Nicht religiös überhöhen

Der Staatsrechtler Horst Dreier legt ein wichtiges Werk zur Religion im modernen Staat vor
Im Gerichtssaal des Landgerichts Weiden in Bayern. Foto: dpa/Armin Weigel
Im Gerichtssaal des Landgerichts Weiden in Bayern. Foto: dpa/Armin Weigel
Das Verhältnis von Staat und Religion wird derzeit mal wieder neu vermessen -ebenso wie die mentalen Grundlagen der Verfassungsordnung. Man sollte dabei Versuche einer religiösen Überhöhung oder kirchlichen Vereinnahmung der Verfassung zurückweisen, meint der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen.

Der Erlass des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, Kreuze in den Amtsgebäuden seines Bundeslandes anbringen zu lassen, mag ein durchsichtiges Manöver sein - und auf nicht wenige wirkt es schädlich. Dennoch bietet es einen Anlass, grundsätzlich über die deutsche Religionskultur und ihre rechtlichen Grundlagen nachzudenken. Das ist bitter notwendig. Epochale Veränderungen sind zu beobachten, grundsätzliche Fragen zu klären, bedrängende Probleme zu lösen. Doch über ein trübselig-törichtes „Gehört dazu/gehört nicht dazu“, „Kreuze-Aufhängen/Kreuze-Abhängen“ kommen die meisten um Aufmerksamkeit bemühten Politiker und aufgeregten Meinungshändler nicht hinaus. Deshalb ist es so erfreulich, dass der renommierte Staatsrechtler Horst Dreier ein kompaktes, diskussionsfreudiges und auch für Laien gut lesbares Buch über die Religion in der säkularen Verfassungsmoderne veröffentlicht hat - mit einem kräftigen Titel: Staat ohne Gott. Doch wer eine empörungsgierige Streitschrift, einen provokationslustigen Abgesang auf Christentum und Kirchen erwartet, wird auf das Erfreulichste enttäuscht.Denn Dreier legt eigentlich nur dar, was als selbstverständlich gelten sollte. Und dies lässt sich in kurzen Worten zusammenfassen. Der deutsche Staat ist säkular. Er verzichtet auf jeden weltanschaulichen Anspruch, wie auch die Religionsgemeinschaften keinen staatlichen Machtanspruch erheben. Damit ist beidengedient. Der säkulare Staat ist frei, seiner eigenen Rationalität zu folgen, und die Bürger sind frei von weltanschaulichen Übergriffen des Staates. Das besondere Erbe der deutschen Religionskultur besteht in einer Kunst der Differenzierung: Nur was manvoneinander unterscheidet, kann man auf einander beziehen. So folgt der säkulare Staat keinem doktrinären Laizismus, keinem atheistischen Vorurteil. Im Gegenteil, als „weltliche“ Größe eröffnet er den „geistlichen“ Kräften vielfältige Wirkungsmöglichkeiten - nicht im Staat, aber in der Gesellschaft. Dreier resümiert: „Für die Gläubigen ist Säkularisierung geradezu ein Glücksfall.“Nicht jedem Religionsvertreter dürfte dieser Satz leicht von den Lippen gehen. Es ist eben eine sehr besondere Geschichte, die zu diesem Ergebnis geführt hat. Sie ist eng mit der Reformation verbunden. Es war die Überzeugung evangelischer Freikirchen und liberaler Protestanten, dass die christliche Religion erst dann zu sich selbst kommt, wenn sie nicht mehr in eine unheilige Allianz von Thron und Altar eingebunden ist. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass der gott-lose Staat eine protestantische Erfindung wäre, sondern nur, dass bestimmte religiöse Grundeinstellungen es erleichtern, ihn vorbehaltlos zu bejahen. Daran aber, die konsequente Weltlichkeit und Vernünftigkeit des Staates selbst zu wollen, müssten heute alle Religionsgemeinschaften ein eminentes Interesse haben, denn diese entlastet sie von falschen Erwartungen und fatalen Funktionalisierungen und ermöglicht ihnen, sich im gesellschaftlichen Leben zu entfalten. „Säkularisierung“ ist deshalb auch in rechtlicher Hinsicht nicht gleichbedeutend mit einem Abfall von der Religion, sondern eine Form der Verwirklichung religiöser Prinzipien.

Eine Nicht-Streitschrift

In einer Zeit, da die Grundprinzipien dieses Staates massiv in Frage gestellt werden, ist Dreiers Nicht-Streitschrift hoch willkommen. Sie erinnert daran, was es zu verteidigen und mit Leben zu füllen gilt. Geschrieben ist sie mit dem Pathos der Nüchternheit. Eine Rezension in der Süddeutschen Zeitung allerdings fragte sogleich, ob Dreiers Blick auf die Verfassung nicht zu nüchtern sei. In der Tat weckte er keine starken Gefühle, fordert keine Verehrung des Grundgesetzes, proklamiert keinen Glauben an die Verfassung. Doch darin zeigt sich kein Mangel an Emotionalität, sondern eine grundsätzliche Überzeugung und bewusste Haltung: Die Sehnsucht nachvermeintlich Höherem sollte sich ein anderes Zielobjekt suchen, denn man schadet der Verfassung, wenn man sie quasi-religiös überhöht. Sie ist - mit Martin Luther gesprochen - „ein weltlich Ding“. Mit Sorge beobachtet Dreier deshalb einen Trend zur „wachsenden Sakralisierung des Grundgesetzes“. Was daran so problematisch ist, hat er in einem anderen Buch (Gilt das Grundgesetz ewig? Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 2009) mit Blick auf die USA gezeigt. Die dort geübte „Verfassungsapotheose“, in der man rechtliche Grundtexte wie eine „politische Bibel“ behandelt, führt dazu, dass politische Fragen kaum noch in parlamentarischen Debatten ausgefochten und in Kompromissen geklärt werden, sondern zu Grundsatzkämpfen für oder gegen das Ganze der verfassungsmäßigen Ordnung ausarten. Man kann das gegenwärtig bei den Debatten über „gun control“ beobachten. Eine Biblifizierung des Grundgesetzes gibt es noch nicht. Aber eine zunehmende Moralisierung der Verfassung ist auch in Deutschland ein Problem. Dabeiist die Unterscheidung von Recht und Moral von allergrößter Bedeutung für eine demokratische Kultur, wie Dreier präzise beschreibt: „Bei einer Moralisierung der Rechtsordnung oder einer Juridifizierung der Moral können letztlich beide Seiten nur verlieren: die Integrität individuell basierter Moral ebenso wie die ethisch-weltanschauliche Neutralität des mit Zwangsgewalt ausgestatteten Staates. Die Juridifizierung der Moral kolonisiert das individuelle Gewissen; eine kritische Bewertung des Rechts im Lichte eigener Wertvorstellung wird strukturell unmöglich.“Als Theologe mit einer gewissen Berufserfahrung möchte man hinzufügen: Zwischen sakraler Überhöhung und faktischer Ignoranz gibt es oft einen Zusammenhang, denn je heiliger ein Buch angeblich ist, umso weniger wird es gelesen. Je häufiger es im Brustton letzter Überzeugungen „angerufen“ wird, desto weniger ist es bekannt.Dreier fordert mit guten Gründen: „Wir sollten das Grundgesetz ganz nüchtern als Form friedensstiftender und freiheitsgarantierender Herrschaftsrationalisierung begreifen.“ Dazu gehört es, Versuche einer religiösen Überhöhung oder kirchlichen Vereinnahmung zurückzuweisen. In einem veritablen Kabinettstückchen führt Dreier dies anhand des „Böckenförde-Diktums“ vor. Vor 51 Jahren formulierte Ernst-Wolfgang Böckenförde einen Satz, der zum größten Zitationserfolg der Bundesrepublik wurde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Ursprünglich sollte dieser Satz - angesichts des II.Vatikanischen Konzils - reformkatholische Annäherungen an den modernen Staat unterstützen. In den 1970er Jahren wurde er - besonders von Helmut Schmidt - gegen katholische Bischöfe eingesetzt, die sich der Liberalisierung des Familien- und Sexualrechts entgegenstellten. Nach 1989 wurde dieser Satz aber von Bischöfen und konservativen Staatsrechtlern aufgegriffen, um den Status der großen Kirchen zu stabilisieren. Dreier verteidigt Böckenförde gegen solche kirchenetatistischen Vereinnahmungen und deutet dessen berühmtesten Satz als eine offene Frage: Niemand kann die Voraussetzungen des säkularen Staates garantieren - weder der Staat selbst noch eine Kirche oder Weltanschauung. Es muss das gemeinsame Anliegen aller Bürger sein, das Nötige aus den unterschiedlichen Quellen, die ihnen jeweils zur Verfügung stehen, zu schöpfen und zusammenzugießen. Die Kirchen können daran als zivilgesellschaftliche Akteure neben anderen mitwirken. Aber sie sind nicht allein diejenigen, die die Voraussetzungen des Ganzen definieren.Auch wenn die meisten evangelischen Theologen und leitenden Geistlichen dem zustimmen würden, liegt darin auch für sie eine Kritik: Denn ein - kulturkonservatives oder sozialprogressives - „Wächteramt“ der Kirche kann es hier nicht geben. Theologen stehen nicht auf einem Wachtturm letzter Wahrheit über der Gesellschaft - weder beim Abtreibungs- noch beim Asylrecht. Mitten auf dem Marktplatz der demokratischen Debatte können und sollen sie für ihre Überzeugungen eintreten und darin „Öffentliche Theologie“ treiben, aber ohne den prophetischen Anspruch, selbst die Stimme Gottes zu sein. Dabei würde ihnen die Erinnerung daran helfen, was für ein weiter Weg es von der urchristlichen Vorstellung der Gleichheit aller Menschen vor Gott zum Rechtsgrundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz war.Kirchliche Dominanz ist kein Problem mehr. Viel bedrohlicher sind heute die fundamentalistischen und extremistischen Feinde der freien Gesellschaft. Eine weniger dramatische, aber mindestens so starke Bedrohung der deutschen Religionskultur besteht allerdings darin, dass das Neutralitätsgebot aus dem Staatlichen ins Gesellschaftliche hinüberschleicht. Da Religion von vielen Menschen, die über keine eigenen Erfahrungen mit den guten Kräften des Religiösen mehr verfügen, nur noch als hochexplosives Gefahrengut wahrgenommen wird, versucht man zunehmend, in einem vorauseilenden Gehorsam religiöse Stoffe, Symbole und Akteure aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. In Kindertageseinrichtungen,Schulen und staatlichen Kultureinrichtungen lässt sich eine ängstliche Verdrängung religiöser Themen beobachten. Sie befördert einen Laizismus, der im deutschen Verfassungsrecht gerade nicht angelegt ist.

Gegen den Fundamentalismus

Der Göttingen Verfassungsrechtler Hans Michael Heinig hat dies kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung so auf den Punkt gebracht: „Das eigentlich an die öffentliche Gewalt adressierte Neutralitätsgebot greift zunehmend aus dem Staatsrecht in die diverser gewordene Gesellschaft über und beeinflusst zunehmend auch Sozialbeziehungen ohne staatliche Beteiligung.“ Dabei soll doch der Staat in religiösen Fragen Neutralität üben, die Gesellschaft aber ein Ort sein, an dem auch Religionen sicht- und hörbar auftreten. Wer aus Unsicherheit oder Unbehagen das Religiöse aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausschließt, verpasst die Möglichkeit, demokratisch und gebildet über religiöse Fragen zu streiten. Deshalb sollten Kirchenvertreter und Theologen - nicht etwa aus bloßem Eigeninteresse - für die liberale Religionsordnung des Grundgesetzes eintreten, sich also sowohl dem Fundamentalismus wie dem Laizismus entgegenstellen.Damit eine Verfassung wirklich „funktioniert“ und dies inmitten einer sich rasant verändernden Gesellschaft, genügt es nicht, dass das juristische Regelwerk und die staatlichen Institutionen sich als arbeitsfähig erweisen. Es braucht auch so etwas wie einen - mit Friedrich Schleiermacher gesprochen - „Gemeingeist“. Wer soll ihn bilden und pflegen? Die Verfassung selbst kann dies nicht leisten, die Kirchen als ehemalige Sinn- und Moralmonopolisten aber auch nicht. Es gibt nicht mehr den einen Glauben, aus dem die inneren Einstellungen gewonnen werden können, die als Voraussetzungen der modernen Demokratie dienen. Ist das ein Verlust? Nicht dann, wenn andere Akteure hinzukommen und neue weltanschauliche Ressourcen erschlossen werden. Dann könnten die Bürger aus verschiedenen Quellen das Nötige schöpfen. Aber wenn dies nicht geschieht? Als Jurist erlaubt sich Dreier keine Prophezeiungen. Auch den Luxus des Kulturpessimismus erlaubt er sich nicht. Lieber stellt er die Grundsätze des Grundgesetzes vor und wirbt dafür, neugierig die gesellschaftlichen Veränderungen zu beobachten und der eigenen, so vernünftigen Rechtsordnung einiges zuzutrauen. Dazu aber müsste man sie kennen, weshalb man Dreiers Buch allen Bürgern - Juristen wie Innenministern, Lehrern wie Pastoren, Rabbinern wie den Imamen - zur Lektüre empfehlen möchte.

Literatur:

Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. C. H. Beck Verlag, München 2018, 256 Seiten, Euro 26,95.

Johann Hinrich Claussen

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