Wildes Treiben

Organistenzwirn in Buchform
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Es holpert und stolpert an vielen Stellen, die Geschichte ist überladen und gleichzeitig blutleer.

Hoppla, hier ist was los: Die Komponisten Georg-Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Heinrich Schütz, der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Dichter Novalis, die Dichterin Marie Louise von François, der Orgelbauer Friedrich Ladegast - sie alle und noch mehr historische Personen treffen zusammen in dieser Nacht in der Weißenfelser Marienkirche.

Und das alles nur, weil den jungen Musikstudenten Alban Bruckner Liebeskummer und Lampenfieber vor dem Orgelwettbewerb am nächsten Tag drücken. Deshalb verbringt er die Nacht auf der Empore der Kirche, wo ihm nach und nach all die Figuren aus der Vergangenheit begegnen, mit ihm und miteinander sprechen und streiten. Das allein würde ja schon ziemlich viel Stoff für ein schmales Bändchen von 134 Seiten sein.

Doch es kommt noch toller: Die nächtliche Begegnungsorgie der Gegenwart mit der Geschichte ist wiederum eine Zukunftsfantasie des Schriftstellers Gottfried Adolf Müllner, der tatsächlich von 1774 bis 1829 in Weißenfels lebte und wirkte und die er als Theaterstück auf die Bühne bringen möchte.

Und das alles hat der 1965 geborene Autor Kay Zeisberg aufgeschrieben. Dieser ist nicht nur offenbar ein Kenner der Kulturgeschichte in und um Weißenfels sondern auch ein Orgelliebhaber, hat er doch bereits 2013 einen Gedichtband unter dem Titel "Spieltisch mit Rückpositiv - Gedichte für eine Orgel" veröffentlicht. Von jedem verkauften Buch floss ein Euro in die Renovierung der Rühlmann-Orgel in der evangelischen Kirche in Weßmar (Sachsen Anhalt).

Und nun also dieses wilde Treiben, dessen eigentlicher Held auch nicht der junge Alban ist, sondern der Orgelbauer Friedrich Ladegast (1818-1905), ebenfalls aus Weißenfels. Der erscheint dem jungen Musiker als erstes und begleitet ihn als väterlicher Mentor durch die Nacht. Ihm zur Seite steht die Weißenfelser Dichterin Marie Louise von François, die sich selber als „bescheidene Protestantin“ bezeichnet und sehr klug und einfühlsam den jungen Mann Wege aus der Sinn- und Beziehungskrise zeigt.

Bis es aber soweit ist, lernt der Leser sehr viel über meist mitteldeutsche Künstler und Künstlerinnen, an Originalzitaten wird nicht gespart, und bei aller Inszenierung des Stoffes wird das Lesen zu einem volkshochschulartigen Schweinsgalopp. Gerade äußert wieder jemand einen interessanten Gedanken, schon geht wieder die Kirchentür auf und der nächste intellektuelle oder künstlerische Gigant betritt die Szene.

Das ist anfangs noch witzig, später aber zum Haare raufen, und so ist es kein Wunder, dass die ziemlich eitel gezeichneten Händel und Bach sich irgendwann gegenseitig die Perücken vom Kopfe klauen. Weniger wäre hier wahrlich mehr gewesen. Zudem sind die Zukunftsfantasien des Theaterautoren Müllner erstaunlich konkret und zutreffend, er sagt Handys und Tablets voraus, ärgert sich über „alternative Fakten“ in der Zeitung und weiß vieles, was er noch gar nicht wissen kann und räumt dies am Ende sogar selber ein. „Es ist nicht Wissen, es sind Ahnungen…“

Bei aller Sympathie für die Idee und Bewunderung für das historische Wissen: Diese literarische Orgelfantasie ist doch eher Organistenzwirn, es holpert und stolpert an vielen Stellen, die Geschichte ist überladen und gleichzeitig blutleer. Und auch die Moral von der Geschichte am Ende, rettet nicht: Habe Mut zur Freiheit, zum eigenen Denken, zum Improvisieren, nicht nur an der Orgel, dann klappt es auch mit der Liebe. Das mag stimmen, ist aber bei aller aufgefahrenen geballten intelektuellen Kompetenz der auftretenden Figuren dann doch am Ende eine etwas dürftige Erkenntnis aus dem nächtlichen Wahn.

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Stephan Kosch

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