Eigentlich ist niemand integriert

Über die unterschiedlichen Modelle von Integration in der Forschung
Jüdische Einwanderer um 1910 vor der Skyline von New York. Foto: dpa/ Archiv Gerstenberg
Jüdische Einwanderer um 1910 vor der Skyline von New York. Foto: dpa/ Archiv Gerstenberg
Auch für die Migrationsforschung ist die „Integration“ eine zentrale Problemstellung. Dabei stützt die Forschung sich auf sehr unterschiedliche Begriffe und Theorien. Die verschiedenen Ansätze beschreibt Ute Koch, Professorin für Interkulturelle Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart.

Die ersten theoretischen Erklärungsversuche der Migrationsforschung nehmen ihren Ausgang in der Auseinandersetzung mit den großen Einwanderungsbewegungen in die USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Eingliederung von Immigrant*innen in die Aufnahmegesellschaft wurde von den damaligen Soziologen als ein fortschreitender Prozess gefasst, an dessen Ende die vollständige Anpassung (Assimilation) steht. In späteren, stärker ausdifferenzierten Modellen aus den 1950er und 1960er Jahren verläuft die Assimilation nicht mehr so linear und unvermeidlich; sie wird dort stärker abhängig von der Bereitschaft im Zuwanderungsland betrachtet, die gesellschaftliche Teilhabe der Migrant*innen zuzulassen. Dennoch ist allen die Idee der Anpassung von Immigrant*innen gemeinsam.

Diese Assimilationsmodelle sind schon früh aufgrund ihrer ethnozentristischen, homogenisierenden Grundhaltung kritisiert worden, die faktisch eine einseitige Anpassung von Migrant*innen an eine „Kerngesellschaft“ erfordere. Ausgelöst durch die Bürgerrechtsbewegungen in den Sechzigerjahren verloren diese klassischen Modelle schrittweise ihre Bedeutung und wurden durch das Gegenmodell des „ethnischen Pluralismus“ verdrängt. Dieses geht von einer Beibehaltung ethnischer und kultureller Besonderheiten von Gruppen aus. In der Migrationsforschung ist dieser Ansatz kritisiert worden, weil er ethnische, kulturelle und religiöse Gemeinschaften als homogene Kollektive konstruiere und dadurch Grenzen zwischen einem „Wir“ und „den Anderen“ (re)-produziere. Auf diesem Konzept beruhen integrationspolitische (multikulturelle) Ansätze, die die Anerkennung und den Schutz ethnischer und kultureller Unterschiede betonen und sich gegen einen Druck zur Assimilation wenden. Zwar haben Staaten wie beispielsweise die Niederlande von ihrer explizit multikulturellen Integrationspolitik inzwischen Abstand genommen, die essentialistische Vorstellung dieses Ansatzes dienen heute aber zum Beispiel rechtsnationalen Bewegungen als argumentative Grundlage einer ausgrenzenden Identitätspolitik.

In der deutschsprachigen Migrationsforschung wurden erstmals in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren umfassende Konzepte einer Migrations- bzw. Integrationssoziologie vorgelegt. Zu den Pionierarbeiten zählen vor allem die Veröffentlichungen von Hartmut Esser, die großen Einfluss auch auf das in der deutschen Integrationspolitik herangezogene Verständnis von Integration haben.

Wirkmächtiges Konzept

Essers Modell orientiert sich an einer Theorie, die Handlungen als rationale Entscheidungen von Akteur*innen versteht, die ihren individuellen Nutzen maximieren wollen. Die mit Migration verbundenen Problemstellungen (wie etwa der Erwerb von Sprachkompetenz und Bildungsqualifikationen) versteht er als individuelle Anpassungsleistung. Im Prozess der Assimilation unterscheidet Esser zwischen vier Dimensionen: 1) kulturelle Assimilation (Übernahme von Wissen, Fertigkeiten, Sprache), 2) strukturelle Assimilation (Übernahme von Rechten, Statuspositionen über Bildung und Arbeitsmarkt), 3) soziale Assimilation (Aufnahme sozialer Beziehungen, Netzwerke) und 4) emotionale Assimilation (Übernahme von Werthaltungen und Loyalitäten). Diese vier Dimensionen sind nach Esser eng miteinander gekoppelt und bestimmen den Grad der gesellschaftlichen Integration des Individuums. Die individuelle Assimilation, also die Integration in den Aufnahmekontext bei gleichzeitiger Aufgabe der festen Bindungen im ethnisch-kulturellen Kontext, ist für Esser letztlich alternativlos, sofern man ein Interesse daran hat, dass Migrant*innen die sozialen Statuspostionen der nicht migrierten Bevölkerung erreichen.

Nach wie vor gilt in Deutschland Essers Theorie als der prominenteste Versuch, die US-amerikanischen Assimilationstheorien in die deutsche Migrationsforschung zu übertragen und weiterzuentwickeln. Zahlreiche Forschungsprojekte orientieren sich bis heute an seinem Modell und ziehen die vier Dimensionen der individuellen Assimilation für ihre Untersuchungen der Integration von Migrant*innen heran. Auch die deutsche Integrationspolitik orientiert sich an dieser Vorstellung. Dabei wird nur der heute tabuisierte Begriff der Assimilation durch den der Integration ersetzt. Sehr deutlich wird dies, wenn man sich das seit den 2000er Jahren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene im Aufbau begriffene Integrationsmonitoring anschaut, das einen Überblick zum Stand der Integration von Migrant*innen und damit eine Planungsgrundlage für politische Entscheidungsprozesse liefern soll. Assimilation bleibt daher nach wie vor ein wirkmächtiges Konzept der deutschen Integrationspolitik.

Es wurden zahlreiche Einwände gegen Essers Theorie erhoben: Probleme der Integration würden als mangelnde Anpassung der Migrant*innen verhandelt, denen im Esserschen Verständnis die Bringschuld für die soziale Integration zufalle. Strukturelle Ungleichheiten, Diskriminierungen oder subtile Mechanismen der Ausgrenzung durch dominante mittelschichtsorientierte Normalitätsvorstellungen würden hingegen vernachlässigt. Essers Integrationstheorie stelle individuelle Orientierungen der Zugewanderten in den Vordergrund und gehe davon aus, dass diese als rational Handelnde ihre individuellen Möglichkeiten als ‚Entweder-Oder‘-Entscheidungen träfen. Mehrfachidentitäten seien Essers Theorie zufolge nahezu ausgeschlossen. In einer modernen pluralistischen Gesellschaft könne, so die Kritik, jedoch nicht von normsetzenden Werten oder einer ‚Leitkultur‘ ausgegangen werden, an die sich Zugewanderte stufenweise anpassen. Nur wenige Wissenschaftler*innen kritisieren Esser jedoch von einem explizit theoretischen Standpunkt aus.

Eine neue Perspektive haben transnationale Ansätze in die Migrationsforschung eingeführt. Ausgangspunkt dafür ist die Beobachtung, dass sich die Muster internationaler Wanderungsbewegungen unter dem Einfluss des globalen Kapitalismus deutlich verändert haben. Neben der Beschleunigung von Migrationsprozessen lässt sich eine zunehmende Differenzierung der Migrationsformen feststellen. Grenzüberschreitende Wanderungen sind dabei immer weniger als einmalige Wohnsitzverlagerung anzusehen. So genannte Transmigrant*innen lassen sich in einem Land nieder, erhalten gleichzeitig Verbindungen zum Herkunftsland aufrecht und orientieren ihre Lebensführung mehr oder weniger dauerhaft länderübergreifend. Damit verlagert sich die transnationale Forschungsperspektive auf verdichtete, relativ stabile und kontinuierliche grenzüberschreitende Netzwerke, die zu einer wichtigen Brücke zwischen Herkunfts- und Zuwanderungskontext werden. Einmal in Gang gesetzte Migrationen lassen sich daher auch nicht einfach abstellen - trotz der auf Kontrolle der Mobilität abzielenden Migrationspolitiken. Migrationen legen vielmehr Pfade für weitere Migrationen. Aufrechterhalten und verstärkt werden die sozialen Netzwerke der Migrant*innen durch beschleunigte Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten.

Ergebnisoffener Prozess

Angesichts der Transnationalisierung der Migration wird ein neues Verständnis von Integration im Sinne eines dynamischen Teilhabemodells für notwendig erachtet. Alternativ zu den Begriffen Assimilation und Integration schlägt der Soziologe und Migrationsforscher Ludger Pries den Begriff Inkorporation vor „als ergebnisoffenen Prozess der ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Verflechtungen von Migranten auf der lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Ebene“. Die Kombination verschiedener Orientierungen begünstigt fluide und multiple Identitäten oder sogenannte Bindestrich-Identitäten, die durch Auswahl von Elementen und ihrer Vermischung zu etwas Neuem zusammengeführt werden können. Dabei wird von einigen Vertreter*innen beider Richtungen, der Assimilationstheorie wie des Transnationalismus, zuweilen übersehen, dass Menschen in der modernen Gesellschaft, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, multiple Identitäten ausbilden. Menschen identifizieren sich mit ihrem Wohnort, einer beruflichen Stellung, ihrer Geschlechts-, Generations- und Klassenzugehörigkeit, ihrer Religion, Ethnizität und/oder Nationalität.

Gestützt auf die soziologische Systemtheorie und die darin ausgeführte Theorie der funktionalen Differenzierung (nach Niklas Luhmann) schlägt Michael Bommes vor, Migration und ihre Folgen unter den Gesichtspunkten der Inklusion/Exklusion zu betrachten und nicht als Problemstellung der sozialen Integration. Die Systemtheorie versteht moderne Gesellschaften nicht als organische Ganzheiten. Innerhalb der modernen Gesellschaft bilden sich vielmehr einzelne autonome Teilsysteme (u.a. Wirtschaft, Recht, Politik, Erziehung) heraus, die als Funktionssysteme bezeichnet werden. Das Individuum gehört nicht nur einem Teilsystem an, sondern ist gleichzeitig und lebensphasenspezifisch in verschiedene Teilsysteme inkludiert, in denen es verschiedene soziale Rollen einnimmt. Der Begriff der Inklusion wird daher dem Begriff der Integration vorgezogen, da in systemtheoretischer Perspektive kein Individuum in „die Gesellschaft“ als solche integriert ist. Die Frage der Inklusion (und entsprechend der Exklusion) überlässt die Gesellschaft ihren Funktionssystemen: So regelt sich zum Beispiel die Teilnahme am Erziehungssystem über Schulen, Schulabschlüsse und Zeugnisse. Personen sind nicht von vornherein in die Funktionssysteme einbezogen, sie müssen den Zugang entlang der spezifischen Bedingungen der Teilsysteme erst finden.

Bedingungen und Barrieren

Dies stellt an alle Individuen - nicht nur Migranten*innen - große Anforderungen. Ob dabei ihre Kompetenzen Anerkennung finden, hängt auch von den jeweiligen Bedingungen und Barrieren ab, auf die sie in Organisationen treffen. Denn über Organisationen erhalten Individuen erst die Möglichkeit der Inklusion in die verschiedenen Teilsysteme. So werden auch Phänomene sozialer Ungleichheiten über Organisationen vermittelt (wie etwa der erschwerte Zugang von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu betrieblichen Ausbildungsstellen). Eine ungleiche Verteilung von Inklusionschancen ergibt sich auch dadurch, dass Staaten die Bedingungen für die Zuwanderung und den Aufenthalt von Ausländer*innen festlegen. Damit gehen stets auch Teilhabemöglichkeiten und -hindernisse einher. So dürfen Asylsuchende beispielsweise in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland nicht arbeiten. Die Zuordnung zu einer bestimmten Migrationskategorie (ob nun Asylbewerber*in oder Arbeitsmigrant*in) steigert oder verringert also die Möglichkeiten der Inklusion.

Da die Integration von Individuen in diesem Ansatz nicht als vollständiger Einschluss in ‚die Gesellschaft‘ betrachtet wird, ermöglicht die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion differenzierte Beschreibungen von Inklusionsbedingungen (in den Arbeitsmarkt, in das Bildungssystem, in das politische System usw.). Leichte Anklänge an systemtheoretische Ansätze finden sich immer dann, wenn in der Politik Integration als gleichberechtigte Teilhabe an Bereichen des gesellschaftlichen Lebens definiert wird. Dabei werden jedoch die Begriffe der Teilhabe und Integration nicht immer differenziert an theoretische Grundannahmen rückgebunden.

Assimilation, Multikulturalismus, Inkorporation und Inklusion fungieren als analytische Begriffe, um Integration theoretisch zu fassen. Auf welche Weise Integration dabei verstanden wird, trägt wesentlich dazu bei, welche politischen Mittel für die Bearbeitung von Migration und ihren Folgen gefordert werden.

Als politischer Begriff konzentriert sich „Integration“ in Deutschland zumeist auf die Forderung nach individuellen Anpassungsleistungen, die von Migrant*innen zu erwarten sind. Dem liegt ein Integrationsverständnis zugrunde, das sich eng an die Assimilationstheorie anlehnt. Wissenschaftler*innen der „kritischen Migrationsforschung“ plädieren daher dafür, den Integrationsbegriff ganz abzuschaffen. So berechtigt die Kritik am Integrationsbegriff als Teil der Konstruktion einer (problematisierenden und zum Teil auch kulturalisierenden) Erwartungshaltung ist, hilft eine Abschaffung des Begriffs wenig, wenn sich die dahinterliegenden Vorstellungen nicht ändern. Wichtiger als seine Ächtung scheint es zu sein, den Begriff der Integration angemessen theoretisch zu fassen und ihn dabei vom Begriff der Migration zu entkoppeln. Denn mit der Frage ihrer Integration sind ausnahmslos alle Menschen konfrontiert.

Information

Der Text ist eine leicht überarbeitete Fassung von: Ute Koch (2018): Integrationstheorien und ihr Einfluss auf Integrationspolitik, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Kurzdossiers: Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen) vom 28.5.2018, Bonn.

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