Sommer und Zeit

Über ein Geschenk zwischen Erinnerung und Erwartung

Der Sommer ist eine eigentümliche Jahreszeit. Anders als im Frühjahr oder im Herbst, wenn man das Vergehen der Zeit förmlich sehen kann, an den knospenden Ästen und den aufspringenden Blüten oder am Farbenwechsel der Bäume und dem Fallen der Blätter, scheint im Sommer im flirrenden Sonnenlicht und in der lähmenden Hitze die Zeit nahezu stillzustehen. Zeit, so haben schon die alten Philosophen bemerkt, entsteht erst durch Veränderung, durch Werden und Vergehen.

Der Kirchenvater Augustin hat intensiv über die Zeit nachgedacht: „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand fragt, so weiß ich es. Wenn mich aber jemand fragt und ich will es ihm erklären, so weiß ich es nicht.“ Zeit ist eine merkwürdige Kategorie. Sie wird durch gleichbleibende Maße wie Sekunden und Stunden gemessen. Doch manchmal vergeht sie zäh und manchmal wie im Flug.

Augustin sinniert: Wie muss man eigentlich ‚Gegenwart‘ verstehen, wie ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘? Vergangenheit ist das, was nicht mehr ist, Zukunft das, was noch nicht ist. Allein die Gegenwart ist. Und Vergangenheit haben wir nur als gegenwärtige Erinnerung, Zukunft nur als gegenwärtige Erwartung. An der Gegenwart hängt alles. Gleichzeitig ist Gegenwart der ständig seinen Ort verändernde Punkt zwischen der auf uns zukommenden Zukunft und der hinter uns liegenden Vergangenheit. Gegenwart ist das, was reißend schnell vorüberfliegt, „so dass nicht die kleinste Dauer bleibt“. Der Mensch „steckt in der Zeit“, sagt Augustin.

Über Zeit nachzudenken heißt immer auch, der eigenen Endlichkeit gewahr zu werden. Der Mensch hat nicht unbegrenzt Zeit. Wegen seiner begrenzten Lebenszeit kann er einige Entscheidungen nicht mehr rückgängig machen. Für manches ist es jetzt schon zu spät, eines Tages für alles. Deshalb die verständlichen Anleitungen und Versuche, durch besseres Planen und Organisieren Herr über die Zeit zu werden und die Vergänglichkeit zu besiegen. „Gebraucht die Zeit, sie geht doch schnell von hinnen, / Doch Ordnung lehrt Euch Zeit gewinnen!“ - Aber Vorsicht! Diese Mahnung aus Goethes „Faust“ ist von Mephisto ausgesprochen.

Kann man wirklich Zeit ‚gewinnen‘, also etwas erlangen, was man vorher nicht hatte? Schöner ist es, Zeit zu schenken. Zeit, ist das nicht vor allem ein Raum zwischen Menschen? Eine der größten Gaben an einen anderen ist, dass man Zeit für ihn hat, unverzweckt und ohne damit etwas selbst gewinnen zu wollen. Schlimm ist es, einem anderen Zeit zu stehlen, zum Beispiel, wenn man endlos auf ihn einredet oder fordert, seine Zeitplanung solle sich ganz an der meinen ausrichten. Zeit wird auch dort geschenkt, wo man behutsam mit der Zeit des anderen umgeht. Als Raum zwischen Menschen kann Zeit zum Einüben eines heilvollen Verhältnisses von Freiheit und Verbindlichkeit, von Nähe und Distanz werden. Augustin hat es bei seiner Beschreibung des menschlichen Verwobenseins in die Zeit nicht belassen. Der Mensch steckt in der Zeit. Aber Gott ist ewig. Er hält die vergehende Zeit und den vergänglichen Menschen in seiner Hand. Augustin bündelt darum sein Nachdenken über die Zeit in dem Gebet: „Unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir.“

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Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie in Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen.

Christiane Tietz

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