Einstein des Sex

Über Magnus Hirschfeld
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Ein Standardwerk zur Geschichte der Sexualforschung und zugleich ein fundiertes Sitten- und Gesellschaftsgemälde.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, und schuf sie als Mann und Frau“ (Genesis 1, 27). Im Bibelmythos scheint klar, dass die Menschen geschlechtlich getrennte Wesen sind. So verstand man das jahrtausendelang in der jüdisch-christlichen Welt. Frauen und Männer lebten in klar abgegrenzten Sozialbereichen, und oft wurde Weibliches patriarchalisch abgewertet. Erst im vergangenen Jahrhundert veränderte sich diese Sicht. Daran hat die Sexualwissenschaft und mit ihr der Mediziner Magnus Hirschfeld (1868-1935) großen Anteil. Hatte Albert Einstein mit seiner 1916 abgeschlossenen Relativitätstheorie dargelegt, dass es in Raum und Zeit keine unbedingten, universell gültigen Ordnungsstrukturen gibt, sondern nur relative, vom Standpunkt des Betrachters abhängige, so erkannte Hirschfeld durch die Behandlung tausender Patienten, dass es keine absoluten Männer und Frauen gibt, sondern nur durch die jeweiligen Verhältnisse bedingte Personen: „Jeder Mensch ist Mann und Weib zugleich, nur in einem bestimmten Verhältnis (Relation) beider Geschlechtskomponenten.“

Der Historiker Manfred Herzer, 1982 Mitbegründer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und seit 1985 Herausgeber der Zeitschrift für schwule Geschichte, Capri, hat vielfach zu diesem Thema publiziert. Im Oktober 2017 veröffentlichte er die Summe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Sexologen: Magnus Hirschfeld und seine Zeit ist ein Standardwerk zur Geschichte der Sexualforschung und zugleich ein fundiertes Sitten- und Gesellschaftsgemälde. Die wissenschaftliche Untersuchung kennzeichnet eine außerordentliche Detail- und Sachkenntnis; getragen wird sie von steter Empathie des Autors für seinen Protagonisten.

Herzer begleitet Hirschfeld von seiner Kindheit in einer jüdischen Arztfamilie im pommerschen Kolberg bis zum Tode am 67. Geburtstag im Exil in Nizza. Hirschfeld wollte zeitlebens das „Rätsel der Liebe“ entschlüsseln. Auch aufgrund seiner eigenen Disposition kämpfte er unablässig für die Befreiung der Homosexuellen. 1897 war er Initiator des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ und mit seinem Berliner „Institut für Sexualwissenschaft“ leistete er durch Publikationen und Petitionen Pionierarbeit in der Sexualaufklärung. Der Nervenarzt war davon überzeugt, dass Menschen bisexuell sind, jede(r) habe weibliche und männliche Eigenschaften in einem individuellen Mischungsverhältnis. Weiblichkeit und Männlichkeit umfasse unzählige Schattierungen, intersexuelle Varianten, es gebe von einem zum anderen viele „Zwischenstufen“. Die jeweils vorhandene primäre Triebrichtung könne durch äußere Einflüsse, wie Erziehung und Gesellschaft, gefördert, gelenkt oder unterdrückt werden.

Als Hirschfeld vor den Nazis fliehen musste, verbreitete er von 1931 bis 1935 seine Erkenntnisse auf ausgedehnten Vortragsreisen in den usa, Asien, Ägypten und Palästina. Doch in Deutschland fiel der Homosexuellenparagraph 175 erst 1994, 2016 trat ein Entschädigungsgesetz, 2017 die „Ehe für alle“ in Kraft. Das alles ist auch ein Verdienst Magnus Hirschfelds.

Die wegweisende Untersuchung fordert heraus, die eigene Sexualität und Geschlechterrollen im Allgemeinen - auch die der Bibel - zu reflektieren. Die Verfasser des Schöpfungsmythos glaubten, Gott habe den Menschen singulär weiblich und männlich geschaffen. Doch sollte im Ebenbild getrennt sein, was im Urbild vereint ist? Manfred Herzer setzt als Mut machendes Motto über seine Monographie ein Bibelwort in der Übertragung des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber - einem Unterstützer der Schwulenemanzipation: „Für alles ist eine Zeit, eine Frist für alles Anliegen unter dem Himmel“ (Prediger 3, 1).

Robert M. Zoske

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