Der omnipräsente Wettbewerb

Was hinter der steten Rede von Lebensleistungen steckt
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Der Begriff der Lebensleistung ist ein Trendbegriff. Keine Talkshow, kein politisches Statement, keine Beerdigung ohne den Hinweis darauf, wie es um die Lebensleistung einer Person bestellt sei oder wie wichtig die Würdigung der Lebensleistung einer Personengruppe sei.

Konjunktur hat das derzeit in Bezug auf Menschen aus der DDR. Völlig zu Recht wird darauf hingewiesen, wie sehr im Westen ignoriert wird, welche Auswirkungen die Abwertung von Berufs- und Studienabschlüssen für viele bis heute hat. Welchen Kraftakt die Wendejahre mit grassierender Arbeitslosigkeit bedeuteten, welche Verheerungen die Treuhandpolitik verursachte. Ganz zu schweigen von dem nachhaltigen Unwissen über DDR-Alltags- und Kulturgeschichte, ihre Nischen und Errungenschaften.

In den Jahren zuvor ging es bei „Lebensleistung“ um die Anerkennung von Kindererziehung und Pflege und deren Anrechnung für die Rente von Frauen. Es ist folgerichtig, dass dieser Begriff nun ebenfalls auf Migranten und auf Senioren angewendet wird. „Lebensleistung“ transportiert politische Forderungen, vor allem in Verbindung mit finanziellen Ansprüchen. Es geht also immer auch um das, was abseits der Lohnleistung an wirtschaftlichen Werten geschaffen wird und wofür entsprechende Gegenleistung ausbleibt.

Der Begriff passt zugleich in eine Zeit, in der sämtliche sozialen Bezüge und unsere Sprache durchökonomisiert und von der Leitidee des Kapitalismus durchsetzt sind. Handeln muss erkennbaren Nutzen haben. Wir trauern nicht mehr, wir leisten Trauerarbeit. Wir sorgen uns nicht um unsere Beziehung, sondern wir leisten Beziehungsarbeit. Wir sind nicht nur im Beruf effizient, sondern auch in unserer Freizeit. In unserer Burnout-Gesellschaft ist der Wettbewerb omnipräsent, ständig messen wir uns - mit anderen und der „besten Version unserer selbst“.

Der Soziologe Ulrich Bröckling hat das als „Realfiktion“ des „unternehmerischen Selbst“ bezeichnet. Wir sollen uns eigenverantwortlich, risikobewusst und kundenorientiert verhalten, immer auf dem Weg der Selbstoptimierung und im höchsten Maße flexibel. Und Richard Sennett beschrieb den neuen Flexibilisierungszwang als „allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts ‚aus sich machen zu können’, das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identität zu gewinnen.“

Die erwarteten Anpassungsleistungen sind in der Tat hoch: Sie waren einschneidend und massiv für die Bürgerinnen und Bürger der DDR in den Jahren der Wende. Und in Zeiten marktradikaler Globalisierung und Finanzkrisen drohen ihre Erfüllung für viele Menschen unmöglich zu sein. Die Rede von „Lebensleistungen“ honoriert solche Anpassungsleistungen. Sie bietet aber keine Sprache, die zugrundeliegenden Entwicklungen und Grundannahmen infrage zu stellen und sich von ihnen zu befreien.

Wenn von Identität nur noch in Form von Leistung gesprochen werden kann, wird Würde zu etwas, das man sich erst verdienen muss. In einer Gesellschaft, in der - wie Wilhelm Heitmeyer schreibt - „nur Gewinner zählen und alle anderen mit Anerkennungsverlusten sowie Desintegrationsängsten zu kämpfen haben“, wird das Pochen auf die eigenen Leistungen überlebensnotwendig - und zunehmend gemeinschaftszerstörend. Denn es geht nicht mehr nur um Fragen von Existenz und Versorgung, sondern um den eigenen Status, der so fragil ist wie nie, und der zunehmend in Abwertung anderer erworben wird. Die entstehende Kränkung, Scham und Verbitterung können anhaltend sein.

Noch viel länger als in den politischen Debatten ist „Lebensleistung“ übrigens ein Begriff der Landwirtschaft. Dort bezeichnet er den Ertrag eines Rinds während seiner „Nutzungsdauer“: So können Holstein- und Fleckkühe in einer Nutzungsdauer von 37 Monaten eine Lebensleistung von etwa 27.000 Litern Milch erbringen.

Die Idee des Nutzens, des Konsums und der Produktivität unseres Lebens hat sich zutiefst mit unserer Vorstellung von Würde verbunden - ein Denken, das bestimme Menschen „überflüssig“ mache, kritisiert Ilija Trojanov.

Was also, wenn wir hin und wieder nicht von „Lebensleistung“ sprechen, sondern von „Leben“ oder von „Lebenserfahrungen“? Heilsam ist ja nicht die Aufforderung: Liste mir auf, was Du geschafft hast! Heilsam ist aber die Bitte: Erzähl’ mir von Deinem Leben, erzähl’ mir von Deinen Erfahrungen. Weil nur das auch dem Scheitern, der Ratlosigkeit, der eigenen Verletzlichkeit einen Raum geben kann.

Darin können dann aber auch Mut und Tatkraft, Kreativität und Gelingen zur Sprache kommen. Es steckt die Möglichkeit des Miteinander-Teilens, des Voneinander-Lernens und der Empathie darin. Vielleicht lässt sich in solchem Erzählen und Zuhören sogar so etwas wie Gehaltensein und Gnade entdecken.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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