Schalke unser

Theologische Vermessungen eines Fußballbegeisterten
„Locali“ - hier sitzt die Heimmannschaft. Schnappschuss des Autors in der italienischen Ortschaft Bolgheri (Toskana). Foto: Peter Noss
„Locali“ - hier sitzt die Heimmannschaft. Schnappschuss des Autors in der italienischen Ortschaft Bolgheri (Toskana). Foto: Peter Noss
Fußball und Theologie - was haben sie gemeinsam? Peter Noss ist promovierter Praktischer Theologe und hat sich viel mit dem Zusammenhang dieser beiden Größen beschäftigt. Der Fußballfan ist seit 2013 Pfarrer für Ökumene im hessischen Dekanat Wetterau und beschreibt, was ihn am Fußball so fasziniert.

Neulich wollte ich auswandern. Nicht in ein anderes Land - in eine andere Sportart. Vom Fußball zum Eishockey. Ein Kollege hatte mich eingeladen zum Zweitliga-Spiel des ESC Bad Nauheim gegen den Traditionsclub vom SC Riessersee. Es war kalt in der Halle, aber ein waches, friedliches Publikum sah ein begeisterndes, rasantes Spiel. Die Fans intonierten ein „Halleluja“ und sangen von der „großen Liebe“. Die Heimmannschaft gewann 5:2. Auf dem Weg zur Eishalle keine Polizei, keine Aggressionen, kein Stau. Vor Ort leckere Bratwurst, gute Stimmung, verschiedene Milieus im Austausch. Und wenige Tage später dieser nicht für möglich gehaltene Erfolg der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft bei den Olympischen Winterspielen in PyeongChang: mit Glaube und Mut zu Silber. Mein Interesse ist geweckt.

Warum also noch Fußball? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen begeistert mich der Fußball seit meiner Kindheit, Bolzplatz inklusive. Er schreibt unglaubliche Geschichten, die sich im kollektiven Gedächtnis einprägen. Die Weltmeisterschaft von 1954 habe ich selbst nicht erlebt, aber der Geist des „Wunders von Bern“ ist noch lebendig: „... und Rahn müsste schießen... Tor, Tor, Tor ... das Spiel ist aus“. Gänsehaut pur. In einem Frankfurter Retro-Theater gibt es Original-Filmaufnahmen von damals mit passender Live-Musik, es gibt das Buch von Friedrich Christian Delius („Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“) und den Film „Das Wunder von Bern“. 1974 und 2006, jeweils die WM im eigenen Land, drei Sommermärchen mit Jürgen Klinsmann, Jogi Löw & Co, mein Vater hat noch die Tonbandaufnahme von Gerd Müllers Siegtreffer 1974 in München. 1990 und 2014 Titelgewinn zwei und drei, das historische 7:1 gegen Brasilien, der sich aufopfernde Bastian Schweinsteiger und das Siegtor von Mario Götze auf Vorlage durch André Schürrle im Endspiel gegen Argentinien. Nicht zu vergessen der unerwartete Sieg beim Confed-Cup 2017. Und der nonchalante Jogi Löw peilt mit seinem bärenstarken Kader für dieses Jahr in Russland die Titelverteidigung an. Schaun mer mal …

Ein zweiter Grund ist dieser: Stadien sind Orte der Faszination und der (Selbst-)Transzendenz. Das gilt nicht nur, aber besonders für den Fußball. Es ist ja kein Zufall, dass es hier zahlreiche Anklänge an religiöse Praktiken gibt. Die Inszenierungen der Fans sind häufig nichts anderes als säkulare Liturgien. Auch die Spieler auf dem Rasen betreten mit Gesten (Bekreuzigung, Kniefall, Gebetshaltung) Räume der Transzendenz. Fußballereignisse sind im kleinen wie im großen Spiel sozialethisch interessant, sie enthalten Bekenntnisse und Beschwörungsformeln. Der religiöse Charakter des Fußballs wird geprägt durch das ausgefeilte Spiel an sich, bei dem alle Ordnungen infrage gestellt werden, die außerhalb des Spielereignisses gelten. In dem unendlich variablen Spiel mit dem weltrunden Ball scheint immer wieder einmal etwas Überirdisches, Galaktisches ... Und als Thema in einer Predigt lässt sich der Fußball aufgreifen, nicht nur, wenn es um den Umgang mit Siegen und Niederlagen geht, sondern auch in Bezug auf den Kampf mit dem großen Feind, dem Tod.

Abpraller, Abspiel, Lattentreffer

Es gibt keine andere Sportart mit solcher Breitenwirkung, in keinem anderen Bereich so viele Vereine und Mannschaften zwischen Kreisklasse und Champions-League. Das liegt nach wie vor an der Faszination des Spiels mit dem Ball. Fußball macht Spaß - auf dem Platz und auf den Rängen. Da ist etwas, das sich der Machbarkeit entzieht und fasziniert. Man kann das Spiel als eine Art von Kommunikation zwischen zwei Mannschaften und innerhalb der Teams beschreiben, bei der das Spielgerät eine besondere Rolle einnimmt: Der Ball entwickelt eine eigene, manchmal unkontrollierbare Dynamik, die von den Spielern immer wieder eingefangen werden muss. Die auf das Spielgerät einwirkenden Kräfte sind nur bis zu einem gewissen Grad steuerbar. Gleichzeitig benutzen die Spieler den Ball als Kommunikationswerkzeug, um Botschaften an die Mitspieler, Gegner, Schiedsrichter oder das Publikum zu senden. Zudem behält das sogenannte Spielen ohne Ball immer auch den Bezug zum Ball. Im Spiel entwickeln sich immer wieder unvorhersehbare Situationen, auf die Spieler reagieren müssen: die Möglichkeit zum Torschuss nach einem Abpraller, das unglückliche Abspiel, das zum Ballverlust führt, der Lattentreffer. Gleichzeitig können die Teams durch Planung und Training Strategien entwickeln, um in diesem zugleich symbolischen und realen Kampf an Macht und Herrschaft zu gewinnen, wie es der Philosoph Gunter Gebauer beschreibt. Die Zuschauer nehmen ebenfalls Einfluss: Sie unterstützen ihr Team mit Gesängen und Rufen, sie reagieren auf die Situationen im Spiel, sie regen sich auf und kritisieren ihre Idole.

Hinzu kommt die besondere Rolle der Schieds- und Linienrichter. Sie müssen darauf achten, dass die vom „International Football Association Board“ festgelegten und international gültigen Regeln auf dem Platz und in seinem Umfeld eingehalten werden. Die Regeln sind so etwas wie ein ewiges „Wenn-dann“-Gefüge, schreibt der Literaturkritiker und Schiedsrichter Christoph Schröder, an denen sich zu reiben zum Leben des Fußballfans gehört. Jüngst hinzugekommen sind die Torlinientechnik und der Videobeweis - wichtige Themen auch auf der Tribüne, wenn es die eigene Mannschaft betrifft. Und auf Situationen von Unfairness reagieren die Fans äußerst sensibel …

Gesänge und Gebete

Die Fans in den Stadien und an den Bildschirmen, beim sogenannten Public Viewing, in den Kneipen und in den Fan-Shops werden wieder das Rückgrat der Veranstaltungen rund um die WM 2018 sein. Ohne Fans hätten die Mannschaften und Spieler einen äußerst geringen Stellenwert. Die Fans sind zuständig für die Choreografien vor und während der Spiele und Turniere. Sie können der „12. Mann“ hinter der Mannschaft sein, auch bei einem großen Wettbewerb. Sie sind es auch, die durch ihre Gesänge und Gebete die spirituelle Dimension des Fußballs mitgestalten. Wenn sie nicht im Stadion sitzen, dann vor dem Fernseher zuhause oder im Gemeindehaus, auf einem öffentlichen Platz mit Leinwandspektakel. Die Erwartungen der Fans sind groß. Sie geben ihr Bestes - und erwarten dafür einen Ausgleich, eine Belohnung. Die Enttäuschung kann natürlich auch umschlagen in Überidentifikation, in das Überschreiten von moralischen Grenzen, in Gewalt. Da kann die Kirche eine wichtige Rolle spielen, wenn sie sich beispielsweise in Fanprojekten engagiert.

Der Fan kennt zahlreiche Rituale. An den Spieltagen verwandelt er sich zu einem alter ego, wenn er seine passende Kleidung anlegt und sich mit den Insignien seines Vereins, seines Teams schmückt - das Alte vergeht, neues ist geworden. Wer kennt nicht das Lied „You’ll never walk alone...“, immer wieder ist auch ein Halleluja zu hören oder sogar ein „Schalke unser“. Kein Wunder, dass die Profanisierung durch Auftritte von Schlagerstars wie Helene Fischer in der Halbzeitpause des DFB-Pokalendspiels 2017 vehement abgelehnt werden. Das ist kein Zufall. Denn die Mysterien finden längst nicht mehr nur in den Kirchen, sondern in den Theatern, Museen und Stadien statt. Menschen fühlen sich magisch angezogen von den modernen Tempeln des Fußballs. Die Kirchen haben sich ihrerseits dem Fußball angenähert, indem sie Kapellen in Stadien eingerichtet haben: in den Arenen auf Schalke, in Frankfurt und Berlin und nun auch in Wolfsburg. Sie wollen verstanden werden als religiöse Orte in besonderer Umgebung - nicht als Orte der Beschwörung und des Aberglaubens. In dieser Weise sind sie Vorbild für den notwendigen Dialog zwischen Kirche und Sport.

Und schließlich gibt es noch einen dritten Grund, warum ich dem Fußball verbunden bleibe: weil ich diesen Sport nicht den Gierigen und Törichten überlassen will, dem Schicksal vom übertriebenen Kommerz, von der verlorenen Unschuld. Das kann einem den Spaß bisweilen gründlich verderben. Bei der WM in Argentinien 1978 haben sie alle mitgemacht, obwohl in diesem Land zu dieser Zeit die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden. Nachfragen und Kritik waren nicht erwünscht, obwohl die Fußballstadien Orte von Repression und Folter werden konnten. Die Bewerbung für die WM 2006 ist nach den Recherchen von Juristen und Journalisten alles andere als sauber gewesen. „Kaiser“ Franz Beckenbauer wurde neben vielen anderen zur tragischen Figur. Im Rückblick auf die WM in Brasilien ist auch von „weißen Elefanten“ die Rede, von Stadien, die dem Verfall überlassen sind. Sepp Blatter ist inzwischen abgelöst, aber das problematische System funktioniert weiter, der neue Chef heißt Gianni Infantino. Die FIFA kann sich ebenso wenig überzeugend von dem Verdacht befreien, ein Hort von Gier und Korruption zu sein wie das Internationale Olympische Komitee (IOC). Die Vergabe der WM an Katar war skandalös und von Korruption geprägt, die Spielbedingungen werden gesundheitsgefährdend sein, von den Arbeitsbedingungen vor Ort auf den Baustellen ganz zu schweigen. Dazu haben die Kirchen etwas zu sagen, dazu sollten sie immer wieder den Diskurs mit den Organisationen des Sports suchen zu zentralen ethischen Themen wie Menschenrechte, Gerechtigkeit, Gewalt oder Naturschutz.

Der Fußballbetrieb braucht also an manchen Stellen dringend Reformen und Veränderungen. Doch nicht alle sind als gut zu bewerten. Demnächst wird die Qualifikation zu den Europameisterschaften als Nationencup ausgetragen - mehr Spiele, mehr Belastung für die Spieler, verbunden mit einer höheren Verletzungsquote. In der Bundesliga wird jetzt auch am Montag gespielt, obwohl viele Fans (und nicht nur die sogenannten Ultras) dagegen sind. Und sie haben gute Gründe: Es wird irgendwie alles inflationär und beliebig den Interessen der Wirtschaft untergeordnet, nicht jeder kann sich die Reisen oder den Besuch beim Auswärtsspiel leisten. Spielertransfers erzielen astronomische Summen, Weltstars sind in dubiose Steuersparpraktiken verwickelt. In der griechischen Liga stürmt der Fußballclub-Besitzer mit seiner Waffe auf das Spielfeld, weil er mit der Entscheidung des Schiedsrichters nicht einverstanden ist, worauf der gesamte Liga-Betrieb unterbrochen wird. Oliver Kahn macht Werbung für einen Online-Wettanbieter. Rechte und Hooligans unterwandern Fanblocks. Daten von Fans werden in umstrittener Weise gesammelt und weitergegeben. Und es gibt noch viele andere dunkle Flecken auf dem Trikot des Fußballs, die der Aufarbeitung harren.

Bei vielen großen Turnieren der vergangenen Jahre waren die Zuschauerplätze nur gefüllt, wenn die Heimmannschaft oder ein Favorit auflief. Sportliche Großveranstaltungen mit höchsten Ansprüchen sind keine Garantie für volle Stadien, die zudem unter bisweilen fragwürdigen Umständen errichtet werden. Hinzu kommt die politische Großwetterlage. Die Anschläge auf das Stadion in Paris im November 2015 und den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund im April 2017 sind nicht wirklich verarbeitet. Russland will die WM zur Verbesserung seines Ansehens in der Welt nutzen. Die Briten haben nach der Affäre um den Anschlag auf den russisch-britischen Doppelagenten bereits angekündigt, keine ranghohen Vertreter zum Turnier zu schicken. Der Sportbeauftragte der EKD, Kirchenpräsident Volker Jung, äußerte sich zwar zurückhaltend zu einem möglichen Boykott („Ultima Ratio“), kritisierte jedoch den Weltfußballverband im Blick auf die Vergabepraxis von Großveranstaltungen und forderte Konsequenzen bis hin zum möglichen Entzug eines Turniers. Die nationalen Fußballverbände sieht er genauso in der Verantwortung wie die Politik. Joachim Löw betonte, sich nicht instrumentalisieren zu lassen: „Egal wo wir spielen, stehen wir immer für unsere Werte ein. Werte wie Vielfalt, Offenheit, Toleranz.“

Nicht genug getan

Das klingt alles so, als wäre man im Diskurs auf Augenhöhe. Aber ist das wirklich so? Seit der WM 2006 im eigenen Land hat sich auf Seiten der Kirchen nicht genug getan. Gut, es gibt (ökumenische) Gottesdienste zum Auftakt von Bundesliga-Saison (z.B. in Gelsenkirchen) und WM-Turnier (z.B. in Frankfurt), es gibt interreligiöse Fußballspiele (z.B. in Dortmund und Berlin). Aber die notwendigen ethischen Diskurse müssen intensiver werden - in der einen wie in der anderen Richtung, denn die Kirche kann einerseits vom Fußball und seiner Dynamik lernen, von den Kraftfeldern der Liebe zum Spielgerät und der Ästhetik des Spiels, die hier entfaltet werden. Andererseits ist der Sport insgesamt als ein wesentliches Handlungsfeld einer kritischen „Öffentlichen Theologie“ zu betrachten, bei dem der Fußball eine zentrale Rolle einnimmt - nicht nur, weil wir ihn lieben und wieder finden wollen.

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Peter Noss

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