Das große Schweigen

Wie sich die Kirchen verhielten, als im November 1938 die Synagogen brannten
Bis zu 7.500 jüdische Geschäfte fielen Zerstörung und Plünderung zum Opfer.  Foto: dpa
Bis zu 7.500 jüdische Geschäfte fielen Zerstörung und Plünderung zum Opfer. Foto: dpa
Im Verlauf der Novemberexzesse von 1938 wurden 1.400 Synagogen zerstört, Hunderte Wohnhäuser und Wohnungen verwüstet und deren Bewohner gedemütigt, verletzt und beraubt. Die Gewaltaktionen und ihre Folgen forderten 1.400 Todesopfer. Und die Kirchen, Protestanten wie Katholiken, schwiegen dazu, erläutert der Berliner Kirchenhistoriker Manfred Gailus.

"Als wir zum 1. April 33 schwiegen“, mahnte die Berliner Historikerin und Pädagogin Elisabeth Schmitz kurz nach den Pogromereignissen des November 1938 Pfarrer Helmut Gollwitzer in Berlin-Dahlem, „als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte ‚Gesetze’, zu den Methoden von Buchenwald - da und tausendmal sonst sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, dass die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will, und was.“

Elisabeth Schmitz dankte dem Pfarrer für seine mutige Bußtagspredigt vom 16. November, die sie gemeinsam mit ihrer „nichtarischen“ Freundin Martha Kassel gehört hatte. Bereits jetzt, berichtet sie ihm, gingen Gerüchte um, dass ein Zeichen an der Kleidung von Juden beabsichtigt sei: „Unmöglich ist nichts in diesem Lande, das wissen wir. (...) Wir haben die Vernichtung des [jüdischen] Eigentums erlebt, zu diesem Zweck hatte man im Sommer die Geschäfte bezeichnet. Geht man dazu über, die Menschen zu bezeichnen - so liegt ein Schluß nah, den ich nicht weiter präzisieren möchte. Und niemand wird behaupten wollen, dass diese Befehle nicht ebenso prompt, ebenso gewissenlos und stur, ebenso böse und sadistisch ausgeführt würden wie die jetzigen. Ich habe schon diesmal von grauenhaften blutigen Exzessen gehört.“

Angewidert von den Gewaltexzessen und aus Protest weigerte sich die Studienrätin seit dem 9. November 1938, weiterhin in der Schule eines Staates zu unterrichten, deren Regierung die Synagogen niederbrennen lasse und beantragte aus Gewissensgründen mit 45 Jahren ihre Pensionierung.

Unter der notorischen „Politik des Schweigens“ ihrer Kirche, der Bekennende Kirche (BK), hatte sie seit 1933 gelitten und opponierte beharrlich dagegen durch Gespräche, Briefe, eine Denkschrift zur Lage der deutschen „Nichtarier“ (1935), schließlich mit beruflicher Verweigerung als Lehrerin und Engagement im Rettungswiderstand zugunsten verfolgter Juden und christlicher „Nichtarier“. Aber die „protestierende Protestantin“ Schmitz war eine Ausnahme.

Protestierende Protestantin

Nach gegenwärtigem Forschungsstand wurden im Verlauf der Novemberexzesse von 1938 etwa 1.400 Synagogen zerstört. Hunderte Wohnhäuser und eine weit höhere Zahl an Wohnungen wurden verwüstet und deren Bewohner gedemütigt, verletzt, beraubt. Bis zu 7.500 jüdische Geschäfte wurden zerstört und teilweise geplündert. Über 30.000 jüdische Männer wurden ab dem 10. November in Konzentrationslager eingeliefert. Die Gewaltaktionen und ihre unmittelbaren Folgen forderten, soweit bisher bekannt, 1.400 Todesopfer. Auch 80 Jahre nach den Novemberpogromen ist ihre genaue Zahl noch immer nicht erforscht.

Und die Kirchen, Protestanten wie Katholiken, schwiegen dazu. Die beiden großen Konfessionen waren die einzig noch verbliebenen Institutionen im NS-Staat, die nicht unmittelbar gleichgeschaltet waren und insofern hätten sprechen können. Im Schatten der Gewaltereignisse schwiegen Bischöfe und Pröpste, Generalsuperintendenten, Theologieprofessoren, Synoden, die allermeisten Pfarrer, die Kirchengemeinden, das Kirchenvolk. Schweigen war das hervorstechende Merkmal kirchlichen Verhaltens angesichts der Gewalt.

Dieses Schweigen konnte indessen unterschiedlich motiviert sein: Da war betretenes Schweigen, Schweigen vor Scham, stummes Entsetzen. Häufig gab es ein Schweigen aus Furcht, denn wer kritisch den Mund aufmachte, riskierte viel. Es gab schließlich auch ein Schweigen bei klammheimlicher Zustimmung oder Billigung der Gewaltexzesse.

Der Elberfelder Bekenntnispfarrer Hermann Klugkist Hesse notierte am 11. November im Tagebuch: „Die Synagoge brennt ganz aus. Die Friedhofskapelle auf dem jüdischen Friedhof brannte ebenfalls gestern abend. Die Leichensteine sollen umgeworfen sein. (...) In der Genügsamkeitsstraße haben sie mit den hebräischen Bibeln Fußball gespielt.“ Und am 12. November: „Gestern hat Tudi einen Spaziergang zum Weinberg gemacht. Da haben viele, viele Menschen vor den Trümmern gestanden - aber alle - stumm. Stumm.“

Wenige Tage später im Brief an seinen Sohn Franz heißt es: „Ich bin auf der einen Seite ganz froh gewesen, dass ich am Bußtag nicht zu predigen hatte, zumal da viele Rufe aus der Gemeinde mich zur Vorsicht mahnten... Auf der anderen Seite tut es mir doch leid, dass z.B. in der Predigt, die Pastor Rabius... heute morgen hielt, kein Wort von dem gefallen ist, was alle bekümmert. Ich meine, ich hätte in der Predigt mit der Gemeinde mich beugen müssen in bitterer Trauer über diese Dinge, die in unserer Mitte, inmitten der christlichen Gemeinde, inmitten eines Volkes, das doch immerhin christlich sein will, geschahen. Schmerz, Leid, Traurigkeit - das hätte die Bußtagspredigt diesmal kennzeichnen müssen, nicht über das Geschehene als solches, sondern dass es geschah unter uns. Hätten wir nicht ganz anders Licht und Salz sein müssen, so dass solches nicht hätte geschehen müssen?“

Völkische Theologie

In den evangelischen Kirchen der Hitlerzeit hatten - im Unterschied zur katholischen Kirche - deutschchristliche „Glaubensbewegungen“, die eine völkische Theologie und krassen Antisemitismus propagierten, beträchtlichen Einfluss gewonnen. Viele ihrer Anhänger, darunter zahlreiche Pfarrer, hatten die Nürnberger Rassengesetze von 1935 begrüßt und nicht wenige Deutsche Christen (DC) beließen es auch im November 1938 nicht bei klammheimlicher Zustimmung.

Pfarrer Friedrich Peter beispielsweise - ein führendes Mitglied der Deutschen Christen, 1933-1935 Bischof in Magdeburg, danach von Reichskirchenminister Hanns Kerrl an den Berliner Dom versetzt - hielt eine Woche nach den Pogromen anlässlich des Staatsbegräbnisses für den Pariser Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath die Grabrede in Düsseldorf: „Und wir fragen heute an diesem offenen Grabe die Völker der Erde, wir fragen die Christen in aller Welt: Was wollt ihr tun gegen den Geist jenes Volkes, von dem Christus sagt, ‚sein Gott ist ein Mörder von Anfang an gewesen und ist nicht bestanden in der Wahrheit’. Wir Deutschen haben gelernt, dass man sich große Gedanken und ein reines Herz von Gott erbitten soll. Wie steht es aber um Juda, dessen Gott ein Mörder ist von Anfang an?“

Der Stuttgarter DC-Theologe Immanuel Schairer schrieb am 20. November einen beifälligen Kommentar zu den Pogromen. Er berief sich dabei auf Luthers Von den Juden und ihren Lügen und zitierte die darin empfohlenen sieben Maßnahmen einer „scharffen barmhertzigkeit“, darunter das Verbrennen ihrer Synagogen und Zerstörung ihrer Wohnhäuser. Der Thüringer Landesbischof Martin Sasse verschickte unmittelbar nach den Pogromen seine Schrift Martin Luther und die Juden: Weg mit ihnen! als Argumentationshilfe für die Thüringer Pfarrerschaft. Im „Kirchlichen Amtsblatt für Mecklenburg“ erschien am 24. November ein „Mahnwort zur Judenfrage“: Kein christlicher Deutscher könne die Maßnahmen gegen die Juden im Reich „bejammern“.

Unser christliches Mitgefühl, so hieß es dort, habe nicht den Juden zu gelten, sondern den vom Judentum betrogenen und ausgebeuteten Völkern Europas. Der Kampf gegen das Judentum sei eine Lebensfrage für die deutsche Seele. Der Göttinger Theologe Emanuel Hirsch, ein Meisterschüler des 1926 verstorbenen Kirchenhistorikers Karl Holl, äußerte Ende November 1938 im Briefwechsel mit dem befreundeten Publizisten Wilhelm Stapel über die Gewaltereignisse: Er sei „leidenschaftlich“ dafür, die Juden durch jede für den Zweck erforderliche Brutalität zur Auswanderung zu zwingen. Wenn es nun noch nicht genug sei, so müsse noch mehr kommen. Er glaube nicht, dass die „Vorgänge“ eine Torheit waren, sondern klarer und zweckdienlicher politischer Wille.

Auch in rein katholischen Regionen Süd- und Westdeutschlands geschahen die Gewaltaktionen ungehindert vor aller Augen. Von Papst Pius XII. aus Rom und von den deutschen katholischen Bischöfen kam keine öffentliche Verlautbarung zu den Pogromereignissen. Offizielles Schweigen der Institutionen war auch hier die vorherrschende Reaktion. Was indessen fehlte bei Katholiken war jene explizite, teils öffentliche Zustimmung, wie sie für etliche Protestanten belegt werden kann. Im Innern der katholischen Kirche gab es - ein gravierender Unterschied - keine den Deutschen Christen vergleichbare kirchliche Massenbewegung. Katholische Geistliche hielten sich von der Hitlerpartei spürbar mehr fern (NSDAP-Parteizugehörigkeit unter ein Prozent) als evangelische Pfarrer, die sich - je nach Landeskirche - in Größenordnungen von 15 bis 20 Prozent der NSDAP angeschlossen hatten.

Vor diesem Hintergrund war das katholische Verhalten im November 1938 vergleichsweise distanzierter, man hielt sich nahezu geschlossen an die päpstliche Devise eines kirchlichen Schweigens. Mutige Einzelne wie der katholische Dompropst Bernhard Lichtenberg in Berlin bildeten hier die Ausnahme.

Päpstliche Devise

Tue deinen Mund auf für die Stummen - Beispiele belegen, dass dies im Schatten der Kristallnachtereignisse riskant und für protestierende Einzelpersonen gefährlich sein konnte. Der württembergische Pfarrer Julius von Jan, der in seiner Bußtagspredigt in Oberlenningen (16. November) die soeben geschehenen Verbrechen anprangerte, wurde von einer motorisierten SA-Meute überfallen, körperlich schwer misshandelt und später inhaftiert. Das Sondergericht Stuttgart verurteilte ihn unter Berufung auf das Heimtücke-Gesetz und den Kanzelparagraphen zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis.

Seit Anfang Dezember 1938 nahm das „Büro Pfarrer Grüber“ in Berlin seine Arbeit auf. Diese Einrichtung der Bekennenden Kirche half rassisch Verfolgten bei der nun vielfach lebensrettenden Auswanderung. Das war eine kirchliche Antwort auf die Pogrome, getragen vom entschiedenen, „dahlemitischen“ Flügel der Kirchenopposition, einer Minorität in den evangelischen Kirchen. Aber dies war nicht die einzige Antwort aus dem Kirchenbereich: Anfang Mai 1939 trat auf der Wartburg bei Eisenach eine Versammlung zusammen, um das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ zu gründen. DC-Pfarrer Walter Grundmann, ein Schüler des renommierten Tübinger Neutestamentlers Gerhard Kittel und Professor für „völkische Theologie“ in Jena, sprach über „Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche“.

Das große kirchliche Schweigen dominierte in beiden großen Konfessionen, als die Synagogen brannten. Daneben gab es aus Kreisen protestantischer DC-Theologen auch unsägliche Akklamationen zu den antisemitischen Gewaltexzessen. Der offene Widerspruch gegen die Novemberpogrome blieb hingegen die seltene Ausnahme von couragierten Einzelpersonen wie Pfarrer Julius von Jan in Württemberg oder Dompropst Bernhard Lichtenberg in Berlin.

Manfred Gailus

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