Sprache für das Neue finden

Der Musiker Uwe Steinmetz promoviert über Jazz in der Liturgie
Foto: Andreas Schoelzel
Foto: Andreas Schoelzel
Der Berliner Musiker Uwe Steinmetz gehört zu den bekanntesten Exponenten einer neuen Kirchenmusik in Deutschland. In seiner Promotion untersucht er Geschichte, Funktion und Gestalt des Jazz im Gottesdienst.

Ich wollte schon in der Schulzeit unbedingt Jazzmusiker werden und bekam ein Stipendium, das es mir ermöglichte, Jazz-Saxophon in Deutschland, der Schweiz und den USA zu studieren. In der Mitte der Ausbildung verspürte ich plötzlich den Wunsch, meinen Horizont zu erweitern, und ging als Freiwilliger eines Missionswerks für ein Semester nach Südindien. Dort konnte ich Jazz unterrichten und dabei die indische Musik kennenlernen, deren spirituelle Dimension mich immer schon fasziniert hatte.

Ich bin völlig unkirchlich aufgewachsen, aber dort wurde ich Christ, zum einen, weil ich viel Kontakt zu Jesuiten hatte, die aus einer christlichen Überzeugung heraus eine beeindruckende Sozialarbeit leisteten, zum anderen begann ich, mich intensiv mit der christlichen Tradition zu beschäftigen, und entdeckte auch, dass ich Jazz ganz natürlich in Gottesdiensten einsetzen konnte.

Nach meiner Rückkehr bekam ich die Möglichkeit, mein Studium in den USA fortzusetzen. Mein Lehrer in Boston war der Jazzmusiker und Komponist George Russell, der unter anderem mit Miles Davis und John Coltrane zusammengearbeitet hatte und großformatige religiöse Werke komponiert hat. Für diese Generation von Musikern war es ganz selbstverständlich, dass alles im Jazz religiös konnotiert war. Das Studium dort war sehr bereichernd, aber es zeigte mir auch, dass ich das, was ich am Jazz liebte und als religiösen Ausdruck in der Musik verstand, nicht so einfach mit der traditionellen deutschen Kirchenmusik zusammenbringen konnte, gerade nachdem ich einige größere Werke, zum Beispiel über Dietrich Bonhoeffer, komponiert und aufgeführt hatte. Es reichte nicht, Konzerte in Kirchen zu spielen, sondern ich musste mich auch mit der Kirche als Ganzes und mit Theologie beschäftigen.

In dieser Zeit wurde für mich der englische Theologe und Musiker Jeremy Begbie wichtig, dessen Werk „Theology, Music and Time“ für mich sehr treffend beschrieb, welchen Offenbarungsgehalt Musik für die Theologie haben kann. Auf diesen Erkenntnissen fußt auch seine vor zwanzig Jahren gegründete Bewegung „Theology Through the Arts“. Ich begann, davon inspiriert, liturgische Jazzformate in Kirchen und Netzwerke für Jazzmusiker, Theologen und Kirchgemeinden zu entwickeln, und sandte Begbie unmittelbar vor dem ersten Konzert meiner liturgischen Jazzreihe in spirit in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eine dankende Mail. Zu meiner Überraschung antwortete er noch in derselben Nacht: „Ich komme vorbei!“ Und tatsächlich - er kam für den Abschluss der Reihe im Jahr 2009 nach Berlin und gab einen musiktheologischen Impuls über Improvisation - das war ein großer Motivationsschub für mich.

Allerdings wurde mir zugleich klarer, dass für das, was ich tat und weiter entwickeln wollte, mir schlicht die Sprache und eine musik-theologische Systematik fehlten. Ich konnte weder diese spirituelle Ganzheit, die Jazzmusiker seit Jahrzehnten umgetrieben hatte, Verbindungen zwischen ihrer Musik und ihrer Religiosität zu suchen, differenziert beschreiben, noch mein Anliegen, Jazz als Teil der kirchlichen Klangkultur in Deutschland zu etablieren, gegenüber der bestehenden Kirchenmusik und Theologie verständlich machen.

Dies alles wurde für mich Anlass und Ansporn für die Promotion. Dabei half es sehr, dass der Praktische Theologe Alexander Deeg mir eine dreijährige Projektstelle am Liturgiewissenschaftlichen Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in Leipzig ermöglichte, auf der ich weiterforschen und meine Dissertation über „Liturgie im Jazz und Jazz in der Liturgie“ beginnen konnte.

Meine Arbeit besteht zum einen aus historischer Forschung nach den spirituellen Wurzeln des Modernen Jazz. Einige Jazzmusiker sind kirchlich sozialisiert und haben die Musiksprache ihrer Kirchen, oftmals baptistisch, methodistisch, lutherisch oder reformiert, in ihre eigenen Kompositionen integriert.

Dahinter steht das Prinzip, dass insbesondere religiöse Musik kein Konstrukt sein kann, sondern dass die Inhalte, die das Leben auch sonst bestimmen, auch in der Musik ihren Platz finden müssen - das ist die Liturgie im Jazz auf der biografischen Ebene. Wichtige Inspiratoren waren neben George Russell die Jazzmusiker John Coltrane, Duke Ellington und Brian Blade, sowie der Organist und Komponist Olivier Messiaen. Messiaen vereint viele unterschiedliche Traditionen und Kulturen in seiner Musik, und für ihn ist dieses Klanguniversum in eine persönliche Musiktheologie eingebunden. So etwas suche ich auf der Seite des Jazz und frage in meiner Arbeit: „Gibt es eine Technik der musiktheologischen Sprache im Jazz?“

Auf konzeptioneller Ebene interessieren mich die liturgischen Elemente im Jazz. Wie kann Improvisation im Jazz, also etwas, das von großer Freiheit lebt, in einem liturgischen Rahmen stattfinden und eine rituelle Dynamik verstärken? In diesem Zusammenhang betrachte ich zum Beispiel das Phänomen der Wiederholung: Wie kann ich das der Liturgie innewohnende Element der Wiederholung sinnvoll musikalisch ausgestalten? Als statische oder eher dynamische, variable Wiederholung mit einer Erweiterung oder Verzierung? Dieses Geschehen formuliert für mich eine Kernaufgabe, um die auch mein ganzes Wirken als Jazzmusiker im liturgischen Kontext kreist: der Umgang mit der Freiheit, im Moment ein fragiles Ritual entstehen zu lassen, denn Liturgie ist ja zum einen ein Regelwerk, das theoretisch an jedem Ort der Welt gefeiert werden kann, sich aber andererseits eben auch immer wieder nur in einem ganz besonderen, einmaligen Moment vollzieht. Jazz kann hier die Einmaligkeit und Lebendigkeit befördern. Die Zerbrechlichkeit und Einmaligkeit erhält eine besondere Bedeutung für mich in unserer medial überfrachteten, global vernetzten postsäkularen Welt, in der individuelle religiöse Erfahrung und Sprache gerade durch ihre Fragilität an Tiefenschärfe gewinnen können, und dadurch glaubwürdiger und bewegender wirken als schlichte Reproduktionen bekannter Rituale und konventioneller sakraler Musik.

Hier schließt sich für mich die Frage an, die auch Messiaen oder Coltrane beschäftigte: Wie lässt sich Liturgie in den Konzertsaal bringen, so dass etwas von der „Andächtigkeit“, dieser spezifischen Feierlichkeit auf der Konzertbühne gemeinschaftsstiftend stattfindet? Ich glaube jedenfalls, dass dem Jazz ein großes liturgisches Potential innewohnt, das viel mehr Grenzen überschreiten kann, als wir es sonst bei geistlicher Musik erleben können, und hoffe, dies in meiner Arbeit eindrücklich aufzeigen zu können.

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

Uwe Steinmetz

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