Verlust der moralischen Autorität

Auch in Polen sind die Kirchen auf dem Rückzug
Foto: dpa/ Attila Husejnow
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Die katholische Kirche in Polen beherrscht das religiöse und spirituelle Leben des Landes - die kleine protestantische Kirche spielt so gut wie keine Rolle. Allerdings ist der katholische Klerus derzeit mächtig unter Druck - wegen sexueller Gewalt. Eine Momentaufnahme der Polen-Korrespondentin Gabriele Lesser.

Er heißt „Klerus“: Seit 1989 legte kein Film in Polen einen so fulminanten Kinostart hin. Millionen Polen haben den kirchenkritischen Film schon gesehen, seit er Ende September in die Kinos kam. „Ich will zeigen, dass Geistliche keine Heiligen sind“, erläutert der Regisseur Wojciech Smarzowski. So fluchen in seinem Film Priester und Bischof aufs Ordinärste, der eine missbraucht einen kleinen Jungen und zwingt ihn zum Schweigen, der andere hat ein Verhältnis mit einer Frau und fordert sie auf, das von ihm gegen das Zölibat gezeugte Kind abzutreiben. Der korrupte Bischof wird von seinem intriganten Adlatus ausspioniert und muss diesem am Ende den Weg in den Vatikan und zur großem Kirchenkarriere freimachen. Das im Film gezeigte Bild der katholischen Kirche Polens ist einseitig, aber nicht falsch.

Noch äußerte sich die Bischofskonferenz in Polen nicht offiziell zum Film. Denn beinahe zeitgleich verurteilte das Berufungsgericht in Poznan (Posen) die katholische Kirche dazu, eine Million Zloty (ca. 233.000 Euro) Entschädigung sowie eine lebenslange Rente in Höhe von rund 190 Euro an eine junge Frau zu zahlen, die als 13-Jährige rund ein Jahr lang von einem Priester misshandelt und vergewaltigt wurde. Die Schuld des Priesters ist erwiesen. Vier Jahre saß Roman B. im Gefängnis. Danach durfte er wieder Messen abhalten, Sakramente erteilen und mit Kindern in Kontakt treten. Nur wollten weder er noch die katholische Kirche in Polen der heute 24jährigen Katarzyna eine Entschädigung zahlen. Allenfalls die Kosten für eine Psychotherapie, die es ihr ermöglichen würde, „mit einem Gefühl der Sicherheit in den Schoß der katholischen Kirche zurückzukehren“, wollte die Kirche übernehmen, wie ein Bischof erklärte.

Anders als die meisten Missbrauchsopfer schlug Katarzyna dieses „Angebot“ aus und wagte es, gegen die fast allmächtige katholische Kirche in Polen zu klagen. Dies war umso mutiger, als solche Verfahren bisher für die Opfer meist mit einer weiteren Erniedrigung endeten. Noch nie zuvor in der Geschichte Polens musste die Kirche die finanzielle Verantwortung für Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch einen ihrer Priester übernehmen. Die Täter in der Soutane aber erklärten sich fast durch die Bank als mittellos, so dass die Opfer leer ausgingen und sich dann oft genug auch noch die Häme der Nachbarn und Bekannten anhören mussten. Was für ein Spießrutenlaufen der Prozess auch für Katarzyna gewesen sein muss, zeigt der widerliche Kommentar von Stanislaw Michalkiewicz, der regelmäßig im landesweit zu empfangenden Radio Maryja aus Torun (Thorn) auftritt: „Eine Million Zloty kann so ein Fräulein im ganzen Leben nicht verdienen, und hier kriegt sie es für einen Stoß. Keine Hure auf der ganze Welt wird so gut bezahlt.“

Katarzyna war 13, schüchtern und hatte Probleme in Mathematik. Ihr Religionslehrer, Priester Roman B., bemerkte dies, besuchte sie zuhause und versprach den Eltern - beide schwere Alkoholiker - das Mädchen mitzunehmen und ihm in der Stadt eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Die Eltern stimmten zu. Doch der Priester sperrte das Kind in der leerstehenden Wohnung seiner Mutter ein und vergewaltigte es immer wieder. Nach über einem Jahr vertraute sich das verängstigte, aber auch völlig verzweifelte Mädchen einer Lehrerin an. Elf Jahre ist das nun her. Die Kirche wusste davon, wie auch von hunderten anderen Missbrauchsfällen - und tat nichts. Im Gegenteil: Statt den Opfern zu helfen, gab die Kirche Unsummen für die besten Anwälte aus, die die Täter im Priesterrock gegen die Opfer verteidigten.

Angst vor Diffamierung

Polens Evangelisch-Augsburgische Kirche - mit gerade mal 70.000 Gläubigen gegenüber rund 36 Millionen getauften Katholiken eine absolute Minderheitenkirche - hält sich aus dem Streit heraus. Weder Bischof Jerzy Samiec noch einer der 153 evangelischen Pfarrer mischt sich öffentlich in die zahlreichen Konflikte rund um die katholische Kirche in Polen ein. Mit gutem Grund: Denn seit dem Wahlsieg der nationalpopulistischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Herbst 2015 ist die Atmosphäre in Polen politisch-religiös so aufgeladen, dass die Lutheraner sehr schnell als „nationale Verräter“ oder „Polen der schlechtesten Sorte“ gebrandmarkt werden können. Das zumindest sind die üblichen Diffamierungen, mit denen der PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski und seine Anhänger, Pater Tadeusz Rydzyk von Radio Maryja sowie etliche römisch-katholische Bischöfe und Priester ihre vermeintlichen Gegner und Feinde gerne titulieren. In der Vergangenheit wurde den Lutheranern gerne vorgeworfen, mit den Kommunisten gemeinsame Sache zu machen. Dieses Image konnte die Evangelische Kirche zwar abstreifen, als der bekannte schlesische Oppositionelle und Protestant Jerzy Buzek Ministerpräsident Polens wurde. Doch das war in den Jahren 1997 bis 2001 und ist auch schon wieder knapp 20 Jahre her.

So werden Polens Lutheraner in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Auch nicht auf der „Karte kirchlicher Pädophilie“ der Stiftung „Fürchtet Euch nicht“, die sich seit fünf Jahren um Opfer sexueller Gewalt durch katholische Geistliche kümmert. Auf der Anfang Oktober im Internet publizierten Karte kommt die Evangelisch-Augsburgische Kirche nicht vor. Das heißt nicht, dass es dort keine Missbrauchsfälle gibt, nur finden sie in der Öffentlichkeit keine große Beachtung. Dabei ist es Polens Journalisten zu verdanken, dass immer wieder Missbrauchsfälle aufgedeckt werden. Politiker, auch die derzeit regierenden Nationalpopulisten, waren und sind eher bemüht, der Kirche beim Vertuschen der Sexualdelikte zu helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die von Justizminister Zbigniew Ziobro forcierte Liste von Sexualstraftätern, die im Internet für jedermann einsehbar ist. Auf diesem öffentlichen Pranger figuriert kein einziger Geistlicher. Angeblich, so hieß es aus dem Justizministerium, seien dort nur Verbrecher aufgelistet, die mit besonderer Grausamkeit oder Brutalität vorgegangen seien. Sexueller Missbrauch durch Priester gehöre nicht dazu.

Mitunter kommen Politiker den Opfern aber auch zur Hilfe. So unterstützt die sozialliberale Abgeordnete Joanna Scheuring-Wielgus die Stiftung „Fürchtet Euch nicht“. Zur Zeit kümmert sie sich um 300 Personen. Die Dunkelziffer, so Scheuring-Wielgus, sei allerdings wesentlich höher. Seit die Medien mehr über die Stiftung berichten, melden sich immer mehr Opfer, die sich vorher mit ihrer Angst und Scham alleingelassen fühlten. Die Politikerin will nun auch Demonstrationen organisieren und dafür sorgen, den Missbrauchs-Opfern Mut zu machen und ihnen Gehör zu verschaffen. „Wenn wir die weltweiten Prozentzahlen von 2 bis 7 Prozent Sexualstraftäter unter Geistlichen nehmen, dann sind das bei rund 30.000 katholischen Geistlichen in Polen - wenn wir die niedrigste Zahl annehmen - 600 Täter“, so die Politikerin. Dabei sei die Gleichung „ein Täter - ein Opfer“ falsch. Manchen Priester missbrauchten über viele Jahre hinweg immer wieder Schulkinder, die sie im Religionsunterricht kennengelernt hätten, oder auch Ministranten.

Politiker, Publizisten und Geistliche, die Kritik an der seit Ende 2015 engen Symbiose von Katholischer Kirche und der Regierungspartei üben, sind allerdings in der Minderheit. Denn kirchliche Kampagnen gegen vorgebliche Gegner der Kirche können nicht nur Wählerstimmen kosten und den guten Ruf ruinieren, sondern auch die eigene moralische Standfestigkeit auf eine harte Probe stellen. So musste sich Staatspräsident Bronislaw Komorowski, als er die sogenannte Istanbuler Konvention „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ unterzeichnen wollte, von Bischof Ignacy Dec vom Bistum Swidnica (Schweidnitz) sagen lassen, dass ein Katholik „Gott mehr zu gehorchen habe als den Menschen“. In der Konvention wurde neben anderen Faktoren auch die Religion als mögliche Rechtfertigung von Gewalt gegen Frauen erwähnt - ein Grund für Polens katholische Kirche, dagegen Front zu machen. Dabei hätte es dem Episkopat gut angestanden, den Schutz von Frauen angesichts von jährlich rund 90.000 erfassten Fällen von Gewalt gegen Frauen - mit einer ebenfalls hohen Dunkelziffer - zu seiner ureigenen Sache zu machen.

Aufregung wegen Gender

Wenig später entdeckte die Kaczynski-Partei die Gender-Studiengänge als neues Thema, um Polens Gesellschaft in Streit und Rage zu bringen. Das Medienimperium rund um den rührigen Geschäftsmann und Redemptoristen-Pater Tadeusz Rydzyk - neben Radio Maryja gehören auch die Tageszeitung Nasz Dziennik und der Fernsehsender Trwam sowie einige Verlage dazu - stieg sofort ein und bezichtigte „das linke Lumpenpack“ in Polen der sexuellen Propaganda einer freien Geschlechterwahl. Die katholische Zeitschrift Egzorcysta (Der Exorzist) identifizierte in Gender eine neue Verkörperung des Satans, und am Ende sah sich der Episkopat bemüht, einen eigenen Hirtenbrief mit einer Warnung vor dem ideologischen Genderismus von allen Kanzeln verlesen zu lassen. Als der Priester und Professor Dariusz Oko das Horrorszenario einer die Kirche, Polen und die menschliche Zivilisation insgesamt zerstörenden Gender-Ideologie beschwor, kündigte Polens sich immer sehr katholisch gebender Bildungsminister an, demnächst alle Genderstudien an Polens Universitäten Polens verbieten zu lassen.

Auch in der Frage der künstlichen Befruchtung für Paare, die Probleme haben, auf natürlichem Wege Nachwuchs zu bekommen, kämpften Kaczynski-Partei, Rydzyk-Imperium und Episkopat auf einer Seite. Priester Oko, ein gern zu Talkshows eingeladener Gast, verstieg sich gar zu der Behauptung, dass den im Reagenzglas gezeugten Kindern die künstliche Befruchtung ein Leben lang anzusehen wäre: Sie trügen einen kleinen Knubbel als Stigma auf der Stirn.

Die Begeisterung der katholischen Bischöfe und vieler Priester über den Wahlsieg der ach so katholischen Kaczynski-Partei wich jedoch mit der Zeit einer gewissen Ernüchterung. Insbesondere in der Flüchtlingsfrage gab es Dissens. Während die katholische Kirche und insbesondere die Caritas den Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan helfen wollten - die Europäische Kommission hatte dem 38-Millionen-Volk der Polen eine Quote von gerade mal 7.000 Flüchtlingen zugewiesen, die es aus Griechenland und Italien übernehmen sollte -, ging die PiS auf einen totalen Konfrontationskurs.

Noch während des Wahlkampfes im Herbst 2015 schürte Jaroslaw Kaczynski nach Kräften die Angst vor den Flüchtlingen, die angeblich an Krankheit wie Cholera und Ruhr litten und „alle Arten von Parasiten und Bakterien“ ins Land brächten, „die in den Organismen dieser Menschen harmlos, für Europäer aber gefährlich“ seien. Zudem, so Kaczynski, könnte ihre Aufnahme zum Entstehen von „Scharia-Zonen“ in Polen führen. Der Medienmogul Pater Rydzyk, der laut einem Ranking der Zeitschrift Wprost zu den 100 reichsten Polen zählt, stützte diese Kampagne, wohlwissend, dass Papst Franziskus und der Episkopat in Polen dazu aufgerufen hatte, den Flüchtlingen zu helfen. Doch die Angstkampagne zeigte Früchte. Unter den Polen wuchs die Überzeugung, dass nur die Kaczynski-Partei Schutz vor den Flüchtlingen bieten könnte. Die Bischöfe mussten sich eingestehen, dass sie die moralische Deutungshoheit in dieser Frage an Pater Rydzyk verloren hatten.

Auch in der Frage der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg - ein ureigenes Thema der katholischen Kirche Polens - zeichnet sich eine Niederlage ab. Noch kämpft der Episkopat. Denn der berühmte polnische Bischofbrief von 1965 mit den wegweisenden Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ gilt bis heute als einer der Grundpfeiler der deutsch-polnischen Versöhnung - neben der einen Monat zuvor veröffentlichten Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands. „Wir Polen wurden über viele Jahre mit den Phrasen einer polnisch-deutschen Versöhnung betrogen.“, behauptet jetzt der PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk. Er bereitet Reparationsforderungen an Deutschland vor. Denn ungeachtet der Reparationsleistungen, die Polen gemäß dem Potsdamer Abkommen bis 1953 aus Deutschland erhielt, wiederholen Mularczyk wie auch andere PiS-Politiker und Rydzyk-Anhänger, dass Polen angeblich nie auch nur einen Pfennig Reparationen erhalten habe und das „Gerede von der Versöhnung reine Heuchelei“ sei, wie der PiS-nahe Professor Stanislaw Zerko vom Westinstitut in Poznan (Posen) meint.

Und erstaunlich ist: Der Sieg der Kaczynski-Partei, den die katholische Kirche 2015 noch so begeistert gefeiert hatte, ging paradoxerweise mit einem hohen Rückgang der Kirchgänger einher. Laut dem Statistischen Institut der katholischen Kirche sank im Jahr 2016 der Anteil der sonntäglichen Messe-Besucher im Vergleich zu 2015 um über 3 Prozent und betrug nur noch 36,7 Prozent. Das ist der niedrigste Wert in der Nachkriegsgeschichte Polens. Die moralische Autorität der katholischen Kirche schwindet mehr und mehr. Zur Zeit kommt alles auf den Tisch: das Versagen des Episkopats im Umgang mit den Opfern von sexuellem Missbrauch, die absurden Thesen rund um die künstliche Befruchtung und die Gender-Forschung sowie PiS-Attacken auf die Versöhnungsbotschaft von 1965. Die katholische Kirche Polens macht derzeit keine gute Figur.

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Gabriele Lesser

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Gabriele Lesser

Gabriele Lesser ist Osteuropa-Korrespondentin für verschiedene Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie lebt in Warschau und Berlin.


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