zeitzeichen: Was hat die VEF bewogen, gerade jetzt eine Stellungnahme zum Thema Flüchtlinge zu verfassen?
Peter Jörgensen: In den vergangenen Jahren hat sich die Debatte über Flucht und Migration in Europa in erschreckender Weise verschoben. Noch vor wenigen Jahren galt es als selbstverständlich im öffentlichen Diskurs, dass Menschen in Not geholfen werden muss. Inzwischen gilt es vielen als ganz normal, diese Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen. Insofern war es uns wichtig, gerade jetzt an diese verlorene Selbstverständlichkeit zu erinnern, ja, sie einzuklagen.
Ihre Stellungnahme konstatiert, dass Europa dabei sei, „seine Seele zu verkaufen“. Was meinen Sie damit genau?
Peter Jörgensen: Viele Menschen tragen die tiefe moralisch-ethische Überzeugung in sich, nach der es geboten ist, Menschen in Not zu helfen. Allerdings wird ihnen angesichts der Ereignisse von Flucht und Migration bewusst, dass es ihnen schwerfallen würde, die konkreten politischen Folgen zu tragen. Es ist eben leichter, eine moralisch-ethische Theorie nur zu haben, als sie in der Praxis bewähren zu müssen. Da merken viele, dass sie doch zu schwach sind, diese Überzeugung praktisch mit Leben zu füllen.
Sie fordern in Ihrer Stellungnahme einen „Richtungswechsel“? Was müsste Ihrer Meinung nach konkret geschehen?
Peter Jörgensen: Zunächst einmal ist es uns wichtig, diese Schwachheit zu realisieren und zu reflektieren, um die öffentliche, auch politische Verzagtheit zu überwinden und beherzt und kraftvoll unsere Überzeugung zu leben - im Bewusstsein, dass es uns etwas kostet.
Der Reformierte Bund hat vor zwei Jahren in seiner Erklärung „Flucht und Exil“ unter anderem geschrieben, wir müssten uns darauf einstellen „dass sich unsere Lebensumstände ebenso verändern werden, wie wir das auch von den Flüchtenden erwarten“. Das erschien ziemlich radikal …
Peter Jörgensen: Ich empfinde diese Forderung oder Erwartung überhaupt nicht als radikal, sondern als völlig normal! Wenn Menschen zu uns kommen, müssen wir uns gemeinsam mit ihnen verändern - wie soll es anders gehen? Lebendig ist, wenn sich Menschen, die einander treffen, gegenseitig verändern, das gilt für eine Ehe, für eine Familie und für jede Art von menschlicher Gemeinschaft. Veränderung ist ein Prozess des Miteinanders und nicht eine Bringschuld des einen zu anderen hin. Es wird auch materiell nur so gehen, dass wir von dem, was wir haben, abgeben, dass wir teilen.
Sie kritisieren in Ihrer Stellungnahme, dass sich manche Menschen bei uns als die „wahren Opfer von Flucht und Vertreibung“ sähen, weil „ihr Lebensstandard“ bedroht sei. Können Sie diese Sorge nicht ein stückweit verstehen?
Peter Jörgensen: Nein. Natürlich verstehe ich, dass es vielen Menschen zunächst schwerfällt, mit weniger auskommen zu sollen, als man bisher hat. Da wir aber so sehr im Überfluss leben, ist es doch eigentlich leicht! Das gilt nicht für alle bei uns, aber die, die nichts zum Abgeben haben, sind dabei auch nicht gefordert. Selbstverständlich müssen diese weltweiten Umschichtungsprozesse intelligent gestaltet werden, aber sie einfach abzuwehren, halte ich für fatal. Wir müssen uns endlich der politischen Wirklichkeit öffnen, die darin besteht, dass wir uns in einer sehr herausfordernden globalen Situation befinden. Die Antwort kann dabei nicht sein, dass uns das Globalwohl nicht interessiert, sondern nur das Nationalwohl, und der Rest ist uns egal. Es ist doch egoistisch, wenn wir so tun, als läge die Lösung darin, eine „Festung Europa“ zu errichten. Leider haben wir zurzeit die fatale Tendenz, diese Wirklichkeit zu verdrängen, und das wird sich rächen, denn Verdrängung rächt sich immer, sie macht uns krank. Wenn wir so weitermachen, dann wird die Krise in Richtungen expandieren, die wir überhaupt nicht mehr steuern können.
Es werden immer mehr Stimmen laut, die behaupten, dass die Kirchen sich seit 2015 sehr einseitig zu den Themen Flucht und Migration geäußert haben. Können Sie eine solche Sichtweise verstehen?
Peter Jörgensen: Ich finde, die großen Kirchen haben sich bei weitem nicht deutlich genug in diesem Thema geäußert! Das liegt sicher auch daran, dass sie Volkskirchen sind. Insofern wollten sie Einseitigkeit vermeiden, indem sie ein Stück weit die vielen Stimmungen aufgenommen haben. Dadurch haben sie aber leider nicht das scharf genug formuliert, was unmissverständlich deutlich zu sagen nötig gewesen wäre.
Fällt es Freikirchen vielleicht leichter, Forderungen an die persönliche Moralität des Einzelnen zu stellen als den großen Volkskirchen, in deren Mitgliedschaft sich ein sehr viel weiteres Spektrum von Nähe und Distanz zur Kirche findet?
Peter Jörgensen: Das mag sein. Für alle Kirchen aber ist hier Klarheit notwendig. Jemandem, auch einer vermeintlichen Mehrheit, nach dem Munde zu reden, hilft in keinem Falle! Bei Identitätsfragen, bei denen es um unsere Seele geht - die Frage nach dem Globalwohl und unserer Barmherzigkeit ist für uns Kirchen so eine -, geht es aber nicht um Mehrheit, sondern um Wahrheit.
Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 8. August in Berlin.
Interview: Reinhard Mawick