In der Regel schreibe ich an dieser Stelle über mein Leben mit der Deutschen Bahn. Davon abzuweichen will gut überlegt sein. Doch nun ist es wieder mal an der Zeit, denn ich muss Zeugnis ablegen von etwas, von dem – sehr frei nach dem Philosophen Ludwig Wittgenstein – nicht geschwiegen, sondern gesprochen werden muss: Vor einiger Zeit ging ich zur Orthopädin, denn Menschen, die die Fünfzig überschritten haben, leiden zuweilen mehr als andere Menschen an Beschwerden im Bereich des Bewegungsapparates, Zipperlein mal hier mal da, die Schulter, das Kreuz, das Knie, die Fußgelenke – und der Nacken erst …
„Frau Doktor“, fragte ich in stiller Hoffnung, „was ist da los?“ Sie ließ mich dies, sie ließ mich das machen, sie fühlte mal hier, sie fühlte mal da, und dann sagte sie nur: „Machen Sie eigentlich Sport?“ – Innerlich errötend hörte ich mich sagen: „Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit, äh, also ich bin früher gefahren, und ich schwimme, also im Sommer, wenn das Freibad…, dann schwimme ich … manchmal“. – „Aha. Na, dann würde Ihnen wohl ein bischen Funktionstraining ganz gut tun“, sagte die Frau Doktor und schrieb ein Rezept. „Funktionstraining?! Dass ich nicht lache“, sagte ein mir sehr nahestehender Mensch, als ich mit dem Rezept nach Hause kam. „Sie meint ,Opfersport‘…“ – „,Opfersport‘!? Was ist das denn?“
Eine Woche später wusste ich es: „Opfersport“ ist eine halbe Stunde, die man einer 12–15-köpfigen Gruppe opfert, deren Mitglieder man sich nicht ausgesucht hat und die man nicht kennt, wenn man Glück hat. Alle sitzen in einem Boot, Junge und Alte, Dicke und Dünne, Hübsche und … Andersbegabte. Alle tragen leichte, bequeme Sportkleidung, haben eine Isomatte samt mitzubringendem Handtuch unter sich und machen … nun ja, sagen wir: auflockernde Gymnastik, so called Funktionstraining: Ein bisschen hüpfen, ein bisschen Armkreisen, und dann wird es ernst. Wie ernst, liegt daran, ob die harmlos-nette Moni, die forsch-fröhliche Ellen oder der charismatisch-harte Jesko die Stunde anleiten. Während Moni die ganz fiesen Sachen, also alles Liegestütz- und Kniebeugen-ähnliche weglässt, kann es bei Ellen schon mal zwicken und zwacken, während es bei Jesko, dem herrlich Schrecklichen, so weit geht, dass ich mich auf Fantasiereisen in mittelalterliche Folterkeller flüchte, damit ich die unsäglichen Schmerzen aushalte, um dann zu hören, wie Jesko, der herrlich Schreckliche, fasziniert ausruft: „Das tut weh, nicht wahr? Und wisst ihr was: Das ist gut!“
Und wissen Sie was? Das ist wirklich gut. Zum einen bricht sich unbändige Freude Bahn, wenn die halbe Stunde vorbei ist, der Weg nach Hause ist ein Weg ins Paradies. Zum anderen – lachen Sie nicht – nach und nach geht es wirklich besser, zwickt und zwackt es nicht mehr so. Victor quia victima – Sieger weil Opfer – dieser Satz des Heiligen Augustin gilt jetzt auch für mich. Halleluja!
Reinhard Mawick