Schnell wurde aus ihrer Geschichte ein Mythos: Die Geschwister Scholl und die Weiße Rose sind als Widerstandsgruppe an der Universität München schon früh und nachhaltig in die deutsche Erinnerungskultur eingegangen. Wie populär sie und ihr Wirken gegen den NS-Staat rezipiert wurden, zeigen die Verbreitung von Gedenkorten und Benennungen ebenso wie die vielen Veröffentlichungen über sie.
Die Historikerin Miriam Gebhardt weiß das und wagt trotzdem ein neues Buch mit biographischem Ansatz. Es ist zum 75. Gedenktag der Hinrichtung von Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst erschienen. Aber die Autorin will trotzdem deren Biographie nicht vom Ende her beginnen, nicht die grausame Hinrichtung in den Vordergrund stellen, sondern ihre Entwicklung erzählen, um zu zeigen: Diese Menschen wurden nicht als Widerständler geboren. Deshalb beleuchtet sie die biographische Entwicklung, nicht nur die der Geschwister Scholl, sondern die des gesamten inneren Zirkels, zu dem Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf und Karl Huber gehörten. Die spannende Ausgangsfrage ihrer Untersuchung lautet: Weshalb haben diese Menschen widerständig gehandelt und ihr Leben im Gegensatz zu der überwältigenden Mehrheit Gleichaltriger, die geschwiegen oder mitgemacht und so das System gestützt haben, gegen die Diktatur aufs Spiel gesetzt? Die Autorin findet die Antwort in der Fähigkeit zur inneren Autonomie, die die Persönlichkeiten der Weißen Rose besaßen. Sie führte - trotz unterschiedlicher Lebensläufe - zu unabhängigem Denken und widerständigem Handeln im Sinne der Zivilcourage.
Die Autorin wehrt sich deshalb gegen die Vereinnahmung der Gruppe durch die Deutung einer christlichen Motivation oder eines gemeinsamen sozialen Status. Die Autonomie im Denken zeichne den Widerstand der Weißen Rose als den von Privatmenschen vor anderen aus, die in Zugehörigkeit zu einer weltanschaulichen oder politischen Gemeinschaft gehandelt hätten.
Allerdings: Auch Mitglieder des Christentums bewiesen innere Freiheit. Auch widerständige Offiziere handelten - trotz ihrer Zugehörigkeit zum Militär und seines Eides - gegen den Gehorsam. Kommunisten, etwa Jugendliche im Rotsport-Bund, haben ebenfalls ihr Leben aufs Spiel gesetzt, als sie Flugblätter gegen Hitlers Politik verteilten, und mussten individuell mit den Folgen fertig werden. Wie also ist diese abstrakte Größe einer inneren Autonomie - der die Autorin höchsten Wert zumisst - zu fassen? Im Kapitel „Psychologie des Widerstands“ verwirft sie die Idee eines Schlüsselereignisses, das zu entschiedenem Handeln führe, sondern begründet das mit dem soziologischen Begriff der kumulativen kognitiven Entwicklung: Sozialisation und wiederkehrende Erfahrung also seien es, die die Moralvorstellungen entscheidend prägen.
Die sorgfältige Betrachtung der einzelnen Biographien, die die Autorin präsentiert, führt die Lesenden zu dem Schluss, dass es eben nicht die eine Erklärung für widerständiges Handeln gibt, sondern dass vielmehr ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren eine individuelle Prägung zur Zivilcourage hervorbringt. Hier werden auch Genderfragen gestreift, die für ein Verständnis der Weißen Rose besonders aufschlussreich sein könnten: Gab es eine besondere Form des weiblichen Widerstehens, die sich von den männlichen Mitgliedern der Gruppe unterschied? Waren die weiblichen Mitglieder der Gruppe tatsächlich gleichberechtigt gegenüber den männlichen?
Im Epilog erfährt der Lesende noch vom Schicksal der weiteren Beteiligten. Das ist folgerichtig, denn die Autorin will ja zeigen: Sie waren keine Einzelkämpfer, sondern es war eine Gruppe. Auch wenn sie nicht zum inneren Zirkel gehörten, wurden sie angeklagt, zwei von ihnen sogar zum Tode verurteilt. Die meisten erhielten Haftstrafen: körperliche und seelische Verletzungen, die sie lebenslang prägten. Eigentlich hätte die Leserin auch gern gewusst, was aus den Tätern wurde. Vermutlich kamen sie ohne Folgen davon.
Marion Gardei
Marion Gardei
Marion Gardei ist Beauftragte für Erinnerungsarbeit der Evangelischen Kirche Berlin-schlesische Oberlausitz. Sie wohnt in Berlin.