Ein „katholischer Geschmack“

Die Missbrauchsstudie zeigt katholische Spezifika auf - aber nicht nur
Reinhard Kardinal Marx vor Medienleuten nach der Vorstellung der Missbrauchsstudie Ende September in Fulda. Foto: dpa/ Arne Dedert
Reinhard Kardinal Marx vor Medienleuten nach der Vorstellung der Missbrauchsstudie Ende September in Fulda. Foto: dpa/ Arne Dedert
Der Zölibat ist nicht eo ipso ein Grund für die sexualisierte Gewalt durch katholische Geistliche. Aber die verpflichtende Ehelosigkeit für katholische Priester kann ein Faktor sein, der Übergriffe begünstigt. Das könnte die protestantische Kirche beruhigen - aber nur ein wenig, analysiert Philipp Gessler.

Es mochte den deutschen katholischen Bischöfen in Fulda Ende September nichts gelingen - selbst das nicht, was sie sonst oft am besten können: liturgische Zeichen zu setzen. Das zeigte sich am frühen Morgen nach der tags zuvor vorgestellten Missbrauchsstudie bei einer Messe im Hohen Dom. Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki erklärte nach den ersten fünf Minuten seiner Predigt, in der er Entsetzen und Scham über die Ergebnisse der Studie zur sexualisierten Gewalt durch katholische Geistliche schilderte: Es fehle einem angesichts dieses skandalösen Unrechts die Worte - weshalb er die restlichen fünf Minuten seiner Predigt schweigen wolle. Sagte es, setzte sich auf den Bischofsthron und schwieg. So wie die ganze Gemeinde. Doch nach einer Weile schritt in dieser Stille eine Kirchenbesucherin mit laut klackenden Schuhen minutenlang durch den linken Seitenflügel des Doms: Klack, Klack, Klack! Das gut gemeinte Zeichen des Kardinals - perdu. Das war symptomatisch.

Die von unabhängigen Wissenschaftlern erstellte, aufwendige Studie hat ihre Schwächen: Nicht alle Akten aus den Bistumsarchiven wurden gesichtet, es gab eine Vorauswahl durch die Diözesen, einige der über 38.000 genutzten Akten sind offenbar zuvor manipuliert worden und vieles wurde zuvor vernichtet, die Beobachtungstiefe der Personalakten reichte nur bei zehn der 27 deutschen Bistümer bis 1946 zurück und so weiter.

Die Folge: Die Zahlen der Forscherinnen und Forscher zur Dimension des Missbrauchs in der katholischen Kirche sind mit äußerster Vorsicht zu nutzen. Denn es ist klar: Sowohl die absolute Zahl der Missbrauchstäter (1.670 Kleriker) als auch die Zahl der missbrauchten Minderjährigen (3.677 Kinder und Jugendliche) dürfte wesentlich höher sein als die erfassten. Das gilt auch für die nach Aktenlage errechnete Quote der Täter im geistlichen Stand, nämlich 4,4 Prozent. „Die ermittelte Quote ist die Spitze des Eisbergs, dessen tatsächliche Größe unbekannt ist“, schreiben die Forscher ausdrücklich. Das „Dunkelfeld“ sei riesig. Ähnliche Studien etwa in den USA oder Australien lassen eine viel höhere Quote missbrauchender Geistlicher vermuten: Sieben Prozent oder mehr sind möglich.

Trotz der zweifelhaften Datengrundlage konnte die MHG-Studie zumindest spezifische Strukturen aufzeichnen, die den Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche in der römisch-katholische Kirche in schrecklicher Weise begünstigen - und dieses Verstehen der Strukturen sei ja das Hauptziel der Studie gewesen, betonten die Bischöfe. Was also macht das spezifisch Katholische daran aus, der „katholische Geschmack“, wie manche Fachleute es nennen? Und was bedeutet das für die evangelischen Kirchen in Deutschland: Sind sie ähnlich gefährdet?

Vieles spricht dafür, dass Pastorinnen und Pastoren des hiesigen Protestantismus (siehe auch den Artikel von Lilith Becker in zeitzeichen 10/2018) weniger gefährdet sind, in die Missbrauchsfalle zu tappen, als ihre katholischen Amtsbrüder - gerade weil es in der katholischen Kirche „Risikofaktoren“, so das Wort der Studie, gibt, die in den evangelischen Kirchen nicht zu finden sind.

Sexuelle Unreife

Da ist zum einen der Zölibat für Geistliche in der katholischen Kirche: Die verpflichtende Ehelosigkeit sei zwar nicht die alleinige oder eo ipso eine Ursache für den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, schreiben die Wissenschaftler. Aber es könne „für bestimmte Personengruppen in spezifischen Konstellationen ein möglicher Risikofaktor“ sein.

Ähnlich sei es mit einer qua Zölibat und offizieller katholischer Lehre verdrängten Homosexualität in der katholischen Kirche: „Weder Homosexualität noch Zölibat sind alleinige Ursachen für den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen“, schreiben die Forscher in eindringlichen Worten, „aber das komplexe Zusammenspiel von sexueller Unreife und abgewehrten und verleugneten homosexuellen Neigungen in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung“ könne den Missbrauch begünstigen, gerade was männliche Opfer angeht.

Homosexuelle Pastorinnen und Pastoren gibt es selbstverständlich auch in den evangelischen Kirchen - aber sie sind weder zur sexuellen Enthaltsamkeit verpflichtet noch werden sie durch eine im Kern homophobe kirchliche Lehre oder eine homosexuellen-feindliche Kultur in ihrer Kirche diskriminiert, zumindest nicht in den vergangenen Jahren. Der Sumpf an Verdrängung der Sexualität und einer unerwünschten sexuellen Neigung, der in der katholischen Kirche Missbrauch begünstigt, ist in der evangelischen Kirche nicht (mehr) oder sehr viel weniger zu finden. So schreiben die Wissenschaftler: „Die Verpflichtung zu einem zölibatären Leben könnte Priesteramtskandidaten mit einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung als Lösung innerpsychischer Probleme erscheinen, die zusätzlich die Aussicht auf ein enges Zusammenleben ausschließlich mit Männern zumindest während der Priesterausbildung mit sich bringt. Insoweit könnten spezifische Strukturen und Regeln der katholischen Kirche ein hohes Anziehungspotential für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben.“

Auch der in der MHG-Studie genannte Risikofaktor „Klerikalismus“ ist in den demokratisch verfassten evangelischen Kirchen mit ihrer stets betonten Lehre eines „Priestertums aller Gläubigen“ viel weniger zu befürchten. „Hochwürden“ gibt es eben nicht im deutschen Protestantismus, die Pastorinnen und Pastoren stehen nicht qua Weihe über dem Rest der Gemeinde. Denn so verstehen die Forscher „Klerikalismus“, als „ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position inne hat“. Sexueller Missbrauch sei „ein extremer Auswuchs dieser Dominanz“. Denn er sei „vor allem auch Missbrauch von Macht“.

Vertuschung hatte Vorrang

Hier spielt hinein, was den Missbrauch in der katholischen Kirche zusätzlich begünstigt, nämlich die Überhöhung der eigenen Kirche als eine von Gott gegebene, im Kern perfekte und gegen Schmutz zu schützende Gemeinschaft - dazu die Macht der Bischöfe, die in der Kirche Roms viel größer ist als in den evangelischen Landeskirchen: „Bei Kirchenverantwortlichen kann ein autoritär-klerikales Amtsverständnis dazu führen, dass ein Priester, der sexualisierte Gewalt ausgeübt hat, eher als Bedrohung des eigenen klerikalen Systems angesehen wird und nicht als Gefahr für weitere Kinder oder Jugendliche oder andere potentielle Betroffenen“, schreiben die Wissenschaftler. „Dann kann die Vertuschung des Geschehens und die Schonung des Systems Priorität vor der schonungslosen Offenlegung entsprechender Taten gewinnen.“

Es ist kein Zufall, dass in der katholischen Kirche überführte Täter viel häufiger einfach nur versetzt, statt aus ihrem Amt entfernt wurden - und ihre Tat viel häufiger verdeckt wurde als in vergleichbaren Institutionen (siehe die Seiten 189f der Studie, die kostenlos abrufbar ist). Der Schutz der Institution spielte in den vergangenen Jahrzehnten eine viel zu große Rolle bei den katholischen Oberhirten, wenn sie mit dem Missbrauch durch einen ihrer Priester konfrontiert wurden. Und ein tieferer Grund dafür ist sicherlich der „Klerikalismus“, den auch Papst Franziskus in letzter Zeit als ein Hauptübel in seiner Kirche ausgemacht hat.

Es gibt noch weitere Spezifika, die das Risiko eines Missbrauchs in der katholischen Kirche erhöhen. Das Männerbündische in fast allen, vor allem den höheren Ebenen der Kirche Roms etwa, das Schweigekartelle zum Vertuschen von Verbrechen wahrscheinlicher macht, wie Soziologen bei vielen fast reinen Männervereinen nachweisen können. Ebenso die stark hierarchische Struktur, die eine Vertuschung der Taten oder die einfache Versetzung der Täter ohne Zustimmung der neuen Gemeinde erleichtert. So kann es zu einer jahrzehntelangen Kette von Missbrauchsfällen in verschiedenen Gemeinden durch ein und denselben Priester kommen. Auch die besondere Tradition der katholischen Beichte und der regelmäßige Umgang der Priester mit Jugendlichen, nicht zuletzt mit Ministranten, so analysieren die Wissenschaftler, bedeuteten vor allem in den vergangenen Jahrzehnten Risikofaktoren. Ähnliches ist in nicht-katholischen Kirchen nicht oder weniger stark zu finden.

Klar ist aber auch: Nicht zuletzt ein Machtgefälle und die Nähe zu Kindern und Jugendlichen in der alltäglichen Seelsorge bleiben auch im Protestantismus Risikofaktoren. Dass der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm zumindest diskutieren will, ob eine vergleichbare Studie wie die der katholischen Bischöfe auch in der EKD sinnvoll sei, ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung. Ihm müssen noch viele folgen.

Lilith Becker über Mißbrauch und evangelische Kirche
Zum Download der Studie

Phiipp Gessler

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