Heimat und Flucht

Ein Mittelalter-Panorama
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Stefan Hertmans "Die Fremde" ist keine Strandkorblektüre, sondern ein gebildeter, so detail- wie kenntnisreicher historischer Roman.

Frankreich im 11. Jahrhundert. Eine heimliche Liebe, verbotene Leidenschaft und abenteuerliche Flucht. Eine Reise voller Gefahren, ehe die Liebenden endlich am Ziel sind. Sie heiraten, lassen sich nieder, gründen eine Familie. Aber ihr Glück währt nur kurz; ihr Dorf und ihre Gemeinschaft werden zerstört. Der Mann ist tot, die junge Frau flieht mit ihren Kindern, doch zwei der Kinder werden entführt. Auf der Suche nach ihnen setzt sie sich erneut endlosen Strapazen und Gefahren aus, und als es endlich scheint, ein Leben in Frieden könnte doch möglich sein, schreckt eine Nachricht sie auf, treibt sie wieder hinaus und letztlich in Wahnsinn und Tod.

Das klingt nach dem Stoff, aus dem die Schmöker sind, aber Stefan Hertmans Die Fremde ist keine Strandkorblektüre, sondern ein gebildeter, so detail- wie kenntnisreicher historischer Roman, der die Leser an der Spurensuche des Autors nach einer Frau teilhaben lässt, die im Mittelalter als Konvertitin in der jüdischen Gemeinde von Monieux lebte.

In dem Dörfchen in der provenzalischen Vaucluse hat Hertmans seinen zweiten Wohnsitz, und er ist dort auf Dokumente gestoßen, die die Existenz einer solchen Frau bezeugen, deren Ehemann, wie fast die gesamte jüdische Gemeinde, bei einem von durchziehenden Kreuzrittern verübten Pogrom ermordet wurde. Dieser Frau gibt Hertmans einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte und vollzieht die Stationen ihres Lebens nach, von Rouen nach Monieux und schließlich bis nach Kairo, wo damals eine große jüdische Gemeinde existierte, in der sie Unterschlupf gefunden haben könnte. Integration und Identität, Fundamentalismus und Fanatismus, Heimat und Flucht - die Themen von heute spiegeln sich in dem Mittelalterpanorama, das Hertmans entfaltet.

Parallel dazu erzählt er dabei die Geschichte von Vigdis, die zu Hamutal wird, um 1100, sowie die Geschichte seiner fast zwanzig Jahre dauernden Recherche in der Gegenwart. Hier könnte es gewesen sein, so könnte es sich zugetragen haben, so sah es damals vermutlich aus - immer wieder findet Hertmans Orte, Plätze, Winkel, in denen er sich seiner Protagonistin ganz nahe und verbunden fühlt, sie fast in heutigen Personen zu erkennen glaubt.

Die historischen Irrungen und Wirrungen der Zeit blättert er auf, erzählt von Päpsten und Kaisern und martialischen Aufrufen zum Kreuzzug, lässt einen arabischen Chronisten ebenso wie einen französischen Mönch und viele andere zu Wort kommen. Vor allem aber immer wieder Vigdis/Hamutal, „die Bekehrte“ (wie der flämische Originaltitel auch übersetzt werden kann), die in vielerlei Hinsicht eine Fremde bleibt: Schon äußerlich ist sie, blond und blauäugig, anders als die anderen Frauen der jüdischen Gemeinde, aber auch innerlich bleibt sie zwischen dem Glauben ihrer Kindheit und den neuen, fremden Ritualen und Gebeten zerrissen, so sehr sie sich auch zum Judentum als einer Religion hingezogen fühlt, deren Geschichte und Zeitrechnung „nicht bei Folter und Kreuzigung beginnt“, sondern „mit einer kreativen Tat einsetzt, nämlich dem Anfang des Lebens selber...“

Ihr eigenes Leben ähnelt freilich eher einer Passionsgeschichte; dass sie uns nicht wirklich berührt, mag genau daran liegen: Es ist zu viel, was diese gebrochene Heldin erleiden muss, denn jeden erdenklichen Schicksalsschlag bürdet der Autor ihr auf. Ein Zuviel auch in manchen Passagen, in denen Hertmans die Gefühle und Leidenschaft Hamutals und ihres Geliebten zu beschreiben versucht; dort wird es mitunter schwülstig und pathetisch. So liest sich oft die wahre Geschichte von Hertmans Spurensuche spannender als die erdachte seiner Protagonistin, die letztlich auch für die Leserin eine Fremde bleibt.

Jutta Schreur

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