Der Störfall als Normalfall

Warum ich manchmal gerne an die Hölle glauben würde
Foto: Harald Oppitz

Spring doch endlich, du Arschloch!“ Der junge Mann hatte so laut geschrien, dass ihn der Mann oben auf dem Kran hören musste. Ich hatte den jungen Mann ebenfalls gut gehört, schließlich stand ich direkt neben ihm. Ich hielt gerade ein Megaphon in der Hand und war als Feuerwehrpfarrerin seit etwa einer Viertelstunde damit beschäftigt, mit dem Mann oben auf dem Kran einen Kontakt aufzubauen. Er hatte angedroht, sofort zu springen, wenn die Feuerwehr oder die Polizei ihm zu nahe kommen sollten. „Spring doch endlich, du Arschloch!“ Dem jungen Mann neben mir wurde es offenbar zu langweilig, er wiederholte seine Aufforderung. Umstehende applaudierten. Die Polizei drängte den jungen Mann und seine Freunde schließlich vom Einsatzort. Kurze Zeit später ließ sich der Mann auf dem Kran dazu bewegen, unter Begleitung eines Feuerwehrmannes vom Kran herunterzuklettern.

Seit 1997 bin ich ehrenamtlich Feuerwehrpfarrerin von Mainz, ich habe die Ökumenische Notfallseelsorge in Mainz mit aufgebaut und bin seit dem Jahr 2000 auch in der Notfallseelsorge aktiv. Zum neuen Jahr wechsele ich die Stelle, gehe als Professorin in die Seelsorgeausbildung und werde mich von diesen Ehrenämtern verabschieden. Grund genug, nach über zwanzig Jahren in der Seelsorge in Notfällen zurückzublicken.

Der Einsatz am Kran war einer der ersten, den ich erlebt habe - seitdem hat sich vieles entwickelt - manches zum Schlimmeren. Im letzten Jahr verbrannte ein LKW-Fahrer bei lebendigem Leib in seinem LKW. Ich habe bei der Einsatznachbesprechung tief betroffene Feuerwehrmänner begleitet, ein Kollege von der Notfallseelsorge betreute Zeugen des Unfalls, die noch versucht hatten, den LKW zu löschen. Am schlimmsten war für die Zeugen: Während der Mann schreiend in seinem Führerhaus verbrannte, filmten vorbeifahrende Autofahrer mit ihren Handys das Geschehen.

„Spring doch endlich, du Arschloch!“ Ich bin sehr froh, dass der Mann auf dem Kran damals nicht gesprungen ist. Ich weiß, dass das Geräusch, mit dem ein Körper auf Pflastersteinen aufschlägt, auch für erfahrene Rettungskräfte schwer aus der Erinnerung zu tilgen ist. Viele halten sich daher ganz bewusst die Ohren zu und schauen weg, wenn ein Suizidant sein Vorhaben tatsächlich umsetzt. Die Gefahr einer posttraumatischen Belastungsstörung ist hoch, wenn man gewisse Geräusche mitbekommt. Auch in der Notfallseelsorge gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten haben und für eine Zeit lang berufsunfähig geworden sind. Was wäre gewesen, wenn der Mann damals gesprungen wäre? Ich befürchte, dass den Gaffer der Suizid wenig berührt hätte. Immerhin: Ende der Neunzigerjahre gab es noch keine Smartphones, mit denen er den Suizid hätte filmen können.

Diese Kolumne heißt „Störfall“, und wenn wir in der Notfallseelsorge gerufen werden, hat es immer einen Störfall im Leben gegeben. Wir begleiten die Polizei bei der Überbringung von Todesnachrichten, wir betreuen Angehörige nach einer erfolglosen Reanimation, wir halten die Trauer von Eltern aus, deren Kind gerade am plötzlichen Kindstod gestorben ist, und wir sind rund um die Uhr erreichbar, wenn ein „Großschadensereignis“ eintritt.

Der Störfall ist der Normalfall für die Notfallseelsorge. Der Notfall ist für die Betroffenen schwer zu ertragen. Unerträglich sind die, die gaffen. Nicht nur ich stelle fest, dass die Herzlosigkeit und Brutalität zugenommen hat, mit der Menschen versuchen, möglichst viel von einem Unglück „mitzubekommen“. Diese Leute haben auch keinerlei Hemmungen, ihre Filme in den sozialen Netzwerken zu teilen. In den vergangenen Jahren nehmen darüber hinaus die Angriffe auf Rettungskräfte zu, die gerade versuchen - manchmal unter Einsatz ihres eigenen Lebens - zu retten und zu helfen. Ich finde, es ist überfällig, dass die Strafen für Gaffer und für Angriffe auf Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter verschärft werden.

In meinen über zwanzig Jahren in der Feuerwehr- und Notfallseelsorge habe ich sehr viele Einsätze erlebt. Ich bin glücklicherweise ein Mensch, der bei Notfällen in der Regel ruhig und besonnen bleiben kann, auch wenn ich Schreckliches sehen muss.

Was mich aber tatsächlich an den Rand der Beherrschung bringt, sind diese widerlichen Gaffer und die, die meinen Feuerwehrleuten Gewalt androhen oder gar antun. Sie sind für mich die eigentlichen Störfälle im Leben. Ich gestehe mir ein, dass ich manchmal gerne an die Hölle glauben würde und mir in solchen Augenblicken die Vorstellung schwerfällt, dass Gottes Liebe immer alle Menschen umgreift. Aber ich muss ja nicht alles begreifen. Gott sei Dank.

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Angela Rinn ist Gemeindepfarrerin in Mainz, Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg und Synodale der EKD.

Angela Rinn

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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