Anregend

Entzauberung der Welt
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In seinem neuen Buch versucht Hans Joas nichts Geringeres, als der geläufigen Rede von der Entzauberung eine Alternative entgegenzusetzen

Der Begriff der „Entzauberung“ stellt einen bedeutenden und zugleich schillernden Schlüsselbegriff der Moderne dar. Er geht zurück auf den Soziologen Max Weber und steht für einen linearen geschichtlichen Rationalisierungsprozess, in dem sich unterschiedliche Kulturbereiche wie Politik, Recht und Wirtschaft ausdifferenzieren, und auch die Religion auf ihr eigenes Gebiet zurückgedrängt wird. Darin ist er mit dem Säkularisierungsbegriff verwandt. In seinem neuen Buch versucht Hans Joas nichts Geringeres, als der geläufigen Rede von der Entzauberung eine Alternative entgegenzusetzen: eine alternative Geschichtsdeutung, die neben Entwicklungen der Entsakralisierung auch (Re-) Sakralisierungsphänomene berücksichtigt.

Der zu den renommiertesten Soziologen und Sozialphilosophen zählende Joas, der zugleich einer der profiliertesten Religionstheoretiker der Gegenwart ist, führt diese alternative Geschichte jedoch nur skizzenhaft im letzten der sieben Kapitel dieses Buches durch. Die vorausliegenden Teile fragen vielschichtig nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen neuen Religions- und Sozialgeschichte. Dies macht die rund 500 Seiten aber keineswegs weniger lesenswert.

In den ersten drei Kapiteln geht Joas zunächst der Frage nach, ob Religion überhaupt Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein kann, wenn doch bei jedem Wissenschaftler religiöse oder antireligiöse Motive mit im Spiel sind. Joas widmet sich wissenschaftshistorisch drei Disziplinen, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben: der Geschichte, der Psychologie und der Soziologie der Religion, für die große Denker wie David Hume, William James und Émile Durkheim Pate stehen. Joas kommt zu dem Schluss, dass eine wissenschaftliche Erforschung der Religion trotz vorausliegender religiöser oder antireligiöser Motive gelingen kann. Zugleich bestimmt er Religion als auf individueller Erfahrung beruhend, historisch bedingt, durch Symbole vermittelt und durch soziale Praktiken konstituiert.

Im vierten Kapitel präsentiert Joas die beiden klassischen Syntheseversuche des frühen 20. Jahrhunderts durch den protestantischen Theologen Ernst Troeltsch und durch Max Weber. Dabei hebt er die Bedeutung von Troeltschs Konzeption hervor, die die Bildung von religiösen Idealen „als Wechsel von Sakralisierungs- und Entsakralisierungsprozessen“ in politisch-sozialen Kontexten rekonstruiert. Demgegenüber kritisiert er auf Grundlage einer minutiösen Textanalyse die Unklarheiten von Webers Rede von der Entzauberung, die zu Missverständnissen einlädt. Joas hält Troeltschs abgeschlossenes Programm deshalb für tragfähiger.

Nach Kapiteln zur „Achsenzeit“ und den Gefahren von Prozessbegriffen bietet Joas im letzten Abschnitt die angesprochene Alternativskizze. Dabei erneuert er seine grundlegende These, dass „Menschen in ihrem Zusammenleben wesentlich von Idealen“ geleitet sind, die nicht zuletzt aus religiösen Quellen speisen. Diese können auch Auswirkungen auf andere Bereiche der Gesellschaft haben. Diese Bereiche, wie es die Politik exemplarisch darstellt, behandelt er unter der Perspektive der „Macht“. Deshalb konzipiert er seine Alternative zur Entzauberungsgeschichte als „Geschichte der Fusionen von Religion und Macht“. Sie möchte dem machtstützenden und dem machtkritischen Potential von Religion gleichermaßen Rechnung tragen.

Hans Joas’ groß angelegtes, informatives und höchst anregendes Werk verlangt dem Leser Aufmerksamkeit ab, ist aber in vielerlei Hinsicht ein intellektueller Genuss.

Gregor Bloch

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Foto: Mario Brink

Gregor Bloch

Gregor Bloch ist Pfarrer und theologischer Mitarbeiter des Evangelischen Bundes Westfalen und Lippe. Er wohnt in Detmold.


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