Irrtum, Lüge und Verstellung

Warum der Streit um die Wahrheit unverzichtbar ist
Gianlorenzo Bernini (1598-1680): „Die Zeit enthüllt die Wahrheit“, Kreideskizze von 1646. Foto: akg-images
Gianlorenzo Bernini (1598-1680): „Die Zeit enthüllt die Wahrheit“, Kreideskizze von 1646. Foto: akg-images
Die Frage nach der Wahrheit gehört in Philosophie und Theologie zu den schwierigsten. Gibt es viele Wahrheiten, die nebeneinander stehen, und gar nicht die eine Wahrheit? Ist die Frage nach der Wahrheit überhaupt von Belang? Auf jeden Fall ist sie das, meint Dietrich Korsch, emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Marburg.

Gibt es das überhaupt - die Wahrheit? Das war eine Frage, die am Ende meiner Schulzeit und am Anfang meines Studiums immer wieder einmal im jugendlichen Freundeskreis aufkam. Die Frage war Ausdruck einer Suche nach Gewissheit für das eigene Leben - über die Schlüssigkeit von Argumenten hinaus. Darum passte und passt sie auch in die Lebenssituation junger Leute besonders gut hinein.

Wir sind bei diesen Diskussionen damals nie zu einem Ende gelangt, schon gar nicht zu einer übereinstimmenden Antwort. Heißt das, dass es nur, dass es höchstens viele Wahrheiten gibt, die nebeneinander stehen, aber nicht die eine Wahrheit? Ist dann aber die Frage nach der Wahrheit überhaupt von Belang? Wir haben ja auch weitergelebt und gearbeitet, ohne zu einer Antwort gelangt zu sein.

Die entwicklungspsychologisch aufgeworfene und dann auch wieder liegengelassene Frage allerdings hat jedoch historisch in den letzten Jahrzehnten eine Aufmerksamkeit und Bedeutung erlangt, die über die Privatsphäre hinausreicht. Denn es werden scharf gegensätzliche Meinungen als Wahrheiten vertreten, und sie besetzen das Feld der Öffentlichkeit von Politik und Kultur. Dabei handelt es sich nicht, wie bei wissenschaftlichen Argumentationen, um Wahrheitsansprüche, die nach methodischen Kriterien zu beurteilen und von sachverständigen Teilnehmern am wissenschaftlichen Diskurs zu entscheiden sind. Vielmehr präsentieren sich Auffassungen über die Welt und die eigene Kultur, über die Fremden und das eigene Befinden als unumstößliche Wahrheiten, die als solche nach Respekt heischen - und zwar einfach deshalb, weil sie von Einzelnen als sie unmittelbar treffend behauptet werden. Dass es sich um Wahrheitsansprüche handelt, die sich auf Wahrheit als eine übergeordnete Instanz beziehen und sich von dort aus kritisieren lassen könnten, wird für unmöglich erklärt und also nicht anerkannt.

Ton des Unbedingten

Die Situation verschiedener, einander widersprechender und sich bekämpfender Wahrheiten wird noch verschärft, wenn es sich um religiöse Überzeugungen und Behauptungen handelt. Denn religiöse Auffassungen werden oft erst recht im Ton des Unbedingten geäußert und wollen damit über die Reichweite der eigenen Interessen und die Vorgaben der eigenen Kultur noch hinausgehen. Sie lehnen es ab, relativiert zu werden. Sie lassen den Einwand nicht gelten, dass sie selbst ja in der Geschichte zustande gekommen sind und sich also auch wieder ändern werden. Einen derartigen Fundamentalismus gibt es in fast allen Religionen. In liberalen Gesellschaften sorgen Recht und Staat dafür, dass solche religiös artikulierten Unbedingtheitsansprüche im Zaum gehalten werden. Doch die Stabilität von Rechtsstaaten ist nicht überall gegeben, und wo sie besteht, kann sie historisch doch auch erschüttert werden.

Darum kann und darf man die Frage nach der Wahrheit nicht auf sich beruhen lassen. Wie aber kann man eine Antwort finden, wenn man nicht der schlichten Primanerfrage aufsitzen will, ob es die Wahrheit gibt?

In der Philosophie finden wir verschiedene Debatten über Wahrheitstheorien. Denen zu folgen, würde nicht nur ziemliche Mühe kosten, es würde auch nicht wirklich weiterhelfen. Denn einmal laufen diese philosophischen Untersuchungen selbst auf eine Mehrzahl von Wahrheitstheorien hinaus, die alle eine begrenzte Plausibilität besitzen; sie beantworten also die Frage nicht eindeutig. Sodann sind sie als philosophische Theorien ihrerseits dem Kriterium des vernünftigen Arguments unterworfen - und dieses Kriterium wird in den aktuellen Konfliktlagen gerade nicht anerkannt. Ich schlage darum einen anderen Weg vor, der mit der Überlegung beginnt, warum wir überhaupt mit so etwas wie Wahrheit rechnen.

Meine Ausgangsthese ist, dass wir an Wahrheit interessiert sind, weil wir sprechen. Die Sprache ist der Ort der Wahrheit. Das kann man sich relativ leicht klarmachen, wenn man die Dimensionen unterscheidet, die wir im Sprechen immer schon in Anspruch nehmen.

Erstens sprechen wir über etwas, wir machen Aussagen. Das ist schon nicht trivial, denn darin unterscheiden wir uns von dem Sachverhalt, über den wir sprechen, und wir ordnen uns selbst zugleich ihm zu. Wir bestimmen etwas als etwas, und das tun wir, den jeweiligen Umständen entsprechend, möglichst genau - sonst haben wir ja auch nichts von unserer Aussage. In der Aussage äußert sich das Interesse, einen Sachverhalt unserer Person und, umgekehrt, uns selbst einem Sachverhalt zuzuordnen. Dieses Interesse kann man auch so ausdrücken: Etwas bezeichnen schließt ein, etwas für unsere Verfügung zu präparieren.

Zweitens: Wir machen Aussagen, die von anderen verstanden werden können und verstanden werden sollen. Das hat schon mit unserem Interesse am Erfolg zu tun. Weil wir auf Kooperation angewiesen sind, müssen die Aussagen, die wir treffen, verlässlich sein. Das heißt, sie müssen gelten auch im Unterschied zu unserer eigenen Person und ihren unvermeidlichen Interessen. Die anderen sind ja auch durchaus in der Lage, die Triftigkeit einer Aussage von unserem subjektiven Interesse und den daraus möglicherweise erwachsenden Verzerrungen zu unterscheiden - nicht zuletzt, weil sie an sich selbst diese Unterscheidung von zutreffender Aussage und deren Färbung durch die eigene Person kennen.

Kohärenz des Sprechens

Drittens kommt nun noch die Dimension ins Spiel, dass sich unsere sprachlichen Äußerungen auf uns selbst zurückbeziehen. Wer spricht, weiß, dass er spricht. Und er weiß, dass er das fortlaufend und nicht nur zufällig und begrenzt tut. Daraus erwächst die Anforderung, für eine Kohärenz des eigenen Sprechens zu sorgen. Denn die von uns gemachten Aussagen weisen auch stets auf uns als Person zurück; wir werden sozial verantwortlich gemacht für das, was wir gesagt haben. Aber nicht nur das. Wir sind selbst an einem inneren Zusammenhang unseres Lebens interessiert, um vor unseren eigenen Ansprüchen bestehen zu können.

Nimmt man diese drei Dimensionen zusammen, dann sieht man, dass Sachbezug, Sozialbezug und Selbstbezug ineinander verwoben sind. Das Interesse an einem stimmigen Zusammenklang des Ganzen kann man als Interesse an Wahrheit bezeichnen. Zutreffende Beschreibung, zuverlässige Interaktion, authentisches Selbstgefühl, alle drei gehören zusammen. Darum kann man sagen, dass der einfachen - aber durchaus differenzierten - Tatsache unseres Sprachgebrauchs eine Tendenz zur Wahrheit eingeschrieben ist. Dabei muss das Interesse an der Wahrheit, ohne vom Erfolg abzusehen, über eine einfache Erfolgsorientierung hinausgehen. Denn für das Erzielen der gewünschten praktischen Effekte ist immer schon ein Überschuss nötig, ein Überschuss des Vertrauens auf die Beständigkeit der Welt, auf die Verlässlichkeit des anderen und auch auf die Gewissheit seiner selbst.

Allerdings zeigt sich an diesen Überlegungen, dass sich Wahrheit im Vollzug von Sprache erst aufbaut und nicht einfach wie ein vorgegebener Sachverhalt selbst da ist. Über die Wahrheit reden erfordert daher, immer auch über die Verwendung der Sprache zu sprechen.

Wahrheit ist nicht einfach da, sie muss verantwortet werden. Das haben wir jetzt schon gesehen. Weil die drei Dimensionen der Wahrheit zusammenspielen müssen, ist die Wahrheit als Inbegriff des Ganzen des Lebens stets bedroht. Wir können uns in der Wahrnehmung der Welt und ihrer Wiedergabe in der Aussage irren; sei es, dass unsere Erkenntnis des Sachverhalts verschoben oder verschleiert war; sei es, dass unser sprachlicher Ausdruck unzureichend ist. Wir können uns hinsichtlich der Zuverlässigkeit im Austausch verstellen oder verstecken wollen; etwa, um das eigene Interesse auf diese Weise vermeintlich erfolgreicher durchzusetzen. Schließlich neigen wir manchmal durchaus dazu, es mit unserer inneren Beständigkeit nicht zu genau zu nehmen, in der Hoffnung, dass diese Inkonsequenz niemand außer uns auffällt und dass wir selbst mit ihr leben können.

Irrtum, Lüge und Verstellung, das sind drei elementare Bedrohungen der Wahrheit. Alle drei gehen auf einen einzigen Sachverhalt zurück, dass wir nämlich unser Verhältnis zur Welt und den anderen Menschen und zu uns selbst fehlbestimmen. Es kommt vor, dass unsere eigene Perspektive auf die Welt die Triftigkeit von Aussagen verfälscht. Es geschieht, dass wir unseren eigenen Vorteil auf Kosten der anderen suchen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass wir uns von Versprechen eines besseren Lebens von uns selbst abbringen lassen.

Das geschieht nicht nur so nebenbei. Sondern, realistisch betrachtet, sind diese Beeinträchtigungen der Wahrheit die Regel. Das heißt aber: Wahrheit muss dem Irrtum, der Lüge, der Verstellung immer erst abgerungen werden. Sie versteht sich nicht von selbst - weder in ihren Dimensionen, die zusammenkommen müssen, noch auch in der Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen. Wahrheit ist ein stets gefährdetes Phänomen.

Der Unwahrheit abgerungen

Bedroht ist die Wahrheit, wenn ein in Aussagen gefasstes Wissen ohne erkennbaren und vernünftig geäußerten Grund für falsch erklärt wird; also durch die Bestreitung oder Einschränkung von Wissenschaft. Es zerfällt die Einheit der Welt. Bedroht ist die Wahrheit durch das Aufrichten von sozialen und kommunikativen Grenzen, von denen eine Zustimmung abhängig gemacht wird; das heißt: durch Abschottung gegenüber Anderen und Fremden. Es droht die Verlässlichkeit unter Menschen zu zerbrechen. Und gefährdet ist die Wahrheit schließlich durch das Verschwinden der eigenen Person hinter den Medien der Kommunikation, also durch die planmäßige Anonymisierung von Verantwortlichkeit. Ich erspare mir die anschaulichen Belege für diese Tendenzen aus unserer Gegenwart. Die liegen uns sofort nahe, aber solche Tendenzen waren zu anderen Zeiten auch, nur in veränderter Gestalt, im Schwange.

Weil die Wahrheit immer bedroht ist und der Unwahrheit abgerungen werden muss, darum bedarf es auch immer einer Anleitung zum Gewinn der Wahrheit, einer Unterrichtung, die zugleich als Bildung eines eigenen Selbst zu verstehen ist. Darum gibt es seit alters die Lehren der Weisheit: in den Traditionen des Lebens, in den Reflexionen der Philosophie, in den Lebensäußerungen der Religion.

Diese Anleitungen sind verschieden verfasst; sie versuchen alle, sich auf die Situation des menschlichen Lebens einzustellen. Das gelingt am besten, wenn sie sich auf die Verfasstheit des menschlichen Inneren beziehen, wie es in den Prozess der Wahrheit involviert ist. Das Selbstverhältnis, das uns eine Distanz zur Welt, zu den anderen Menschen, zu uns selbst erlaubt, ist der Schlüssel zur Wahrheit.

Das lässt sich durch drei Hinweise auf eigene Erfahrung anschaulich machen, die jeder und jede machen kann.

Erstens: Wer einmal die Entstehung einer wahren Einsicht bei sich selbst bemerkt hat, wird sich erinnern: Die Evidenz, mit der die gemeinte Wahrheit sich einstellte, ließ sich nicht vorher erwarten und schon gar nicht herstellen. Das Auftauchen der Wahrheit ist unverfügbar.

Zweitens: Mit der Festigkeit der Einsicht in die zutreffende Erkenntnis eines Sachverhalts verbindet sich das Empfinden einer eigenen Gewissheit. Ich fühle mich selbst erfüllt von dem, was mir gegenständlich gewiss geworden ist. Man kann auch sagen: Wahrheit erfreut das Herz.

Drittens: Dieses Empfinden der Gewissheit meiner selbst entsteht zwar mit der Erkenntnis, ist aber nicht allein deren Resultat. Denn die einmal bemerkte Gewissheit meiner selbst erstreckt sich nun auch über diese eine Erkenntnis eines Sachverhalts hinaus, sie gilt für alle möglichen Erkenntnisse, die noch zu gewinnen sind. Es gibt eine Beständigkeit jenseits des eigenen Vermögens, die als Befähigung zur Wahrheit verstanden werden kann. Wahrheit besitzt ihre eigene Dauer.

Am Selbstverhältnis also ereignet sich der Übergang von Unwahrheit zu Wahrheit. Der Gewinn von Wahrheit geschieht da, wo Evidenz des Sachverhalts, Gewissheit des Selbstbewusstseins, Beständigkeit der Wahrheitserwartung zusammen eintreten. Ein solches Selbstverhältnis ist nicht mehr von dem Gelingen der Erkenntnis abhängig und auch nicht mehr von der Durchsetzung der eigenen Interessen.

Wenn man um die Gefährdung der Wahrheit weiß und zugleich, dass die Wahrheit ein neu orientiertes Selbstverhältnis verlangt, dann lässt sich die Reichweite des Wortes Jesu im Johannesevangelium 8, 32 ermessen: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“

Information

Den zweiten Teil des Textes von Dietrich Korsch über die Wahrheit, der die biblische Dimension in die Frage nach der Wahrheit einzeichnet, lesen Sie in der November-Ausgabe von zeitzeichen.

Dietrich Korsch

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"