Grenzen

Neues aus der Nahtodforschung
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Was bleibt, ist eine Art „natürliche Theologie“ der Liebe. Tiefenbohrungen aber fehlen...

Der Arzt Jeffrey Long hat mit seinem Kollegen Paul Perry schon lange Nahtodesforschung betrieben und ein Internetforum eröffnet, auf dem Menschen von ihren visionären Erfahrungen in unmittelbarer Todesnähe berichten können. Auf der Basis von Hunderten solcher Berichte hat er eine so genannte „Gottesstudie“ erstellt, nämlich ausgewertet, welche Rolle „Gott“ in diesen eindrucksvollen Transzendenz-Erfahrungen spielt.

Tatsächlich zeichnet sich dort, wo „Gott“ vorkommt, nahezu einhellig ein Bild ab, das ihn als „absolute Liebe“, als „bedingungslos liebend“ und nicht verurteilend versteht. Dieses Resultat passt gut zu zentralen neutestamentlichen Aussagen. Indes - Jesus Christus spielt als eindeutig erkennbarer Gottessohn keine Rolle. In der Folge kommt auch keine auf ihn bezogene soteriologische Erkenntnis vor. Was bleibt, ist eine Art „natürliche Theologie“ der Liebe - schillernd in der Frage, ob Gott nun irgendwie personal oder eher als „reine Energie“ aufzufassen sei. Unterschiede zwischen Religionen werden bagatellisiert. Die ohnehin mystisch gefärbten Sondererfahrungen an der Todesgrenze erscheinen somit in einem Licht, das der Esoterik mit ihren typischen spirituellen Ausprägungen entspricht - inklusive des allerdings selten vorkommenden Reinkarnationsgedankens.

Demgemäß wird der Lebenssinn öfter so beschrieben, als bestünde er im „Lernen“ zwecks Entwicklung - eine nicht unbedingt biblisch gedeckte Auskunft. Immerhin ist ein Kapitel Höllen-Visionen gewidmet: „Unzählige Seelen, die weinten und klagten.“ Eine Stimme etwa ließ verlauten: „Das sind die Verlorenen.“ Wie solche Ausblicke mit der ansonsten gängigen monistischen Perspektive zusammenstimmen sollen, dass doch alles letztlich eins und Gott als Liebe das Ganze, ja jede Seele im Grunde göttlich sei, wird von Long mit der spekulativen Annahme erklärt, die „armen Seelen“ könnten infolge möglicher positiver Entscheidungen wieder in die himmlischen Bereiche der Glückseligkeit zurückkehren. Also doch keine „Verlorenen“? Theologische Tiefenbohrungen fehlen.

Welche angeblichen „neuen Beweise für ein Leben nach dem Tod“ ergeben sich? Nach dem wissenschaftlichen Prinzip, real sei, was mit hinreichender Konsistenz beobachtet werde, wird resümiert: „In der Gottesstudie übertreffen die konsistenten Beobachtungen die inkonsistenten bei Weitem.“ Skeptiker hätten dagegen keine eindeutigen und rundum einleuchtenden „Erklärungen“ für die spontanen Visionen in Todesnähe beizubringen. Die Autoren diskutieren Alternativerklärungen allerdings nicht im Einzelnen - und lassen so die Frage außer Acht, welche Rolle etwa körpereigene Endorphine in jenen Grenzsituationen spielen. Auch reden sie die mancherlei inkonsistenten Befunde klein, die doch wohl nicht auftauchen sollten, wären die Visionen auf etwas eindeutig Reales gerichtet.

Eindrucksvoll bleibt in diesem und anderen Büchern, dass Begrüßungen und „Abholungen“ in den Visionen nie durch in Wahrheit noch Lebende erfolgen, sondern immer durch tatsächlich bereits Verstorbene. Und das auch dann, wenn Reanimierte erst hinterher erfuhren, dass die betreffende Person schon verstorben war. Es kommt sogar vor, dass den in Todesnähe befindlichen Personen solche verstorbenen Verwandten begegnen, von deren (nachträglich belegter) Existenz diese zuvor nicht einmal wussten. Solche Dinge lassen sich wohl am ehesten als „Beweise für ein Leben nach dem Tod“ anrechnen. Christliches Hoffen über den Tod hinaus bedarf freilich für seine Gewissheit solcher „Beweise“ nicht.

Werner Thiede

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