen 2020 an die Stadtspitze. Seiner Meinung nach haben Land und Leute Potenzial, und der Kampf gegen Machtmissbrauch und Korruption muss ausgefochten werden: „Die politische Klasse, die Rumänien regiert, muss verschwinden.“ Gemeint ist die seit 2016 regierende Koalition. Sie ist nominell sozialliberal, besteht aber aus der alten Nomenklatura, aus nationalistischen Klientelparteien unter dem Vorsitz von Liviu Dragnea, der vor einem halben Jahr zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs verurteilt wurde.

Vlad Voiculescus Wahlkampfthemen sind, in dieser Reihenfolge: Bukarest als Innovationsstadt im IT-Sektor weiter entwickeln, die Ghettoisierung von Arm und Reich lösen, das Verkehrsproblem angehen und auch den brachliegenden Gesundheitssektor modernisieren. Wenn man ihn sieht und weiß, dass er innerhalb von dreieinhalb Monaten ein Haus für seine sozialen Projekte gebaut hat, traut man ihm auch noch viel mehr zu.

Wie gespalten die rumänische Gesellschaft ist, zeigt sich auch an dem Prestigeneubau der „Kathedrale der Erlösung des Volkes“ in der Innenstadt Bukarests, die der rumänisch-orthodoxe Patriarch Daniel Ende November geweiht hat. Mit seinem 120 Meter hohen Glockenturm ist die neue rumänische Hauptkirche das größte orthodoxe Gotteshaus der Welt und überragt sogar den unweit gelegenen Parlamentspalast, den der kommunistische Diktator Nicolae Ceaucescu in den Achtzigerjahren errichten ließ. Er gilt als das zweitgrößte Gebäude der Welt und ist heute Sitz der rumänischen Abgeordnetenkammer. Ursprünglich waren die Baukosten der Kathedrale bei 80 Millionen Euro angesetzt, mehr als 110 Millionen sind es inzwischen geworden. Die Fronten im Kampf um das Gotteshaus stehen einander unversöhnlich gegenüber: „Das Geld gehört in den Ausbau des Gesundheits- und Sozialwesens“, sagen viele Kritiker dieser Tage in Bukarest. Oder in den Ausbau der Straßen. Kein Wunder, in einem Land, dessen Infrastruktur nicht nur in der Peripherie oftmals in miserablem Zustand ist. Schließlich werden 75 Prozent der Baukosten der Kathedrale aus dem Staatshaushalt gedeckt. „Auf die Glocke ist die Büste des Patriarchen gedruckt, da kann man sehen, wohin die Reise geht“, ist zu hören. Auch vom „zweiten Petersdom“ ist die Rede. Zur Wahrheit gehört auch: Seit jeher unterhalten in Rumänien Politik und Kirche enge Beziehungen, die nach ungeschriebenen Gesetzen funktionieren. So gelten orthodoxe Priester als emsige Wahlkampfhelfer, wenn sie im Gegenzug Spenden oder staatliche Zuschüsse für ihr Gotteshaus erhalten.

Angesichts der desolaten Situation in Rumänien müssen sich deutsche Sozialunternehmen wie die Diakonie fragen, ob sie weiterhin rumänische Pflegekräfte oder Ärzte einstellen, sie gar in Rumänien rekrutieren. Diakoniepräsident Ulrich Lilie hat einerseits Verständnis dafür, dass gut qualifizierte Rumänen auf der Suche nach einem besseren Leben das Land verlassen. Andererseits sieht der leitende Theologe die Diakonie mit ihren Einrichtungen in einer besonderen Verpflichtung, hilfsbedürftigen Ländern auch etwas zurückzugeben. Schließlich zahlten diese Länder, in denen ein immenses Wohlstandsgefälle zu Deutschland bestehe, einen hohen Preis dafür, dass der deutsche Fachkräftemangel von dort aus bedient werde: „Wenn wir profitieren, müssen wir für Ausbildungen sorgen, dafür, das Know-how zurückfließt, oder wir müssen ermöglichen, dass qualifizierte Menschen wieder zurückgehen“, sagt Ulrich Lilie in Bukarest.

Er setzt auf Gespräche mit den Regierungsverantwortlichen, egal welcher Regierung sie angehören, und gleichzeitig will der Diakoniepräsident ein Netzwerk mit den Nichtregierungsorganisationen aufbauen. Denn seit 2014, seit in der EU die volle Arbeitnehmer-Freizügigkeit herrscht, brauchen EU-Bürger keine Arbeitserlaubnis mehr. Zwar wird für deutsche Unternehmen damit die Auswahl kompetenter Fachkräfte größer, aber es kommen auch Menschen ohne Ausbildung. Viele akzeptieren Billiglöhne - und leben für eine Wuchermiete in engen Zimmern, in Schrottimmobilien oder auf der Straße, wo sie oftmals in diakonischen Einrichtungen Hilfe suchen.

Wer sind wir?

Politisch sieht Lilie die Europäische Union in der Pflicht, denn nur mit Standortpolitik könnten die Eliten in diesen Ländern gehalten werden: „Es sind ja oftmals die Schlauen, die gehen.“ Und das verändere auch die politischen Mehrheiten in diesen Ländern.

Auch Cord Meier-Klodt sieht das so. „200.000 Menschen im Jahr verlassen derzeit Rumänien“, sagt Meier-Klodt, der seit knapp zwei Jahren deutscher Botschafter in Bukarest ist. Die Perspektivlosigkeit der rumänischen Politik störe sie. Cord Meier-Klodt empfängt die Besucher in seinem Amtssitz in der Strada Capitan Gheorghe Demetriade 6. Rumänien ist ein schwieriger Posten für einen Botschafter. Denn in den vergangenen zwei Jahren hat die Regierung dreimal gewechselt, so gibt es keine Politik aus einem Guss. Zudem: Die regierende Linkspartei ist keine Partei des Fortschritts, sondern eine sehr konservative, rückwärtsgewandte. Der 61-jährige gebürtige Hamburger findet für einen Diplomaten ungewöhnlich deutliche Worte: Es sei perfide, dass die Abwanderung der kritischen und gut ausgebildeten Eliten billigend in Kauf genommen würde. Denn zurück bliebe die Stammwählerschaft. Und Cord Meier-Klodt warnt: „Politik und Gesellschaft bewegen sich immer weiter auseinander und polarisieren, der Trend hält an, und das tut dem Land nicht gut.“

Er benennt auf der einen Seite eine aktive Zivilgesellschaft, die im vergangenen Sommer im Kampf um Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung demonstriert hat und auf ein geeintes Europa mit dessen Wertesystem setzt. Auf der anderen Seite seien es die alten Kader, die sich der Strukturen der kommunistischen Zeit bedienten, mit Korruption bis in die Regierungspartei, die „tunnelblickartig ihre Eigeninteressen“ vorantreiben. Zudem leide das Land unter einem schlechten Image. Zu Unrecht, wie Meier-Klodt betont.

Dass sich Rumänien sehr entwickelt hat, dass Deutschland mit dreißig Milliarden Euro Handelsvolumen größter Handelspartner Rumäniens ist, dass sich zunehmend zivilgesellschaftliche Gruppen organisieren, habe sich noch nicht eingespeist. Der deutsche Botschafter setzt auf eine aktive Zivilgesellschaft für die demokratische Entwicklung des Landes. Und auf Aufarbeitung der Frage „Wer sind wir eigentlich?“.

Menschen wie Vlad Voiculescu wissen das längst. Sie wollen gewöhnliche Europäer sein. Und die anderen? Die lassen Rumänien auf der Kippe stehen. Es ist schwierig, dort eine gesellschaftliche Mehrheit für die Idee und die Formen der Zivilgesellschaft zu gewinnen. Umfragen ergeben immer wieder, dass die meisten Rumänen ein übergroßes Vertrauen in Institutionen wie Kirche, Armee oder Präsidentschaft haben, während Parlament und Gewerkschaft kaum Ansehen genießen. EU-Kommissionschef Jean-Claude Junckers Anfang des Jahres geäußerte Kritik, Rumänien sei auf die EU-Ratspräsidentschaft nicht vorbereitet, ist eines der geringsten Probleme, die die Menschen dort umtreiben.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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