Früher war jetzt. Und jetzt ist jetzt. Und in der Zukunft, wenn alles anders ist, und wenn es andere Menschen gibt, und keiner außer Gott mehr von ihm… weiß, dann wird es immer noch jetzt sein.“ Als Tyll seine Angst in diesen Gedanken versenkt, steht dem Jungen wieder einmal einer der Traumatisierungen bevor, die seine Kindheit vergiften.
Der Satz erklärt zugleich, warum Daniel Kehlmann die Geschichte des Eulenspiegels vor der Kulisse des Dreißigjährigen Kriegs erzählt. „Eulenspiegeleien“ gibt es immer, doch je grauenvoller die Zeiten sind, desto lebensnotwendiger wird es, sich und allen anderen ein schmerzreduziertes Jetzt vorzugaukeln. Tyll jongliert, tanzt, balanciert auf dem Seil, damit die Zeit still steht. Er ist Entertainer der kleinen Leute und Begleiter von gekrönten, aber geplagten Häuptern, denen er als Hofnarr ungestraft die Wahrheit um die Ohren hauen darf.
Eine dritte Funktion teilt die Figur wiederum mit ihrem Autor: Beide setzen ihre Künste ein, um prä- und postmoderne Wissenschaften als Trug zu entlarven; von theologischen „Beweisen“ für die Hexerei bis zu einer Historiografie, die sich auf gefälschte Lebensberichte stützt. Es geht nur um „Performance“. Entsprechend wagemutig jongliert dieser Roman mit Personen, Namen und Anekdoten. Zwischen Darsteller, Dargestellten und Leserinnen entsteht eine - scheinbare? - Gleichzeitigkeit, jenes literarisch erzeugte „Jetzt“, das historische Abstände einfach wegzaubert. Ohne die Kunst Ulrich Noethens stünde die Hörerin in der Gefahr, sich im Labyrinth der Charaktere zu verirren. Aber der Schauspieler gibt mit seiner ungeheuren Variationsbreite jeder von ihnen eine unverwechselbare Stimme.
Susanne Krahe