Tradition neu erfinden

Über gegenwärtige Entwicklungen in afrikanischen Theologien
Ein Pfarrer segnet Besucherinnen eines Gottesdienstes in Francistown, Botswana. Foto: dpa/ Heiner Heine: dpa/ Heiner Heine
Ein Pfarrer segnet Besucherinnen eines Gottesdienstes in Francistown, Botswana. Foto: dpa/ Heiner Heine: dpa/ Heiner Heine
Wieviel Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nötig, um eine Theologie zu entwickeln, die den Menschen hilft? Diese Frage beschäftigt afrikanische Theologien bereits seit den Fünfzigerjahren. Claudia Jahnel, Professorin für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit an der Ruhr-Universität Bochum, zeichnet die unterschiedlichen Antworten bis in die Gegenwart hinein nach.

Als am 30. März 1990 - keine zwei Monate nach der Freilassung Nelson Mandelas - die Vollversammlung der All African Conference of Churches (AACC) in Mombasa/Kenia tagte, sah vermutlich noch niemand voraus, dass die Konferenz einmal als Geburtsstunde der „Theologie der Rekonstruktion“ in die Geschichte der afrikanischen Theologien eingehen würde. Das Ende des Apartheidsystems in Südafrika und der Zusammenbruch der globalen Ost-West-Frontstellungen stellten auch Kirchen und Theologie in Afrika vor viele Fragen. Was bedeutete dieser „wind of change“ für sie? „The Future of the Church and the Church of the Future in Africa“, so lautete das Thema der Konferenz, zu dem der damalige Vorsitzende der AACC, der anglikanische Theologe Desmond Tutu aus Südafrika, den katholischen Theologen aus Nairobi, J. K. N. Mugambi, als Hauptredner einlud. Er gilt heute als Architekt der „Theologie der Rekonstruktion“, die sich nach Mombasa als dritte und neueste Richtung innerhalb der afrikanischen Theologie etablieren sollte, neben den ab den Fünfzigerjahren entwickelten Theologien der Inkulturation (vertreten etwa von John Mbiti oder Kwesi Dickson) und der Befreiung (Manas Buthelezi oder einflussreich: Steve Biko).

Afrikanische Theologien gibt es, so muss jedoch korrigierend eingefügt werden, seit den ersten Jahrhunderten nach Christus. Man denke an die Anfänge der koptischen Kirche in Ägypten, die orthodoxen Kirchen in Äthiopien oder Eritrea oder an Augustin von Hippo, der aus der nordafrikanischen Stadt Thagaste stammte. Profanhistoriker wie Cheik Ata Diop aus dem Senegal oder Joseph Ki-Zerbo aus Burkina Faso und Kirchenhistorikerinnen wie Mercy Amba Oduyoye aus Ghana - in „Wir selber haben ihn gehört“ (1988) - arbeiten schon seit den Siebzigerjahren daran, deutlich zu machen, dass es seit Jahrhunderten eine elaborierte Philosophie und Theologie in Afrika gibt. Ja, nicht nur das: Diese haben auch die Entwicklung der griechischen Antike sowie der christlichen Kultur in Europa entscheidend beeinflusst. Doch erst jüngere Publikationen aus der Feder westlicher Forscher, die offensichtlich weniger im Verdacht stehen, afrozentrischen Vorurteilen zu erliegen, scheinen die geschichtlichen europäisch-afrikanischen Verflechtungen deutlicher zu Gehör bringen zu können. Dazu zählen unter anderem die Veröffentlichungen von Thomas C. Oden „How Africa Shaped the Christian Mind“ (2010) oder die „Studies on the History of Late Antique and Christian Nubia“ (2002) von Laurence Kirwan.

Nichtsdestotrotz schweigen auch die Curricula vieler theologischer Ausbildungsstätten in Afrika über afrikanische Kirchengeschichte, Kirchenväter und Kirchenmütter oder Heilige. Daran lässt sich die Macht erkennen, mit der der Kolonialismus weiterhin das Denken formt.

Das bringt uns zurück zur Theologie der Rekonstruktion. Denn in ihr geht es eben darum, die Phase von Kolonialismus und Post-Kolonialismus hinter sich zu lassen und Kirche und Theologien der Zukunft in den Blick zu nehmen. Fragen der Inkulturation wie der Befreiung müssten endlich als abgeschlossen betrachtet werden, so Mugambi. Theologien in Afrika sollten in Zeiten der Post-Apartheid und der Globalisierung nicht mehr aus der Haltung des Widerstands heraus entwickelt werden. Sie sollte vielmehr am kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Wiederaufbau mitwirken. Bezeichnenderweise beruft sich Mugambi dabei auf die europäische Reformation. Sie habe gezeigt, wie Kirche und Theologie durch die Stärkung kultureller Werte und Besonderheiten konstruktiv ihre Verantwortung für Staat und Gesellschaft wahrgenommen hätten.

Mühsame Wanderung

Die Kritik an der Theologie der Rekonstruktion wie auch an der etwa zeitgleich in Südafrika entstehenden „Öffentlichen Theologie“ ließ nicht lange auf sich warten. Sie kam vor allem aus den Reihen südafrikanischer Theologen, die vor der Apartheid der Kairos- und der Schwarzen Theologie nahegestanden hatten. Rekonstruktions- und Öffentliche Theologie sprängen gar zu schnell von Ägypten nach Kanaan, vom Exil ins Postexil, so kommentiert etwa der südafrikanische Theologe Tinyiko Maluleke. Die mühsame, aber notwendige Wanderung durch die Wildnis - also die kritische Aufarbeitung der Ideologien und Praktiken, die in den letzten 500 Jahren zur Ausbeutung und Unterdrückung des Kontinents beigetragen haben - werde einfach übersprungen. Doch die Wunden der Sklaverei, der Ausbeutung und der Apartheid seien längst nicht verheilt, noch sei die Welt gerechter geworden, so urteilt Maluleke in einem Artikel, der den bezeichnenden Titel trägt „Dealing lightly (oberflächlich) with the wounds of my people“.

In der Debatte wird eine Grundspannung deutlich, die afrikanische Theologien seit den Fünfzigerjahren prägt. Sie lässt sich in der Frage zusammenfassen: Wieviel Vergangenheit, wieviel Gegenwart und wieviel Zukunft sind sinnvoll und nötig, um eine Theologie zu entwickeln, die Menschen dabei hilft, ihr Leben angesichts von Erfahrungen von Unterdrückung, Marginalisierung, von Brüchen und kulturellem Identitätsverlust gleichwohl als sinn- und bedeutungsvoll zu verstehen? Beide in den Fünfzigerjahren entstandenen theologischen Richtungen setzen sich in zahlreichen Werken mit dieser Frage auseinander, gehen jedoch von grundsätzlich verschiedenen Annahmen und Voraussetzungen aus.

Kulturtheologen fühlen sich der Inkulturation des Evangeliums in afrikanische Kulturen verpflichtet und suchen hier Anknüpfungspunkte für christliche Inhalte. Neben der Gotteslehre stand ab den Achtzigerjahren die Christologie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn anders als die Vorstellung von Gott, bildet die eines Gottessohnes oder menschgewordenen Gottes ein kulturelles Novum und bedarf besonderer Übersetzungs- und Vermittlungsbemühungen. Zahlreiche namhafte Theologen, allen voran Charles Nyamiti aus Tansania und Bénézet Bujo aus der Demokratischen Republik Kongo, begründeten die Vorstellung von Jesus Christus als höchstem Ahn, aber auch als Befreier, als erstgeborenem Sohn, als Initiationsmeister, als Erlöser oder als machtvollem Versöhner.

Befreiungstheologinnen und -theologen, für die der Mensch als solcher und seine existentielle - also kulturunabhängige - Befreiung im Zentrum steht, kritisieren die Kulturlastigkeit der inkulturationstheologischen Entwürfe. Der kamerunische Theologe Jean-Marc Èla etwa konstatiert in seinem Buch „Gott befreit“ (2003): „Seit der Entstehung der afrikanischen Theologie Ende der Fünfzigerjahre besteht die Versuchung, vor allem jenen afrikanischen Wirklichkeiten Aufmerksamkeit zu schenken, mit denen sich die Ethnologie befasst.“ Mit süffisant-ironischem Unterton bemerkt Èla, dass afrikanische Theologien, die sich mehr mit dem „Charme des Exotischen“ und dem „Indigenen“ der Vergangenheit beschäftigen als mit dem „Indigenen der Gegenwart“, die koloniale Praxis fortsetzen, afrikanische Kulturen zu Museumsschaustücken zu machen. Desmond Tutu kritisierte Jahrzehnte früher in seinem bekannten Aufsatz „Black Theology/African Theology“ (1975), die Kultur-Theologien seien politisch wirkungslos. Es sei ihnen „nicht gelungen, das Schwert ausreichend scharf zu schmieden“, um etwas ausrichten zu können gegen Militärregierungen, Armut, Unterentwicklung oder Krankheit.

Andererseits lässt sich gerade am Beispiel des Denkens und Handelns Desmond Tutus nach 1990 erkennen, dass der einstige Graben zwischen Inkulturations- und Befreiungstheologie der Einsicht gewichen ist, dass mit der Kolonialisierung Afrikas und der Apartheid in Südafrika nicht nur Akte schlimmster physischer Gewalt einhergingen, sondern auch Akte kultureller Gewalt. Die Kolonialherrschaft war so „total und nivellierend“, so konstatierte der algerische Psychologe und Befreiungskämpfer Frantz Fanon in den Fünfzigerjahren, dass ein „Verbleichen“ möglich war.

Dieses Bewusstsein, dass ein gewisses Maß an kultureller Zugehörigkeit auch und gerade für politisches und gesellschaftliches Engagement notwendig ist, kennzeichnet viele afrikanische Theologien heute. Für die brennenden Fragen der Gegenwart werden Traditionen der Vergangenheit neu fruchtbar gemacht. Diese Neuerfindung von Traditionen ist - wie auch in Europa heute sehr deutlich wird - natürlich höchst ambivalent.

Desmond Tutu belebt die angeblich jahrhundertealte Ubuntu-Tradition wieder, um das Gefühl der Solidarität in der Regenbogen-Nation Südafrika zu stärken und eine moralische Basis für Versöhnung und friedliches Zusammenleben zu legen: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, deshalb bin ich.“ Afrikanisches Wissen sei, der kommunitaristischen Ethik vergleichbar, der Gemeinschaft verpflichtet und gehe von hier aus auf die Individualität ein.

Der ebenfalls südafrikanische Theologe Charles Villa-Vincencio ist hier etwas vorsichtiger. In „Gottes Revolution“ (1995) lässt Villa-Vincencio die Frage offen, ob die stärkenden, befreienden und gesellschaftsverändernden Quellen eher in den kulturellen Werten aus indigenen und vorkolonialen Traditionen zu finden seien oder nicht eher in Vereinbarungen der Moderne zum Schutz der Menschenrechte.

Seit den Neunzigerjahren haben sich neben den auch heute noch in verschiedenen Modifikationen vertretenen Inkulturations-, Befreiungs- und Rekonstruktionstheologien weitere Richtungen entwickelt. Bezeichnenderweise werten auch sie regionale „Traditionen“ auf und messen diesen eine wichtige Bedeutung für gesellschaftliche und globale Veränderungsprozesse bei: Feministische Theologinnen, etwa Oduyoye, spüren starke weibliche Vorbilder in mündlichen Überlieferungen auf und entwickeln daraus sozialethische Impulse. Postkoloniale Theologinnen, wie etwa die südafrikanische Neutestamentlerin Musa Dube, stellen gemäß der Methode des kontrapunktischen Lesens von Edward Said westlich-imperialen Texten - vor allem biblischen Texten - die Erzählungen aus lokalen Traditionen gegenüber, um die Deutungshoheit westlicher Narrative infrage zu stellen und lokales Wissen zu stärken. Auch in der theologischen Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Herausforderungen - etwa der ökologischen Krise, der Versöhnung und Gewaltüberwindung, der Vertreibung und Migration oder von Heil und Heilung - spielen regionale Traditionen eine wichtige Rolle.

Von zentraler Bedeutung sind die Themen Tradition, Traditionsabbruch, Moderne und Zukunft schließlich in der am schnellsten wachsenden religiösen Entwicklung in afrikanischen Ländern, der pentekostalen Bewegung. Die Attraktion dieser Kirchen liegt laut der Ethnologin Birgit Meyer in dem Bruch mit der Vergangenheit und dem Wunsch, modern zu sein - und trotzdem auch noch einen Teil der „alten“ Identität zu bewahren. Einerseits werden pentekostale Christen zum radikalsten Bruch mit ihrer Vergangenheit, vor allem der Verehrung von Geistern aufgefordert. Andererseits wird diese „überwundene“ Vergangenheit in Praktiken der Dämonenaustreibung permanent neu inszeniert und präsent gehalten.

Ambivalenz und Gefährdung

Eine Frage, die auf afrikanisch-europäischen theologischen Tagungen stets präsent ist, lautet: Wie können wir, afrikanische Theologinnen und Theologen, eine Theologie entwickeln, die auch über Afrika hinaus von - universaler - Bedeutung ist? Wann wird Europa unsere Theologien endlich als relevant erachten? In diesen Fragen spiegelt sich die anhaltende Last der asymmetrischen kolonial-postkolonialen Geschichte. Sie übersieht aber auch, dass europäische und afrikanische Theologien schon längst miteinander verflochten sind. Die derzeit weltweit stattfindenden Neuerfindungen kultureller Traditionen bieten dafür nur ein Beispiel. Ihre Ambivalenz und Gefährdung lassen zudem ein gemeinsames Lernfeld erkennen.

Der „wind of change“ der Neunzigerjahre hat andere Richtungen eingeschlagen als damals viele afrikanischen Theologinnen und Theologen hofften. Seither spielen jedoch globale Herausforderungen - etwa in den Bereichen von Ökologie, Bioethik, Gewalt, Migration oder Fundamentalismus - eine nachahmenswerte zentrale Rolle in afrikanischen Theologien. In den Worten des nigerianischen Jesuiten Agbonkhianmeghe E. Orobator: Theologie darf nicht „dis-inkarniert“ werden, sondern muss im weltweiten theologischen und interdisziplinären Gespräch die Relevanz für die Welt zum zentralen Maßstab theologischen Nachdenkens machen.

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Claudia Jahnel

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Foto: privat / Jens Schulze, EKD

Claudia Jahnel

Dr. Claudia Jahnel ist Professorin für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit an der Universität Bochum.


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