Sorgende Gemeinschaft

Mehr gesellschaftliches Engagement gegen Einsamkeit
Das Thema Einsamkeit muss endlich enttabuisiert und ins Bewusstsein geholt werden.

Sie schleicht sich in unser Herz, unsichtbar, leise und heimlich. Dann macht sie uns krank. Wissenschaftler schlagen Alarm: Galt Einsamkeit bislang nur als Symptom allgemeiner psychischer Störungen, so zeigen neueste Erkenntnisse der Gehirnforschung, der Psychologie und der Sozialforschung, dass Einsamkeit als eigenes Thema behandelt werden muss. Verursacht sie doch Stress und damit eine ganze Reihe chronischer Krankheiten.

Forschungsprojekte mit Langzeitstudien liefern die traurigen Fakten: Mit chronischer Einsamkeit wächst die Gefahr, an Bluthochdruck, Depressionen, Alzheimer oder Diabetes zu erkranken. Freilich ist das Problem der Vereinsamung nicht neu. Jeder Mensch kennt das Gefühl, Sehnsucht nach anderen zu haben. Neu ist jedoch, dass Wissenschaftler das Erleben von Einsamkeit in die gleiche Gruppe der Risikofaktoren einordnen wie Bewegungsmangel, Luftverschmutzung, Übergewicht oder Rauchen. Und neu ist auch, dass das immer mehr Menschen betrifft.

Generell gilt: Die Menschen legen immer weniger Wert auf Gemeinschaft. Das ist traurige Realität. Wenn nun der gesellschaftliche Wandel das Phänomen der Einsamkeit verstärkt in den Fokus rückt, stellt sich die Frage, warum es niemanden interessiert. Wenn also zunehmende Urbanisierung und die Digitalisierung vieler Bereiche des Lebens dazu führen, dass bei vielen Menschen niemand mehr klingelt oder mit ihnen spricht, kann das niemanden unberührt lassen. Betroffen sind vornehmlich ältere Menschen und ganz junge. So bröckelt der soziale Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Wir alle müssen also der Einsamkeit mehr Aufmerksamkeit schenken.

Wer sich einsam fühlt, schämt sich häufig. In den Augen vieler gilt das Gefühl der Verlassenheit als Ausdruck des Versagens. Doch die Ursachen für Einsamkeit sind vielfältig. Das Thema muss endlich enttabuisiert und ins Bewusstsein geholt werden. Dafür ist Aufklärung nötig, die durch gezielte und politisch geförderte Kampagnen erreicht werden kann. Oder, wie Diakoniepräsident Ulrich Lilie fordert, ein Bündnis aus gesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, kulturellen Einrichtungen und Sportvereinen muss sich des Themas annehmen.

Neue Konzepte für Stadt und Land, die die Menschen wieder zusammenbringen, liegen auf dem Tisch. Es sind die der so genannten Caring communities, also sorgende Gemeinschaften. Wie Mehrgenerationshäuser beteiligen sich zum Beispiel viele Kirchengemeinden und ihre Diakonie am Ausbau von neuen Sorgestrukturen auf den Dörfern, in den Kiezen und Stadtvierteln und in den Nachbarschaften. Pfarrer oder Diakone werden zu Netzwerkern, organisieren Mobilität oder schaffen in den Städten kostenfreie Angebote, damit sich Menschen begegnen können. Denn es bedarf immer eines Menschen, einen anderen aus seiner Einsamkeit zu holen. Aber auch hier gilt: Wir alle müssen genauer hinschauen, mehr Aufmerksamkeit schenken.

Einsamkeit ist kein Schicksal, weder für den Einzelnen noch für die Gemeinschaft. Vielleicht tun die Briten gut daran, mit Tracey Crouch einen „Minister for loneliness“, also eine Ministerin für Einsamkeit, ernannt zu haben. Kein Staat kann aktives Miteinander verordnen, aber er kann wenigstens ein Bewusstsein dafür schaffen.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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