„Nur einmal ganz mit Leib und Seele“

Foto: Uni Frankfurt
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Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius hat in Büchern über Fußballleidenschaft geschrieben. Im Interview beschreibt er, wo sich Fußball und Religion berühren - und wo nicht.

zeitzeichen: Herr Delius, Ihr Vorname wird landläufig „F.C.“ abgekürzt. Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass dies wie „Fußballclub“ klingt?

F.C.DELIUS: Schon als Kind, aber dass man damit offensiv kokettieren kann, dämmerte mir erst später gegen Ende der Schulzeit, als ich erste Gedichte veröffentlichte, also etwas Eigenes in die Welt stellen konnte - und dazu einen originellen Vornamen.

Sie waren als Kind schon aktiver Fußballer beim 1. FC Wehrda. Davon liest man in Ihrer bekannten Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“. Wie gut waren Sie damals als Spieler?

F.C.DELIUS: Das war kein Vereinsfußball, da gab es kein Training, nur gröbstes Bolzen und Rennen. Ich war nie ein guter Spieler, nicht als Stürmer, nicht als Torwart, ich wurde also ein braver Verteidiger. Dafür war ich ganz eifrig und erfolgreich, die Jungs des Dorfes zum Spielen zusammenzutrommeln. Mit zwölf oder 13 bekam ich endlich einen richtigen Lederfußball zu Weihnachten - damit war ich derjenige, der das wichtigste Mittel hatte, um irgendwo zu bolzen oder sich mit anderen Mannschaften zu verabreden.

In der Erzählung schildern Sie Ihre Kindheit als Pfarrerssohn. Die erscheint doch zum großen Teil recht trostlos und auch sehr angstbesetzt …

F.C.DELIUS: Ich habe Anfang der Neunzigerjahre in dem Buch versucht, die Gefühle, die ich als Kind hatte, zu rekonstruieren und zu beschreiben. Wir alle tragen ganz viele Gefühle in uns, für die wir früher keine Worte hatten und oft heute auch nicht. Die Kindheit war vergleichsweise idyllisch und keineswegs trostlos, aber von Angst vor dem Vater bestimmt. Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde hätte ich nicht schreiben können ohne das ganz starke Gefühl der Befreiung, wie es in der letzten Szene des Buches dargestellt ist: Der Junge geht nach der Radioreportage nach draußen, steht auf dem Dorfplatz, fühlt sich als Weltmeister, frei und glücklich wie nie, und denkt, alle anderen müssten jetzt auch kommen. Aber wo sind sie? Diese zwei, drei Minuten, in denen nichts passiert und diese Gefühle kulminieren, die sind mir stets im Kopf geblieben. Oder die ambivalenten Gefühle, am Sonntagsmittagstisch zu sitzen oder den Vater predigen zu hören. Ich habe versucht, das alles aus der Situation des verschüchterten Elfjährigen von damals so genau wie möglich zu beschreiben. Das ergibt natürlich kein vollständiges Bild meiner Erziehung oder meiner Vaterbeziehung. Dazu brauchte es noch zwei, drei andere Bücher …

In Ihrer neusten Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“ kommen Sie am Ende zu einer versöhnlicheren Sicht auf Ihren Vater.

F.C.DELIUS: Das stimmt, und mein Vater ist von Leuten aus seinen beiden hessischen Gemeinden, auch von meinen Altersgenossen, ganz anders beschrieben worden, nämlich als jemand, der sehr zugewandt war, schon damals ein gutes Verhältnis zu Jugendlichen hatte, der schon sehr früh ernsthafte Sexualaufklärung leistete, was eigentlich um 1960 nicht üblich war. Das habe ich als Kind damals natürlich alles nicht wahrgenommen. Im neuen Buch wird das Bild sehr differenziert, mit einigen überraschenden Aspekten, die ich hier nicht verraten will.

Sie schreiben, dass Sie irritiert sind von dem Ausdruck „Fußballgott“, den Sie da in der Radioreportage von 1954 hörten. Zucken Sie noch heute zusammen, wenn Sie „Fußballgott“ hören?

F.C.DELIUS: Es sind ja so einige Formulierungen aus dieser Reportage in den deutschen Erinnerungsschatz eingeflossen und haben sich zum Klischee verdichtet, deswegen kann mich das heute nicht mehr erschüttern oder bewegen. Aber für meinen damaligen Horizont als Kind war „Fußballgott“ eine ungeheure Provokation, fast eine Blasphemie.

In der Reportage von Herbert Zimmermann 1954 war ja der deutsche Torwart Toni Turek der „Fußballgott“. Heute hat man den Eindruck, dass Fußball für viele Menschen fast ein Religionsersatz ist. Stimmt das?

F.C.DELIUS: Wenn wir als Kinder Stars anschauen oder uns ihnen nähern, dann ist das eine ganz verständliche, infantile Neigung, denn man will sich mit dem Star identifizieren, also mit Größe, Ruhm, Erfolg. Wenn man diese Neigung als Erwachsener immer noch hat, dann kann es mit dem Erwachsensein nicht so weit her sein. Es sind eher die gesellschaftlichen Verlierer, die sich an die fernen Sieger klammern. Religion verspricht Erlösung, der Fußball Siege, an denen der Fan nicht faktisch, sondern nur emotional teilhat. Religion ist eine private, ja intime Sache, der Fußball ein öffentliches Schlacht- und Geschäftsfeld, wo Milliardäre fußballspielende Legionäre zu Millionären machen, und wir nur Zuschauer sind. Also mit dem Wort Religionsersatz wäre ich da etwas vorsichtiger.

Es scheint aber ja diese Begeisterung für einen Spieler oder eher für einen Verein so eine Art Sinnsurrogat zu sein.

F.C.DELIUS: Bei vielen ist das so. Dass die Menschen Sinn suchen, ist wichtig, und der einfachste Weg ist immer noch der, diesen Sinn mit der Herkunft zu verbinden. Wer aus Köln kommt und den F.C. sinnvoll findet, völlig ok. Wer sich aber zu einem hundertprozentigen Fan oder Ultra entwickelt, der für andere Vereine nur Häme und Prügel hat, dann ist der Sinn doch recht begrenzt. Aber die Menschheit besteht großenteils immer noch aus Herden und Horden. Sinn hat für mich etwas Gesellschaftliches, Ziviles, und dafür bieten die großen Profivereine heute immer weniger den Rahmen. Aber viele Menschen brauchen anscheinend solche Bindungen. Das Leben ist kompliziert und vielfältig und unberechenbar, und als Fußballgläubiger hat man dann zumindest ein Nest, das man überschauen kann.

Viele Äußerungen des Fußballfanlebens haben einen religiösen Touch, zum Beispiel wenn gesungen wird „You’ll never walk alone“ oder wenn Plakate gezeigt werden, wo ein riesiger Jesuskopf über die ganze Tribüne gezogen wird …

F.C.DELIUS: … weil es, und jetzt kommen ich Ihnen doch näher, so eine Art religiöses Verhältnis ist. Ich begebe mich als Fan in eine Gemeinde hinein, zum Beispiel in die Gemeinde Schalke 04. Es ist ja eine Form von Anbetung, wenn ich dahin pilgere. Es wird gesungen, um Tore gebetet. Es sind ja regelrechte Wallfahrten, wenn man ins Stadion geht, so gehen andere auf den Petersplatz - das ist schon sehr verwandt.

Seit der WM in Deutschland 2006 engagiert sich die evangelische Kirche immer mit einem eigenen Programm bei Fußballgroßereignissen. Empfinden Sie das als Anbiederung, wie sich die Kirche gerade zu Weltmeisterschaftszeiten an die Fußballer und an die Fußballfans heranschmeißt?

F.C.DELIUS: Ach, es schmeißen sich ja alle ran, besonders die Medien, selbst das Feuilleton, warum soll die Kirche es nicht auch versuchen? Es nützt nur herzlich wenig, die Schnittmengen sind minimal. Jedenfalls bei Literaturfans und Fußballfans konnte ich das immer wieder feststellen. Trotz der Tatsache, dass nach der deutschen Vereinigung das WM-Endspiel von Bern 1954 zum Gründungsmythos der Bundesrepublik wurde.

Heißt das, dass unsere Gesellschaft zu wenig Mythen hat?

F.C.DELIUS: Nicht unbedingt, aber „Bern 1954“ ist ja ein harmloser Mythos und ein sehr brauchbarer, denn es ist ja nichts Negatives. Negativ aufgeladene Mythen haben wir Deutschen wahrlich genug, aber solche, von denen man einfach sagen kann „O, wie toll!“, gibt es nicht so viele. Wir könnten mehr aktivieren aus unserm historischen Reichtum an Mythen, aber das ist ein anderes Thema.

Wie hat sich Ihre Fußball-Leidenschaft seit 1954 entwickelt? Ihr neues Buch „Die Zukunft der Schönheit“ nimmt als Rahmen auch einen eng begrenzten Raum, den Besuch eines Free-Jazz-Konzertes in New York am 1. Mai 1966. Knapp drei Monate später fand das berühmte WM-Finale England gegen Deutschland statt, das mit dem berühmten „Wembley-Tor“. Haben Sie daran noch Erinnerungen?

F.C.DELIUS: Kaum. Ich habe dieses Endspiel im Fernsehen gesehen, in Berlin, als Student, und ich weiß natürlich, dass es diese berühmte Auseinandersetzung gab, ob das 3:2 ein Tor war oder nicht. Ich hatte 1966 anderes im Kopf, die Fußballnationalmannschaft interessierte mich nicht mehr so, aber ich spielte regelmäßig in einer Kickertruppe von Berliner Künstlern und Schriftstellern - da waren auch manchmal Rudi Dutschke und immer Wolfgang Neuss dabei. Wir gingen sonntags auf abgelegene freie Plätze - zuerst beim Studentenheim am Schlachtensee und später in Wilmersdorf neben der Eisbahn an der Stadtautobahn, aber wir wurden häufig vertrieben, weil wir eben nicht „offiziell“ waren.

Bisher haben Sie nur noch einmal ein Buch geschrieben, das zumindest aus einem Fußball-Sujet besteht. Es heißt „Die Minute mit Paul McCartney“. Sie variieren darin in 66 teilweise sehr humorvollen literarischen Kleinodien eine bunte Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1967, in der steht, dass der Hund von Paul McCartney damals zwei deutschen Studenten, die im Londoner Regent’s-Park Fußball spielen, den Ball wegnimmt, und die beiden kurz mit dem berühmten Beatle zusammentreffen, der sie mit dem Satz „She’s a coward“ („Sie ist ein Feigling“) beruhigt, dann aber vor einer Gruppe weiblicher Fans Reißaus nehmen muss. Was hat Sie bewogen, nochmal den Fußball zu thematisieren, und wie sind Sie auf diese Meldung gestoßen?

F.C.DELIUS: Weil es so passiert ist, also weil es mir passiert ist.

Was? Sie sind wirklich der aus der Meldung?

F.C.DELIUS: Ja, ich war damals in London und bin dort auf diese Weise Paul McCartney begegnet. Was man so schön und schlampig eine wahre Geschichte nennt. Außer einer kleinen Verschiebung des Ereignisses vom Mai auf den März 1967. Aber sonst …

Das hätte ich jetzt nicht gedacht, das haben auch Kritiker nicht gewusst, die das Buch 2005 rezensierten. Gibt es denn wenigstens die Zeitungsmeldung, auf die sich Ihre McCartney-Variationen beziehen, oder haben Sie sich die ausgedacht?

F.C.DELIUS: Alle 66 Varianten hat der Dichter erfunden, wie es sich gehört, natürlich auch die AP-Meldung. Aber rezensiert wurde das Buch in den größeren Zeitungen überhaupt nicht, null und nichts. Es ist ja mein lustigstes Buch geworden, es passte nicht in das gewohnte Delius-Bild, es erschien zuerst in einem kleinen Verlag - das haben alle ignoriert. Heute wird es gern benutzt im Deutschunterricht.

Gibt es überhaupt historisch-reale Fußballspiele, die für Sie in irgendeiner Weise eine solche Bedeutung haben wie das von 1954? Waren Sie nochmal versucht, ein solches Spiel als Rahmen für eine Erzählung zu wählen?

F.C.DELIUS: Nein. Ich will mich ja nicht wiederholen. Außerdem, nach diesem wirklich tiefen Urerlebnis von 1954 kann ich mich nicht erinnern, dass mich ein Fußballspiel nochmals so nachhaltig gefesselt hätte. Viele Leute haben mir erzählt, ihr 1954 wäre 1974 gewesen. Ich glaube, in jedem jungen Leben gibt es nur einmal so eine Situation, in der man richtig bei einem Spiel dabei ist, mit ganzem Leib und mit ganzer Seele und mit der ganzen Person. Danach durchschaut man sich selbst, zumindest in dieser komischen Rolle als Zuschauer.

Der Fußball hat sich sehr verändert, es gibt die irrwitzige Kommerzialisierung der vergangenen Jahrzehnte. 222 Millionen Euro Ablösesumme für Neymar war der bisherige Höhepunkt! Führt das dazu, dass Sie sich dem Fußball fremder fühlen?

F.C.DELIUS: Natürlich, ich kann keine Nähe zu diesen Stars empfinden, ferne Legionäre und Millionäre. Ich bewundere manche Spielzüge, Paraden oder Torschüsse. Aber so what - das ist deren Job. Und es bleibt ein Widerspruch, dass die Vereine unter dem Namen einer Stadt antreten, obwohl höchstens noch einer von 25 Spielern mit dieser Stadt oder der Gegend irgendwas zu tun hat und 24 andere aus dem nationalen und internationalen Großmarkt zufällig gerade in Wolfsburg oder Gelsenkirchen oder Frankfurt gelandet sind.

Ärgert Sie das?

F.C.DELIUS: Nein, das zeigt nur, wie sentimental ich sein kann. Es könnte mir wurscht sein, aber es ist mir merkwürdigerweise nicht ganz wurscht! Ich will nicht, dass mein Hausverein Hertha BSC absteigt. Ich will, dass sie sich anständig irgendwie in der Mitte oder im oberen Drittel aufhalten, natürlich mit Hilfe von Spielern aus Norwegen, Tschechien und von der Elfenbeinküste. Also, das habe ich bei mir noch nicht ganz abgeklärt, warum es mich und mein Heimatgefühl hebt, wenn Hertha BSC siegt - genau wie früher, als der 1. F.C. Wehrda in der Kreisliga siegte.

Wenn man Ihrer Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ glauben darf, ist Ihnen Kirche und Religion doch damals sehr verleidet worden.

F.C.DELIUS: Ich habe durch Vater, Mutter, Großvater, Onkels und Tanten einfach eine Überdosis abbekommen an Religion, aber die hat mich dazu gebracht, dass mein Verstand, hoffe ich jedenfalls, kritisch hellwach wurde und die Liebe zur Sprache geweckt wurde. Natürlich denke ich auch über religiöse Fragen nach. Aber ich kann das nicht, was erwartet wird: glauben. Noch weniger, seit ich mich etwas mit der frühen Kirchengeschichte beschäftigt habe. Welche Lehre wann und unter welchen unchristlichen Umständen von Menschen als göttlicher Glaube durchgesetzt wurde, all das ist schier unglaublich. Nichts gegen christliche Werte, aber viel gegen Paulus, noch mehr gegen Augustinus und die Folgen.

Würden Sie sich als Atheist bezeichnen oder als Agnostiker?

F.C.DELIUS: Wenn schon, dann als heiterer Agnostiker. Atheist hieße ja, ich wüsste genau, dass es keinen Gott gibt. Das ist ja auch schon wieder so eine dogmatische Haltung. Also ich halte es da eher mit dem katholischen Historiker und Philosophen Kurt Flasch, ein großer Kenner der ganzen mittelalterlichen Theologie, und der größte Augustinspezialist. Der hat 2013 ein Buch mit dem Titel geschrieben Warum ich kein Christ bin. Er begründet dies nicht mit üblen Erfahrungen und den Sünden der Kirche, sondern mit den zahlreichen Widersprüchen, die sich ihm in der biblischen Botschaft und in der kirchlichen Dogmatik auftun, und kommt zu dem Schluss, dass er da nicht mehr mitmachen könne. Aber er ist so vom Katholizismus geprägt, dass er sich als Kulturkatholik bezeichnet. In diesem Sinne komme ich mir vor wie ein Kulturprotestant, denn ich kann und will das Protestantische in mir einfach nicht leugnen.

Auch wenn Ihre Erfahrungen mit dem christlichen Glauben sehr ambivalent sind, sehnen Sie sich manchmal danach, einen Glauben zu haben?

F.C.DELIUS: Nein. Aber ich verstehe, dass der Glaube für viele Menschen eine Erleichterung ist. Man hat dann ein Weltbild, in dem bestimmte Dinge gelöst sind, und manche würden es ohne das gar nicht aushalten. Meine früh verwitwete Mutter hätte das Leben ohne ihren Glauben nicht ausgehalten. Das respektiere ich. Aber ich muss fröhlich mit den Widersprüchen leben. Das ist ein bisschen anstrengender, aber es geht nicht anders. Ich kann mich ja nicht verbiegen. Und in meinem Tischgespräch mit Luther, Warum Luther die Reformation versemmelt hat, habe ich ja nicht ohne Grund vom „Paradies des Unglaubens“ gesprochen.

Das Gespräch führten Philipp Gessler und Reinhard Mawick am 23. März 2018 in Berlin.

Interview: Philipp Gessler und Reinhard Mawick

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