„Ich muss über meine Biografie lachen“

Kurz vor ihrer Pensionierung: ein zeitzeichen-Gespräch mit Margot Käßmann über evangelische Milieus, eine Quote für Frauen in der Kirche und die Freiheit, die vor ihr liegt
Foto: Jens Schulze
Foto: Jens Schulze
Hannover im März 2018. Margot Käßmann kommt mit dem Rad zum Interviewtermin zu einem Cafe in der Innenstadt. Sie zieht ihren pinken Blazer aus, entschuldigt sich für eine minimale Verspätung, macht einen Scherz über rote Ampeln in Hannover, wechselt noch ein paar nette Worte mit der Bedienung. Und dann ist sie bereit für das letzte zeitzeichen-Interview vor ihrem Ruhestand.

zeitzeichen: Frau Dr. Käßmann, Sie hatten offenbar schon als Kind Ihren eigenen Kopf. Sie sind nicht in den Kindergarten gegangen, weil die Schwestern sehr autoritär waren, Sie haben lieber Hose statt Rock getragen und hatten keine Angst vor Autoritäten. Woher kam das?

MARGOT KÄSSMANN: Meine Mutter hat uns so erzogen. Sie war ja gelernte Krankenschwester und hat uns immer gesagt: In der Unterhose sehen sie alle gleich aus. Irgendwie war das ganz entlastend. Und das ist es bis heute. Bei Angriffen erinnere ich mich immer wieder an ihren Spruch.

Ihre Mutter war ebenso wie Ihre Großmutter geprägt durch die Selbständige Evangelische Lutherische Kirche, die einen strengen und traditionellen Glauben predigt. Inwiefern hat Sie das geprägt?

MARGOT KÄSSMANN: Meine Mutter hat uns geliebt, aber auch gefordert. Sie war eine sehr disziplinierte Frau und hat das auch von uns erwartet. Ich habe zuweilen dagegen rebelliert, aber ihre Disziplin hat mich auch geprägt, was mir später sehr geholfen hat. Meine Mutter wollte unbedingt, dass wir Abitur machen. Für meine älteste Schwester war das eine besondere Herausforderung. Sie kam 1961 ans Gymnasium nach Marburg. Dort hat ihr eine Lehrerin gesagt, dass es schlimm um Deutschland stehe, wenn nun schon die Kinder von Tankstellenpächtern aufs Gymnasium gehen. Ich kam sieben Jahre später zu der gleichen Lehrerin und habe mich super mit ihr verstanden. Das gesellschaftliche Klima war zum Glück schon ein anderes geworden.

Ihr Vater hatte eine Tankstelle und eine Kfz-Werkstatt. Was haben Sie von ihm?

MARGOT KÄSSMANN: Mein Vater war ein sehr fröhlicher Typ, und meine Lebensfreude habe ich bestimmt zu großen Teilen von ihm geerbt. Ich war gerne in seiner Werkstatt, das war eine sehr freie Kindheit auf diesem Hof. Der war groß, da waren die Jungs, die Gesellen meines Vaters, da war viel Freiheit und relativ wenig Reglement. Die Mischung aus beidem, die Disziplin meiner Mutter und die Freiheit und Lebensfreude meines Vaters, das war genau richtig für mich.

Das Milieu Ihrer Kindheit wurde Ihnen aber später wieder vorgehalten von dem Systematiker Friedrich Wilhelm Graf.

MARGOT KÄSSMANN: In seinem Buch Kirchendämmerung hat er mir ein ganzes Kapitel gewidmet. Und der Grundton ist derselbe: Wenn schon Töchter von Tankstellenpächtern Bischöfin werden können, dann ist es um den Protestantismus schlecht bestellt.

Hat Sie das verletzt?

MARGOT KÄSSMANN: Ich fand das arrogant und anmaßend, aber verletzt hat es mich nicht. So etwas sagt mehr über Friedrich Wilhelm Graf aus als über mich.

Aber haben Sie aufgrund Ihrer Herkunft manchmal mit der kirchlichen Welt gefremdelt?

MARGOT KÄSSMANN: In bestimmten Kreisen habe ich das schon zu spüren bekommen, dass ich nicht so richtig dazugehöre. Aber mir hat das nichts ausgemacht. Ich bin eigentlich froh, dass ich so mitten aus dem Leben in diesen Beruf gekommen bin und nicht in abgeschotteten Bereichen gelebt habe. Es hat mir doch eher genützt. Viele sagen, dass meine Predigten verständlich sind, weil meine Sprache weniger klerikal ist. Dem Volk aufs Maul schauen, das ist doch gut lutherisch.

Warum ist die evangelische Kirche so bildungsbürgerlich geprägt? Warum kommen Menschen aus anderen Milieus da so selten vor?

MARGOT KÄSSMANN: Ist das wirklich so? Die Theologen aus meiner Generation stammen doch aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus. Sie haben in den Siebzigern Theologie studiert, weil sie die Welt verändern wollten. Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, das waren Motive. Aber vielleicht hat sich da in den vergangenen Jahren wieder etwas geändert. Als ich als Bischöfin die Predigten eines Vikarkurses gelesen habe, hatte ich schon den Eindruck, dass viele der angehenden Pfarrer und Pfarrerinnen eher aus dem frommen Milieu kommen.

Bleibt Kirche also eine Veranstaltung für die Mittelschicht, die die Menschen am Rande der Gesellschaft gar nicht mehr erreicht?

MARGOT KÄSSMANN: Wenn ich im kirchlichen Bereich weiterarbeiten würde, wäre das ein Riesenthema für mich. Ich bin mal als Bischöfin hier in Hannover zur Marktkirche gekommen. Vor der Tür stand ein Verkäufer der Obdachlosenzeitung, der mir zurief: „Frau Käßmann, sagen Sie denen da drinnen, dass sie nach dem Gottesdienst eine Zeitung bei mir kaufen können.“ Ich schlug ihm vor, mit in den Gottesdienst zu kommen und selber für seine Zeitung zu werben. Er sagte nur, dass das nichts für ihn sei. Das zeigt unser Problem: Wir sind sehr gut in der Arbeit für Obdachlose, aber sie haben nicht das Gefühl, dass der Gottesdienst eine Veranstaltung für sie sein könnte. Die Obdachlosen, Alleinerziehenden, Alten, Behinderten, Kinder aus schwierigen Verhältnissen - die kommen in unsere sozialdiakonischen Einrichtungen, aber viel zu selten in unsere Gottesdienste. Das muss sich ändern. Denn es geht in der Bibel doch ganz häufig um ihre Themen.

Aber was muss sich konkret ändern?

MARGOT KÄSSMANN: Der Schlüssel ist, dass sich in der Gemeinde Haupt- und Ehrenamtliche gemeinsam darüber Gedanken machen, wer eigentlich in ihrem Umfeld lebt und wie sie mit diesen Menschen Gottesdienst feiern wollen, so dass sie Lust haben, da zu sein. Dabei geht es auch um die Musik, um die Sprache, um die Begrüßung. Die Kirche kann am Sonntag wieder ein sozialer Ort werden, an dem du gerne bist, dich willkommen fühlst und Lebensfreude spürst.

Aber Lebensfreude kann man in der theologischen Ausbildung nicht lernen.

MARGOT KÄSSMANN: Es hängt auch nicht nur an den Pfarrerinnen und Pfarrern. Aber in der Tat: Viele spüren einen hohen Druck durch die universitäre Ausbildung, einen Text vor allem sehr, sehr richtig auszulegen. Ich wünschte mir schon, dass sie sich freier fühlten, von der Kanzel mit den Menschen zu reden. Für mich war immer Ernesto Cardenal ein Vorbild, der mit den Bauern von Solentiname die Bibel gelesen hat. Die konnten nicht lesen, die können nicht schreiben, aber die Bibeltexte sprachen sie an, und sie verknüpften sie mit ihrem Leben.

Wird sich denn etwas ändern, weil immer mehr Frauen auf der Kanzel stehen?

MARGOT KÄSSMANN: Manchen macht diese Perspektive ja Angst, und sie warnen vor der angeblichen Verweiblichung der Kirche und einer Entwertung des Amtes, weil Frauenberufe nicht so viel wert seien. Dabei wurde die Kirche immer von Frauen getragen. Sie engagieren sich ehrenamtlich und haben immer alles getan, damit die Kirche am Leben bleibt. Deshalb ist es ja richtig und wichtig, dass Frauen in der Kirche auch Leitungsfunktionen übernehmen, weil es vielleicht zu mehr Lebensnähe führt.

Sie waren als Frau in kirchlichen Leitungsämtern Pionierin: Die erste Landesbischöfin, die erste Generalsekretärin des Kirchentages, die erste Ratsvorsitzende der EKD.

MARGOT KÄSSMANN: Ich muss ein wenig selber über meine eigene Biografie lachen. Ich habe mir ja nicht von Anfang vorgenommen, diesen Weg zu gehen. Es war eher so, dass ich gefragt wurde, ob ich mir das jeweilige Amt vorstellen könnte. Allerdings habe ich dann nicht gleich nein gesagt. Das hängt vielleicht auch mit der Erziehung durch meine Mutter zusammen. Warum solltest du das nicht können? Auch meine Großmutter hat mich bestärkt, als ich Pfarrerin wurde und deswegen kritisiert wurde, weil ich ja auch Mutter war. Da hat meine Großmutter gesagt: Wem der liebe Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch die Kraft, es auszufüllen.

Sie hatten nie Angst vor den Aufgaben und der besonderen Beobachtung, unter der Sie als Frau standen?

MARGOT KÄSSMANN: Doch, zum Beispiel beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Vancouver 1983. Da galt eigentlich eine Jugendquote, wonach die EKD einen von ihren sechs Plätzen im Zentralausschuss für einen Menschen unter 30 hätte bereitstellen müssen. Das hat der damalige Ratsvorsitzende und hannoversche Landesbischof Eduard Lohse abgelehnt. Die Jugendversammlung hat mich dann aus dem Plenum heraus nominiert, gegen die Autorität Lohses. Da hatte ich schon Angst. Und gleichzeitig habe ich zu mir gesagt: Stell dich nicht so an, warum eigentlich nicht? Aber dass ich mal Lohse im Amt nachfolge, hätten wir wohl beide nicht geglaubt.

1999 wurden sie zur Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche gewählt, also kurz vor Beginn des 21. Jahrhunderts. Welche Rolle spielte es da noch, dass Sie eine Frau sind?

MARGOT KÄSSMANN: Eine überraschend große, vor allem, weil ich Mutter von vier Kindern war. Das hätte ich nicht erwartet. In jedem Interview kam die Frage, wie ich das mit den Pflichten einer Landesbischöfin vereinbaren will. Mein Mitbewerber hatte fünf Söhne, aber wie er seine Vaterpflichten mit dem Bischofsamt unter einen Hut bekommen will, wurde er nie gefragt. Dann gab es ein Foto von mir in der Zeitung, joggend am Maschsee. Daneben stand ein Bild von Hanns Lilje, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Bischof in Hannover war, mit Mitra und Krummstab. Die Überschrift: Darf so eine Bischöfin aussehen? Ich musste eben auch gegen Bilder kämpfen…Und dann kam die Begegnung mit den Russisch-Orthodoxen. Die haben mir nicht mal die Hand gegeben, nachdem ich Bischöfin war. Für die war ich ein rotes Tuch. Sie haben ja auch die Beziehung zur EKD abgebrochen, als ich zur Ratsvorsitzenden gewählt wurde.

Sie haben sich als Bischöfin und Ratsvorsitzende dafür eingesetzt, dass mehr Frauen leitende Kirchenämter übernehmen. Es gibt eine EKD-Präses, mehrere Bischöfinnen, und auch in der kirchlichen Verwaltung werden immer mehr leitende Posten von Frauen übernommen. Mission erfüllt?

MARGOT KÄSSMANN: Na ja, zwei weibliche leitende Geistliche sind bei 20 Landeskirchen noch nicht sehr viel. Da könnte noch mehr passieren. Aber es ist auch so, dass Frauen oft weniger dazu bereit sind, in viel zu vielen Gremien und Kommissionen ihre Lebenszeit zu verbringen. Doch das bringen Führungspositionen immer mit sich. Ich gebe zu, ich habe bei so mancher Sitzung auch gedacht, dass ich meine Lebenszeit gerade verschwende. Wer Pfarrerin wird, will doch eigentlich nahe an den Menschen sein, sie begleiten in Höhen und Tiefen ihres Lebens. Und nicht ständig in irgendwelchen Gremien sitzen.

Wie könnte man das ändern?

MARGOT KÄSSMANN: Wir sollten an den Strukturen arbeiten. Wie können wir Beteiligung und Leitung so möglich machen, dass Sitzungszeit reduziert wird? Welche Kommissionen brauchen wir wirklich, und wer muss darin sitzen? Da lässt sich sicher noch viel straffen.

Wie wäre es mit einer Quote?

MARGOT KÄSSMANN: Ich bin dafür, solange Männer in den Leitungspositionen der Kirche noch so deutlich in der Überzahl sind. Bei den Bischofsämtern ist die Entscheidung natürlich den Synoden überlassen. Aber zum Beispiel in der mittleren Ebene liegt es in der Hand der Landeskirche, welche Kandidaten oder Kandidatinnen vorgeschlagen werden. Es könnten ausschließlich Kandidatinnen für die mittlere Leitungsebene vorgeschlagen werden, bis 50 Prozent der Stellen von Frauen besetzt sind. Das wäre ein denkbarer Weg.

Gegenwärtig wird über die Frage diskutiert, wie sehr sich Kirche politisch äußern sollte. Was denken Sie?

MARGOT KÄSSMANN: Kirche kann gar nicht unpolitisch sein, weil sie mit dem Leben der Menschen zu tun hat. Und das ist politisch. „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.“ (3. Mose 19,33) Wie soll ich denn über so einen Satz unpolitisch predigen? Oder „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ (Sprüche 14,34). Hat das nichts mit realer Gerechtigkeit zu tun? Kirchliche Arbeit und Verkündigung wird immer eine politische Dimension haben. Wobei nicht jede Predigt zwingend politisch ist. Aber zu meinen, die Kirche ließe sich in eine private Nische abdrängen, das halte ich für einen Fehler. Dann wird sie zur reinen Moralinstitution.

Aber einer der Vorwürfe in der gegenwärtigen Debatte lautet doch, dass die Kirche viel zu moralisch argumentiert. Etwa bei dem Flüchtlingsthema. Da würden die Ängste der AfD-Wähler nicht ernst genommen.

MARGOT KÄSSMANN: Diesen Vorwurf halte ich für Unfug. Gerade die Menschen in den Kirchengemeinden landauf landab wissen doch um die Probleme, die sind ja nicht naiv. Sie sehen die Integrationsschwierigkeiten, aber sie sagen nicht: Deshalb schieben wir alle ab. Sondern sie sagen: Wir müssen der Herausforderung gerecht werden. Das sind Flüchtlinge, um die haben wir uns zu kümmern. Die Kirche hat gerade bei dem Thema Flüchtlinge gezeigt, dass sie gelernt hat aus ihrer Geschichte und dass sie sehr klar ist in ihrer Haltung. Das mag manchen ärgern, ich finde das gut.

Es geht doch aber um die generelle Frage, ob von kirchlichen Kanzeln nicht viel zu oft politisch gepredigt wird und der geistliche Impuls dabei zu kurz kommt.

MARGOT KÄSSMANN: Ich kann das eine ja nicht vom anderen trennen. Die Kirche redet auch nicht dauernd über Flüchtlinge und Windenergie. Wir reden von der biblischen Botschaft her auch über das Altern in Würde, über Sterbehilfe, über Palliativmedizin, die Hospizbewegung, die Frage des Bluttests wegen Down-Syndrom bei ungeborenen Kindern und so weiter. Wir sind mit unserer kirchlichen Arbeit ganz nah bei den Menschen. Taufen, trauen, konfirmieren, beerdigen…das machen wir doch auch alles.

Aber steckt hinter dieser Kritik nicht auch das Gefühl, dass die Kirche nicht mehr klar genug über den Glauben spreche?

MARGOT KÄSSMANN: Wer das denkt, sollte ein Jahr lang jeden Sonntag in den Gottesdienst gehen. 52 Gottesdienste, dann sprechen wir uns wieder. Da werden drei Bibeltexte gelesen. Da werden die Gesangbuchlieder gesungen. Da werden Gebete gebetet. Das ist dort alles zu finden - auch die Entschleunigung, nach der sich viele so sehnen. Es geht doch gar nicht immer um Politik. Es geht um die Sorgen der Menschen, um Arbeitslosigkeit, um Hektik, Stress, das ganze pralle Leben und das, was die Bibel dazu sagt.

Macht Ihnen der Bedeutungsverlust der Kirche in der Gesellschaft Sorgen?

MARGOT KÄSSMANN: Da halte ich es mit Luther. Wir sind es nicht, die die Kirche erhalten, unsere Vorfahren waren es nicht, unsere Kinder werden es nicht sein, es ist Gott, der die Kirche erhält. Die Kirche wird kleiner werden, sie wird sich verändern müssen. Wir können aber noch nicht genau sagen, wie. Doch die Menschen, die zur Kirche gehören, werden diesen Glauben, diese Tradition weitertragen, vielleicht in anderen Formen als wir sie kennen. Die Kirche wird sich auch verändern durch die Menschen aus anderen Ländern, die in unsere Kirchengemeinden kommen. Aber die Menschen werden auch in Zukunft nach Sinn suchen.

Die Kirche ist aber nicht mehr allein mit ihrem Angebot der Sinnstiftung.

MARGOT KÄSSMANN: Stimmt, es gibt auch dafür mittlerweile einen Markt, und die Kirche muss stärker als früher um Mitglieder werben. Einfach zu sagen: „Ihr Schäfchen kommt alle am Sonntag um zehn Uhr in den Gottesdienst“, reicht nicht. Sie muss die biblische Botschaft sozusagen auf die Straße bringen. Im Rahmen des Reformationsjubiläums haben wir da gute Erfahrungen gemacht. Auch durch die wachsende Zahl der Muslime in Deutschland wird sich etwas ändern. Viele blicken ja manchmal neidisch auf sie, weil sie genau zu wissen scheinen, was sie glauben, und in ihrer Religion beheimatet sind. Vielleicht bringt das manche Christen auch zu der Frage, woran sie eigentlich glauben.

Vor allem in den Ländern des Südens wächst der Zahl der Christen. Könnte das Impulse für die Kirche in Europa bringen?

MARGOT KÄSSMANN: Es wäre auf jeden Fall sinnvoll, wenn wir uns theologisch öffnen würden und nicht nur die deutsche Theologie im Blick haben. An jeder Universität in der Welt, in der ich war, werden Barth, Bultmann oder Bonhoeffer gelehrt. Aber wo finden wir in den hiesigen Bibliotheken Bücher über afrikanische oder indische Theologie? Bei uns ist richtige Theologie immer noch die deutsche Theologie. Da würde ich mir mehr Offenheit in den hiesigen Fakultäten wünschen.

Sie haben 35 Jahre lang als Theologin gearbeitet. Haben Sie diese Berufswahl jemals bereut?

MARGOT KÄSSMANN: Nie, denn Pfarrerin zu sein, ist ein toller Beruf. Du bist nie so nah bei den Menschen wie bei einer Beerdigung. Wenn da keiner mehr Worte hat, kannst du auf die alten Worte der Bibel zurückgreifen. Du brauchst keine Betroffenheitsfloskeln, die dir gerade so einfallen, sondern kannst einen alten Psalm sprechen, der die Menschen berührt und ihnen Kraft gibt, so wie er schon vielen vor ihnen Kraft gegeben hat. Ich habe auch immer gerne gepredigt, habe das, was ich gemacht habe, immer sehr, sehr gerne gemacht. Insofern bin ich sehr zufrieden mit meinem Berufsleben. Mit meinem Privatleben übrigens auch, weil ich vier tolle Töchter habe, die Enkelkinder fünf und sechs unterwegs sind. Mir geht es sehr gut.

Auch wenn Sie an Ihren Rücktritt als EKD-Ratsvorsitzende denken? Das war doch eine große Niederlage.

MARGOT KÄSSMANN: War es eine Niederlage? Da bin ich mir mittlerweile nicht mehr sicher. Ich habe zwei Aktenordner mit den Zeitungsartikeln, die damals geschrieben wurden. In einem steht: Vielleicht hat Frau Käßmann mit ihrem Rücktritt der evangelischen Kirche langfristig einen größeren Dienst erwiesen, als wenn sie sechs Jahre Ratsvorsitzende geblieben wäre. Vielleicht ist das so. Wenn ich ganz viel Zeit habe, denke ich noch einmal darüber nach. Auf jeden Fall war es die scheußlichste Situation in meinem Berufsleben. So etwas wünsche ich keinem. Aber mir war immer klar, ich bin nicht nur Ratsvorsitzende. Auch ohne hohes kirchliches Amt ist mein Leben nicht sinnlos oder leer. Das hat mir schon sehr geholfen.

Schmerzt die Erinnerung an den Rücktritt noch?

MARGOT KÄSSMANN: Nein. Aber ich habe bis heute ein schlechtes Gewissen gegenüber allen, die mich damals in dieses Amt gewählt haben. Mit großer Mehrheit haben die eine Frau gewählt, eine geschiedene noch dazu. Für manche war das ja ein Riesenmakel. Und dennoch hat mir die Synode diesen riesigen Vertrauensbeweis entgegengebracht. Diesen Menschen gegenüber habe ich ein schlechtes Gewissen. Aber damit muss ich leben.

Sie wurden mehrmals als mögliche Bundespräsidentin gehandelt. Hätte Sie das nicht gereizt?

MARGOT KÄSSMANN: Es hat mich geehrt, dass mein Name genannt wurde. Aber das politische Parkett ist knüppelhart, und ich hätte nur begrenzte Lust, mich der Art und Weise auszusetzen, wie mit Politikern und Politikerinnen umgegangen wird. Zudem bin ich nicht sehr diplomatisch, und habe auch keine Lust, es zu sein. Und dann muss man mit militärischen Ehren Gäste empfangen. Nein, das ist alles nicht meins.

Aber was kommt in den nächsten Jahren?

MARGOT KÄSSMANN: Ich freue mich einfach auf die Freiheit, dass ich machen kann, was ich will. Was für ein Privileg! Ich gebe im Moment alle Schirmherrschaften, Mitgliedschaften, Herausgeberschaften, auch die bei zeitzeichen, ab. Ich mache tabula rasa und nehme von Juni bis Dezember keinen öffentlichen Termin an. Dann schaue ich, wie es mir geht und wofür ich mich engagieren will. Vielleicht engagiere ich mich auch gar nicht mehr? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen…

Wir auch nicht. Zumal ja noch vierzig Jahre kommen können.

MARGOT KÄSSMANN: Nein, die kommen nicht, und ich bin mir dessen sehr bewusst. Ich habe seit kurzem eine Wohnung, die ist barrierefrei, da kann ich später mit dem Rollator rein und raus. Ich habe meine Patientenverfügung und eine Betreuungsvollmacht hinterlegt, ich habe mein Grab ausgesucht, ich habe meinen Kindern alles aufgeschrieben, damit sie genau Bescheid wissen. So bin ich vorbereitet, wenn es losgeht auf die letzte Reise. Als Pfarrerin habe ich viele Menschen erlebt, die nicht wussten, ob die Mutter jetzt eingeäschert werden wollte oder nicht. Die haben nie darüber geredet. Deshalb habe ich alles aufgeschrieben.

War der Gedanke an den eigenen Tod bei Ihnen schon immer so präsent?

MARGOT KÄSSMANN: Mir war immer bewusst, dass meine Lebenszeit begrenzt ist. Du bekommst ein Stück Zeit geschenkt und musst sehen, dass du sie nutzt. Ich habe zu meiner Mutter immer gesagt, ich möchte kein langweiliges Leben haben. Und das war es auf gar keinen Fall. Es war bislang ein gutes, volles Leben. Und jetzt möchte ich mich entschleunigen. Meine Tochter hat neulich zu mir gesagt: Mama, beeil dich. Da habe ich gesagt, ich beeile mich schon mein ganzes Leben. Dazu habe ich keine Lust mehr. Ich muss nicht mehr um sechs Uhr aufstehen, kann in Ruhe ein Buch schreiben. Auf solche Freiheiten freue ich mich sehr.

Wird der Glaube leichter im Alter oder schwerer?

MARGOT KÄSSMANN: Fragen Sie mich das in zehn Jahren noch einmal. Es hilft auf jeden Fall, sich von Kind an einzufinden in diesen Glauben. Dann zweifelst du, dann gibt es Auseinandersetzungen, aber du bist doch gehalten und getragen in diesem Glauben. Ich habe meine Mutter sterben sehen, meine Großmutter auch … die haben ihr Leben zurückgegeben in Gottes Hand, ohne Klage, in Frieden losgelassen. Es ist gut, wenn ein Mensch so sterben kann.

Das Gespräch führten Philipp Gessler und Stephan Kosch am 21. März in Hannover.

Interview: Philipp Gessler und Stephan Kosch

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