Irrtümer auf dem Weg zur Wahrheit
Eine kritische Gruppe katholischer und evangelischer Christen und Christinnen hat 1968 in Köln das Politische Nachtgebet gegründet. Es war der Versuch, gesellschaftliche Gegebenheiten in einem Gottesdienst kritisch zu bedenken und zu überlegen, was zu tun und wogegen Widerstand zu leisten sei. Themen dieser Gottesdienste waren etwa Stadtplanung, Strafvollzug, Entwicklungshilfe, der Vietnamkrieg, Diktatur des Kapitals, Demokratie in der Kirche und vieles andere. Die Gruppe kam aus unterschiedlichen links-politischen Lagern: linke spd, linke cdu, Marxisten, Sozialisten, Außerparlamentarischer Opposition. Wir haben weder nach Konfessionen noch nach politischer Zugehörigkeit gefragt. Uns einigte die kritische Arbeit an den jeweiligen Themen.
Wir gerieten alsbald in Konflikte mit unseren Kirchenleitungen, mit den evangelischen wie mit den katholischen. Einige von uns mussten durch ihre Mitarbeit erhebliche berufliche Nachteile in Kauf nehmen. Das Politische Nachtgebet war ein gelungener und irrtumsreicher Versuch, und ich bin stolz darauf, mitgemacht und mitgeirrt zu haben.
Gerne gestritten
Jetzt, nach fünfzig Jahren, stelle ich die Frage: Was haben wir falsch gemacht? Es ist keine Frage der Reue, es ist eine Frage der Besinnung. Ich vermute, dass meine Überlegung nicht nur auf unsere linke Gruppe zutrifft, sondern das Problem von allen Gruppen ist, die Optionen haben und diese radikal verfolgen. Was also sehe ich heute mit heiterer Skepsis?
Wir haben gerne gestritten (lässliche Sünde!). Der Streit, sofern er ohne Gewalt geführt wird, ist ein Mittel, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, und es gibt eine wahrheitsfeindliche und fahrlässige Friedfertigkeit, von der wir oft in den Predigten hören. Aber es ist nicht zu übersehen, dass wir den Streit auch des Streites wegen gesucht haben, nach dem Prinzip: viel Feind, viel Ehr! Wo wir am meisten angegriffen wurden, fühlten wir uns am meisten im Recht. Gelegentlich diente der Streit auch dazu, unsere Gruppe zusammenzuhalten. Je mehr Feinde wir draußen haben, desto mehr Freund-Innen drinnen. So entstand gelegentlich eine selbstzweckhafte Feindseligkeit, die die Gruppe zwar geeint hat, oft aber auf Kosten der Wahrheit. Ich rede also nicht gegen den Streit, sondern frage mich, ob der Streit uns nicht gelegentlich zum Ziel wurde.
Wir waren nicht selten in der Gefahr, Institutionen prinzipiell zu missachten (lässliche Sünde!). ReformerInnen wollen etwas Neues, was noch keinen Platz in den Institutionen hat, sie haben Vorwärtsstrategien. Sie haben ein starkes, anwaltschaftliches Denken, das ist ihre Aufgabe. Es gibt keine Aufbrüche des Geistes, keine prophetische Situation, die nicht sogleich Störungen der eingerichteten Welten sind, damit auch Störungen der Institution. Die Bilder zu stürzen ist eine solche Grundstörung. Bildersturz geht immer einher mit neuen Ideen. Bildersturz nenne ich die Störung der verpflichtenden Einrichtungen, die Störung der heiligen Zeichen und der Theatralik der Institution. Keine Neuheit ohne Bruch!
Gebändigte Charismatiker
Aber es gibt auf Dauer keinen Geist (allerdings auch keinen Ungeist!), ohne dass dieser vergemeinschaftet wird, herkunftsbewusst ist, öffentlich ist und Recht wird, sogar Kirchenrecht. Es gibt keinen Geist, ohne dass er auf Dauer Institution wird. Institutionen sind die Langfristigkeit des Geistes (und gelegentlich des Ungeistes!). Ideen müssen eingerichtet werden, sie brauchen also Institutionen. Sie brauchen Zeitstrukturen, Machtverteilungsstrukturen, Inszenierungsstrukturen.
Die Idee wird in der Institution welthaltig, sie ist dann nicht mehr nur im Herz der Menschen verankert. Außerdem rettet uns die Institution vor „CharismatikerInnen“, vor den zufälligen, kommenden, gehenden, vagen Ideen, die sich der Überprüfung und der Rationalität verweigern, schreibt der Literaturkritiker Jens-Christian Rabe. „CharismatikerInnen“ werden durch die Institutionen gebändigt. Institutionen, wenn sie nicht selber gewalthaft sind, retten vor Gewalt; sie schützen die Schwachen vor den Starken, und sie kontrollieren Macht. Ohne Institutionen keine Demokratie. Institutionelle Machtlosigkeit verursacht immer Angst, und das ist die Hemmung neuer Ideen. Wer Institutionen zerstört, ohne Alternativen zu entwickeln, der spielt mit der Freiheit.
Wir haben oft vergessen, uns mit Gruppen mit ähnlichen Optionen zu verbünden und Kompromisse zu schließen (schwere Sünde!). Linke Gruppen haben Vorwärtsstrategien. Sie sind leidenschaftlich, aber alle leidenschaftlichen Leute sind spaltungsgefährdet. Hier liegt das Problem vieler linken Gruppen. Es ist übrigens ganz interessant, dass heute viele AmtsträgerInnen in den deutschen Kirchen aus „leidenschaftlichen Gruppen“ kommen, aus Frauengruppen, aus Friedensgruppen und Ökogruppen. Vielleicht hat das Amt einiges von ihrer Leidenschaft gebremst, aber sie haben eine Herkunft, der sie nicht abschwören.
Wir können nur in Institutionen leben und arbeiten, wenn wir nicht von Anfang an vermuten, dass man nicht dort leben und arbeiten kann. Der totalisierte Pessimismus von linken Gruppen Institutionen gegenüber ist oft ein Problem gewesen (mittelschwere Sünde!). Man kann aber nur dort leben, wenn man sich aus der oft anzutreffenden Weinerlichkeit befreit, die sich in der Vermutung äußert: Hier kann ich nicht leben, die Institution ist der Tod meiner Ideen, die Einschränkung meiner Individualität, hier kann ich nicht zuhause sein. Dann ist man eben halb zuhause in ihnen! Wo ist man schon ganz zuhause?
Kompromiss und Wahrheit
Man kann dort nur leben, wenn man kompromissfähig ist. Kompromiss ist unter Linken ein verdächtiges Wort. Gruppen können auf eine Weise kompromisslos sein, wie es die großen Institutionen noch nicht können, aber es vielleicht morgen können. Wenn die Gruppen politisch gestaltungsfähig bleiben wollen, müssen sie fähig sein, Kompromisse zu schließen - ob uns das Recht ist oder nicht. Kompromisse sind schmerzliche und nützliche Versuche, zum Wohl von vielen zu handeln. „Unter der Bedingung der Unvermeidlichkeit von Kompromissen heißt Demokrat sein heute vor allem, verlieren zu lernen“ (Jens-Christian Rabe). Man muss das Verlieren auch lernen, wo es nicht anders geht. Der Kompromiss ist nicht die Wahrheit, er ist ein Teil der Wahrheit, und so muss es Orte geben, an denen Gruppen eine gründlichere Wahrheit vertreten; eine wahrere Wahrheit, oder das deutlichere Zeichen, wie wir in der Friedensbewegung gesagt haben. Solche Orte sind die vorpreschenden Gruppen, die Kompromisse vielleicht zähneknirschend ertragen und dabei die große Wahrheit nicht aus dem Auge verlieren.
Unsere Lust war groß, die Welt als Verfall zu beschreiben (mittelschwere Sünde!). Bedenklich war die Auffassung, dass die Radikalsten unter uns am ehesten Recht hätten. So überboten wir uns manchmal in der Lust an der Beschreibung des Unglücks. Die Gefahr war, Panoramen des Verfalls zu beschreiben, an denen man eigentlich nicht mehr arbeiten konnte.
Die Gefahr war, das Unglück widerspruchsfrei zu beschreiben. Aber man kann nur an Widersprüchen arbeiten, und man kann nur Hoffnung finden, wo man sich die Mühe macht, die Möglichkeiten des Gelingens wahrzunehmen, und seien sie noch so gering. Der Verfall lässt sich leichter beschreiben. Aber es gibt gelegentlich auch den schwarzen Kitsch, der einem die Luft zum Atmen und zum Arbeiten nimmt. Genau sein in der Beschreibung des Unglücks ist eine Tugend, mit der man der Selbstlähmung entgeht. Ein Satz eines klugen Menschen hat uns im Nachtgebet nachdenklich gemacht. Er hat uns gefragt: Seid ihr fähig, eure Botschaft so zu sagen, dass sie zugleich Kritik und Trost ist? Dies erinnert an das Gebet von Helder Camara, in dem es heißt: „Lehre mich ein Nein zu sagen, dass nach Ja schmeckt.“
Die Linke jener Zeit war nicht fromm, und die Frommen waren nicht links (schwere Sünde von beiden!). Ich erinnere mich an ein Wochenende der „Christen für den Sozialismus“ in Berlin. Am Samstagabend schlug jemand vor, am nächsten Tag einen Gottesdienst zu machen. Man redete eher verlegen darüber, was ein Gottesdienst denn bringe für die Gruppe und für das Thema, das sie verfolgte. Helmut Gollwitzer, der alte angesehene linke Theologe, hörte sich die Diskussion lange an, dann sagte er: „Ich will den Gottesdienst, weil er schön ist.“ Er hat nicht gesagt: weil er uns stärkt und Hoffnung bringt. „Er ist schön“, hat er gesagt. Er wollte den Gottesdienst nicht unter Verwertungsabsichten. In meinem Beispiel, dem Politischen Nachtgebet, hatten wir immer liturgische Elemente wie Lieder, Gebete, Lesungen, darauf bestand Dorothee Sölle energisch. Kritisch sehe ich aber die Erklärung, die wir in sieben Thesen über das Gebet versuchten. Schon dass wir unser Gebet erklärten und rechtfertigten, indem wir es Zwecken unterwarfen, ist verräterisch. Wir sagten vom Gebet, dass es uns darauf vorbereitet, Verantwortung für die Welt zu übernehmen; dass es uns bewusst macht, was zu tun sei; dass es den Hunger nach dem Reich Gottes wach hält. Wir hatten noch wenig Verständnis für die köstlichen Nutzlosigkeiten unserer Tradition.
Dass wir effektorientiert über das Gebet sprachen, war zu wenig, aber es war verständlich. Die Hälfte unserer Besucher und Besucherinnen waren keine Christen. Ihnen wollten wir sagen, warum wir auf liturgische Elemente nicht verzichteten. (Dazu gibt es in einem der Nachtgebete einen wundervollen Text von Dorothee Sölle: Antwort auf die Frage der linken Freunde warum wir beten). In unseren Gebetsthesen wandten wir uns allerdings auch gegen eine lamentöse kirchliche Tradition, die in ihren Gebeten so gerne die eigene Verantwortung auf Gott abschob.
Revolutionäre Geduld
Wir waren nicht die Ersten, die von einer anderen Kirche und von einer anderen Gesellschaft geträumt haben, und wir werden nicht die letzten sein. Die Hoffnung kann man nur behalten und gewaltlos kann man nur bleiben, wenn man nicht unter Gelingenszwängen steht; wenn man also weiß, dass mit unserer Arbeit allein nicht alles steht und fällt. Man muss auch lernen, mit dem alten Lied aus den Bauernaufständen zu singen: Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechten’s besser aus. Die revolutionäre Geduld war damals nicht unsere reichste Begabung.
Die zweite Nahrung der Hoffnung ist der Blick für alles, was schon gelungen ist. Wir haben der Gegenwart nicht selten alle Güte abgesprochen und in ihr nur wahrgenommen, was ihr fehlt und was in ihr faul ist. Unser Hauptlied war: Wir leben im falschen Leben. Damit hatten wir nicht Unrecht, aber wir haben leichtfertig übersehen, was schon erreicht war. Immerhin konnten wir arbeiten, leben und lieben in dieser Gesellschaft. Ihre demokratischen Institutionen haben sogar unsere Anklagen gegen sie geduldet und geschützt. Das hätte uns ein Blick auf die Zustände in der DDR zu jener Zeit lehren können.
Genug der heiteren Beichte, bei der ein wesentliches Moment des Bekenntnisses fehlt, die Reue. Wir haben einiges versäumt und falsch gemacht. Wo steht denn geschrieben, dass man alles gut und richtig machen muss? Nie mehr später habe ich eine Zeit erlebt, in der Menschen so viele Ideen und Phantasie hatten wie in jenen 68ern; in der sie so viel angepackt und gearbeitet haben; an so vielem gewackelt und so viele Götzen entlarvt und so viele Lebensschönheiten neu entdeckt haben. Es war die Zeit einer großen Lebenslust - und einiger unvermeidlicher Dummheiten. Mein Rückblick ist kein Widerruf unserer Träume von damals. Es ist der Versuch, genauer träumen zu lernen.
Information
Fulbert Steffensky, geboren 1933, Studium der katholischen und evangelischen Theologie, 13 Jahre Benediktinermönch, 1969 Konversion zum Protestantismus, 1975 - 1989 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, mit Dorothee Sölle verheiratet von 1969 bis zu ihrem Tod 2003. Mit ihr und einigen Freundinnen und Freunden gründete er das Politische Nachtgebet in Köln, das von 1968 bis 1973 regelmäßig stattfand.
Fulbert Steffensky
Fulbert Steffensky
Fulbert Steffensky ist Theologe, Religionspädagoge und Autor. Er war von 1954 bis 1968 Benediktinermönch und konvertierte 1969 zum evangelisch-lutherischen Bekenntnis.