„Marx war schon ziemlich genial“

Gespräch mit dem Publizisten Mathias Greffrath über die Verbindung von Ökologie und Ökonomie bei Karl Marx
Foto: privat
Mathias Greffrath (geb. 1945), ist Buchautor und Journalist. An der FU Berlin studierte er Soziologie, Geschichte und Psychologie und arbeitete dann als Journalist. Von 1991 bis 1994 war er Chefredakteur der Zeitschrift „Wochenpost“ in Berlin. Seit 1995 schreibt er als freier Autor für mehrere überregionale Tageszeitungen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seine Schwerpunktthemen sind unter anderem die Zukunft der Arbeit und die Auswirkungen der Globalisierung auf Kultur und Gesellschaft. Zuletzt erschien von ihm als Mitautor und Herausgeber „RE: Das Kapital: Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ im Kunstmann Verlag.

zeitzeichen: Herr Greffrath, sind Sie Marxist?

MATHIAS GREFFRATH: Ich mag die Etikettierung des Denkens nicht so sehr. Aber ich betrachte die Welt auch oder vor allem mit Hilfe des historischen Materialismus, also dem, was Marx und Engels im 19. Jahrhundert entwickelt haben. Und ich denke, wer versucht, die Gegenwart ohne das Kapital, die ökonomische Theorie und den historischen Materialismus zu begreifen, der wird sie nicht begreifen. Insofern verdanke ich Marx meine Weltsicht.

Aber was können Sie mit dem Blick auf die Welt durch die Brille des historischen Materialismus erkennen, was man sonst nicht sieht? Warum lohnt es sich zum Beispiel, das „Kapital“ heute noch zu lesen?

MATHIAS GREFFRATH: Das Kapital zeichnet sich dadurch aus, dass es die Wirtschaft als Ganzes im Blick hat. Etwas verkürzt gesagt, sind die Modelle der Nationalökonomie alles Modelle, die im Grunde beim Austausch von Waren anfangen. Da ist bereits produziert worden. Da sind die Waren auf dem Markt. Und die Wirtschaftswissenschaft baut irgendwelche Modelle, die beschreiben, wie die Waren an die Menschen gebracht werden, damit die Konjunktur rattert. Wirtschaft ist aber sehr viel mehr als Markt.

Was war dagegen der Ansatz von Marx?

MATHIAS GREFFRATH: Marx setzt bei der Produktion an. Und er lässt uns begreifen, dass es immer um zwei Sachen geht. Darum, Materie zu transformieren, so dass Menschen sie konsumieren können. Und Wert, also Geld, zu vermehren, Profit zu machen. Im Grunde beschreibt Marx eine Wirtschaftsordnung, die von der Notwendigkeit des Profits um den ganzen Erdball getrieben wird. Und da kann ich nur sagen: Wer 1848 die Globalisierung auf diese Weise mit diesen starken politischen Worten beschrieben hat, der ist schon ziemlich genial.

Aber dieses Urteil wird von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern nicht geteilt. Warum ist dort Marx so diskreditiert?

MATHIAS GREFFRATH: Das hat damit zu tun, dass die analytischen Kategorien seiner Theorie gleichzeitig moralische Kategorien sind, die der Selbstverständigung der unteren Schichten dienen. Ein Beispiel: Der Begriff des „Mehrwerts“, der durch den Arbeiter in einer Fabrik entsteht, ist eine analytische Kategorie bei Marx. Er erklärt die kapitalistische Dynamik und das Wachstum und ist kein böser Begriff. Aber in den Köpfen der Arbeiterbewegung hieß „Mehrwert“ eben auch: Wir sind diejenigen, die Werte schaffen. Und wir sind diejenigen, die an der Beschaffung des Reichtums nicht so beteiligt werden, wie sich das unter humanen, menschlichen oder auch demokratischen Kriterien gehören würde.

Also ist mit der Marx’schen Theorie immer auch ein Angriff auf die Kapitalisten verbunden oder auf diejenigen, die gut in dieser Gesellschaft leben, auf die Eliten...und deshalb mögen diese Marx nicht.

MATHIAS GREFFRATH: Das ist einerseits richtig, andererseits ein interessiertes, also ideologisch motiviertes Missverständnis. Marx selbst schreibt schon im Vorwort, dass es ihm nicht um Moral gehe. Der einzelne Kapitalist mag ein guter Mensch sein. Das spielt für die Theorie jedoch keine Rolle. Sie beschreibt ja einen Mechanismus, dem alle unterliegen, Arbeiter wie Kapitalisten.

Aber die Kapitalisten wissen natürlich, dass ihre Existenz bedroht ist, wenn man Marx und seinen Analysen folgt.

MATHIAS GREFFRATH: Marx geht ja davon aus, dass alle entfremdet sind, sowohl der Kapitalist, als auch der Arbeiter, und dass das von ihm angestrebte „Reich der Freiheit“ beiden gut täte. Der Arbeiter des Frühkapitalismus, den Marx vor Augen hatte, ist verarmt, verelendet und entfremdet, weil er seine Arbeitskraft für den Kapitalisten einsetzt. Der Kapitalist ist entfremdet, weil er ein Ausbeuter ist. Und keiner ist gern ein Ausbeuter. Aber das Subjekt dieser Theorie sind ja nicht die Menschen, es ist das Kapital, das Geld.

Kann Geld ein Subjekt sein?

MATHIAS GREFFRATH: Marx beschreibt eine Gesellschaft, die kapitalistisch ist und nichts als kapitalistisch. Er beschreibt ohne Moral, welchen Zwängen auch der Kapitalist unterliegt, nämlich dem Zwang der Konkurrenz. Insofern ist auch er entfremdet, weil er ein Wolf sein muss, wenn er nicht untergehen will. Ein Kapitalist frisst den anderen, heißt es am Ende des Kapitals. Und das ist ein Mechanismus, der heute mit den großen Weltmonopolen fast zum Abschluss gekommen ist.

Damit schlagen Sie kühn einen analytischen Bogen vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart. Aber beschreibt das Vokabular von Marx und Engels noch unsere Wirklichkeit? Wo finden wir heute zum Beispiel so etwas wie Entfremdung?

MATHIAS GREFFRATH: Der gesamte Komplex von Werbung, Manipulation von Bedürfnissen, im Hamsterrad mitmachen, um sich Dinge zu leisten, die man oft dann doch nicht braucht - der ist voll von Entfremdung. Ich kenne jemanden, der sagt: Er könne sich ein Leben ohne Hakle Feucht nicht mehr vorstellen. Da sehe ich schon eine Überformung der Bedürfnisse, oder das, was Herbert Marcuse in den Sechzigerjahren Konsumterror genannt hat, also die Ersetzung von menschlichen oder mitmenschlichen oder spielerischen oder kulturellen Betätigungen durch Konsum oder Frustkonsum.

Aber was bedeutet das in der Arbeitswelt?

MATHIAS GREFFRATH: Schauen Sie auf die Schweißtropfen auf den Stirnen derer, die im Rewe-Supermarkt morgens die Regale einräumen und dort unter starkem Zeitdruck stehen. Und dieser ist wiederum nur durch die Konkurrenz zu erklären und die Notwendigkeit, dass Rewe möglichst genau so billig wie Aldi produziert - auch das kann man Entfremdung nennen. Bis hin zu dem großen philosophischen Thema der Entfremdung, dass wir, und zwar als Gesellschaft insgesamt, eine Welt mit Gegenständen und Mechanismen produziert haben, unter denen wir dann leiden.

Und was würde Marx nun dazu sagen?

MATHIAS GREFFRATH: Marx sagt, wir gewinnen durch diese Entfremdung, durch die Ausbeutung, aber auch durch die technische Entwicklung und die Vernetzung erst die Möglichkeit für eine Gesellschaft, die Profitzwang und Ausbeutung nicht mehr nötig hat. Das unterscheidet ihn von allen utopischen Sozialisten. Marx geht davon aus, dass Sozialismus nur auf einem Sockel von großem Wohlstand entstehen kann. Und um diesen Wohlstand erst mal in die Welt zu schaffen, gehen wir durch die Hölle der Entfremdung und der Ausbeutung. Das ist die optimistische Variante. In Manuskripten, die er zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hat, findet sich aber auch die pessimistische Variante: Die ganze Welt ist kapitalistisch, bis in die Seelen hinein - und das war es.

Ein anderer Begriff der Marx’schen Theorie ist das „Proletariat“. Das mag es im Manchester des 19. Jahrhunderts gegeben haben, aber ist der Facharbeiter in der VW-Fabrik wirklich noch Proletarier? Er verdient mehr als so mancher Akademiker ... 

MATHIAS GREFFRATH: ... und zählt zu der Gruppe, die bei Lenin „Arbeiteraristokratie“ hieß. Denn die englischen Arbeitskräfte waren nicht revolutionär, weil sie von der Ausbeutung Indiens lebten. Der Arbeiter bei VW und die Kassiererin bei Aldi werden zwar auch ausgebeutet, weil sie beide Mehrwert schaffen und nicht angemessen daran beteiligt werden. Aber sie leben natürlich davon, dass unsere Gesellschaft insgesamt von einem ungleichen Austausch mit den Ländern des globalen Südens lebt. Zu dieser Gruppe gehören übrigens auch der Anzugträger in der Bank, der Angst um das Fortbestehen seiner Filiale hat, die 6.000, die bei Siemens gerade entlassen werden, und die Reinigungskraft. Sie sind diejenigen, die in abhängiger Position den Reichtum dieser Gesellschaft erarbeiten. Sie unterscheiden sich aber in ihrem Lebensstil, ihrer Bildung, ihren Interessen so sehr, dass sie nicht zu irgendeiner Klasseneinheit zusammenfinden, wie das zur Zeit des Industrieproletariats der Fall war. Aber sie alle gehören zu einer Gesellschaft, die im Weltmaßstab sehr reich ist, und deren Reichtum darauf beruht, dass es in anderen Teilen in der Welt anders zugeht.

Das heißt, das „klassische“ Proletariat sitzt nun in chinesischen Fabriken und arbeitet sich dort tot. Kommt die Revolution also aus China?

MATHIAS GREFFRATH: China ist eine Diktatur, in der eine kommunistische Partei eine kapitalistische Wirtschaft organisiert und das Ziel ausgegeben hat, dass es 2050 allen im Land gut geht. Ob das gut ausgeht, weiß man nicht. Die Bürgerrechte geraten dabei vorübergehend, hoffentlich vorübergehend, unter die Räder. Das ist die üble Seite dieses Kommunismus, die totale Kontrolle des Einzelnen. In China wird per Dekret umgesetzt, worüber wir hier ewig verhandeln. Es gibt eine Videokamera, die feststellt, du bist auf der falschen Spur auf der Autobahn. Und einen Kilometer später bekommst du dein Strafmandat auf das Handy, und eine Kreuzung weiter kannst du mit einer App deine zehn Euro bezahlen. Das ist schon unheimlich. Aber für gewisse Massenlenkungen, die bei uns mit Blick auf die Abwendung ökologischer Katastrophen notwendig werden, zumindest betrachtenswert.

Dieser staatliche Druck verhindert doch gerade, dass das Proletariat in den Fabriken und Sweatshops und Plantagen sich erheben kann gegen all das, was es so knechtet. Warum passiert das nicht?

MATHIAS GREFFRATH: So lange die Menschen meinen, es geht ihnen von Jahr zu Jahr besser, werden sie die Notwendigkeit nicht sehen, sich zu erheben. Die Bereitschaft der Menschen für Gedankenfreiheit zu kämpfen, ist bei den allermeisten der Sorge um ihr unmittelbares physisches Wohlergehen untergeordnet. Freiheitsideale sind eine hohe kulturelle Errungenschaft. Aber dass sie im Westen beheimatet sind, beruht auf einem gewissen Sockel an Wohlstand.

Also erst das Fressen, dann die Moral.

MATHIAS GREFFRATH: So ist es, und so ist es auch in China. Doch auch dort gibt es Gewerkschaften und Arbeitervertretungen, wenn auch staatlich kontrolliert. Und die Reallöhne steigen in dem Maße, in dem die Wirtschaft in China boomt. Das ist ein sozialistisch-kommunistisch gelenkter Prozess. Das könnte nicht der Weg in Westeuropa sein. Aber in Entwicklungsländern ist das wahrscheinlich gar nicht anders zu machen. In China findet auf eine etwas robustere Weise das statt, was in Lateinamerika mit diesen Entwicklungsdiktatoren von Jorge Rafael Videla und Juan Perón stattgefunden hat. Lateinamerika hätte doch noch immer keine ausgebaute Infrastruktur und passable Bildungssysteme, wenn es nicht diese relativ milden machistischen Diktaturen gegeben hätte.

Sie verteidigen die Diktatur?

MATHIAS GREFFRATH: Ja, ich verteidige die Diktatur. Perón wäre ja nie Perón gewesen und die Armeen in Lateinamerika hätten bei der Entwicklung der Nation nie die Rolle gespielt, die sie gespielt haben, wenn es vorher nicht die Großgrundbesitzer gegeben hätte, die auf eine feudale Art und Weise, nicht ohne physische Gewalt, die Unterdrückungsverhältnisse befestigt hätten.

Aha - die Diktatur des Proletariats rechtfertigt sich also dadurch, dass der Kapitalismus auch Gewalt angewendet hat im Kolonialismus?

MATHIAS GREFFRATH: Es geht nicht um Rechtfertigung. Aber Gewalt zeugt Gewalt. Das rechtfertigt sie nicht, aber es erklärt sie.

Wenn wir nochmal auf  Deutschland blicken, stellen wir fest, dass viele Arbeiter und Angestellte der unteren Lohngruppen nach rechts driften. Das passt doch auch nicht ins Marx’sche Weltbild, oder?

MATHIAS GREFFRATH: Doch, das passt ins Bild. Die Sozialdemokratie hat 1959 mit dem Godesberger Parteitag Abschied genommen vom Klassenkampf und ihn eingetauscht gegen die zunehmende Beteiligung am Wohlstand, sprich: soziale Marktwirtschaft. Sie hat die Sozialisierungsforderungen der Nachkriegszeit eingetauscht gegen ein bisschen Mitbestimmung. Und sie hat damit auf einen immerwährenden wirtschaftlichen Aufschwung gesetzt. So lange der da war, lief ja alles ganz gut, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ging es ja für fast alle immer weiter nach oben. Für die einen mehr, für die anderen weniger, aber immerhin für alle nach oben. Als das Wachstum sich verlangsamte, hat man es erst mit Inflation gedopt, dann mit Schulden. Aber dennoch hat das Wachstum sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in etwa halbiert. Also wurde der Sozialstaat, den man ja eingetauscht hatte gegen die sozialistische Revolution, immer weiter zurückgeschraubt. Zunächst wurde das Sterbegeld gekürzt, dann die Renten. Und die Sozialdemokratie hat dann mit Gerhard Schröder und Hartz IV noch eins drauf gesetzt. Die Leute haben das Gefühl, diese Sozialdemokratie ist auf die andere Seite übergelaufen.

Das erklärt aber nicht, dass dieser Rechtsruck vor allem aus dem Osten Deutschlands kam. Eben aus einer Gesellschaft, die bis vor nicht allzu langer Zeit, vermeidlich marxistischen Idealen anhing.

MATHIAS GREFFRATH: Der Marxismus war bei den Menschen in der DDR verhasst. Es war vielmehr die SED, die Marx vor sich hertrug - eine üble diktatorische Stasipartei, die auch darunter litt, dass ihnen die bürgerlichen Eliten abhandengekommen waren, die zu einem Staat dazu gehören. Dass daraus nichts werden konnte, vor allem weil sie auch noch Zulieferer für die Sowjetunion waren, ist kein Wunder. Und nach der Wende wurden diese Ostprovinzen dann zu abgehängten Industrieregionen und insofern vergleichbar mit dem rust belt in den USA, aber auch etwa dem Ruhrgebiet. Sie hatten ja im Ruhrgebiet überhaupt keinen Rassismus, keine Fremdenfeindschaft, so lange dort Italiener, Türken und Deutsche an den Hochöfen zusammenarbeiteten. Jetzt, wo die Industrie weg ist, gibt es etwa in Dortmund ein riesiges Problem mit Neonazis. Der Urschleim, der Rassismus, der Nationalismus auch das Völkische, das alles ist immer da. Es kommt aber erst zum Tragen, wenn ökonomische Brüche nach Erklärungen, nach Gegenwehr, nach irgendwelchen Mechanismen der Selbstbehauptung rufen. Die sind dann zwar falsch, aber erklärbar.

Wenn Sie sagen, wir brauchen mal wieder mehr Marx auf dieser Welt, was bedeutet das an konkreten politischen Schritten? Wo müssten wir ansetzen?

MATHIAS GREFFRATH: Also wenn das Ziel des Marx’schen Kommunismus oder, wie er selber sagt, das Reich der Freiheit, ist, dann muss - in seinem Vokabular - die Organisation des Stoffwechsels mit der Natur an zwei Kriterien ausgerichtet werden: so rational wie möglich, was heißt wissenschaftlich, und so menschlich wie möglich, und das heißt demokratisch. Der Stoffwechsel mit der Natur, das ist das ökologische Problem, das wir als Weltgesellschaft lösen müssen. Und Demokratie ist die Norm, hinter die zumindest in den öffentlichen Bekenntnissen eigentlich keiner mehr zurück will. Zur Erfüllung beider Kriterien fehlt uns eine wirklich sozialdemokratische Partei. Das heißt, dass bestimmte Dinge gesellschaftlich geregelt werden müssen, was unter privatwirtschaftlichen Regimen nicht geschieht.

Zum Beispiel?

MATHIAS GREFFRATH: Zum Beispiel eine Energiewende, die diesen Namen verdient. Zum Beispiel eine Ausbildung, die auf der Höhe unserer Apparate ist und nicht nur ein paar Funktionseliten hervorbringt. Dazu gehörte auch, dass wir nicht nur mit Worten, sondern mit sehr viel Geld und Organisationskraft das Elend der Welt in den Ursprungs- oder in den Herkunftsländern bekämpfen. Das hieße, dass wir Unsicherheit und prekäre Lebensverhältnisse unter Beibehaltung der Marktfreiheit am besten dadurch bekämpfen, dass wir die Sicherung der Rente und die Sicherung der Krankenkassen und ähnlicher sozialstaatlicher Errungenschaften nicht mehr an Arbeit und Beiträge binden. Wenn die Arbeit problematisch wird und wenn unter Konkurrenzbedingungen die Löhne auch nicht weiter steigen, dann brauchen wir eine steuerfinanzierte soziale Sicherung und eine Bürgerversicherung, in die wirklich alle einzahlen, und zwar mit progressiven Tarifen, auch in der Krankenkasse.

Das klingt etwas technisch. Geht es konkreter?

MATHIAS GREFFRATH: Ein Beispiel: Die privatkapitalistische Ausbeutung des Grund und Bodens in den Städten führt dazu, dass die Städte zu Orten werden, in deren urbanen Vierteln nur noch reiche Leute wohnen können. Die Kapitalisierung des Bodens führt dazu, dass bestimmte Formen der Landwirtschaften nicht mehr funktionieren. Es ist fast unmöglich, in Deutschland eine bäuerliche Existenz zu begründen, weil die großen Agrarkonzerne das Land aufkaufen und dort Spritpflanzen anbauen und damit die Natur weiter zerstören. Es gibt bestimmte Aspekte, Gesundheit, Sicherheit, Ernährung, Agrikultur, Urbanität, Bildung, Pflege, die unter privatwirtschaftlichen Aspekten nicht so funktionieren, dass es menschlich ist. Die müssten wir wieder zurückbinden an die Gesellschaft.

Das bedeutet in der Konsequenz Enteignung.

MATHIAS GREFFRATH: Enteignen oder regulieren. Erstmal regulieren. Aber Artikel 14.2 des Grundgesetzes sieht auch die Enteignung als Lösung vor: Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll der Allgemeinheit dienen. Das ist eine moralische Aufforderung, aber auch ein revolutionärer Aspekt unseres Grundgesetzes.

Sie sehen das Ende des Kapitalismus am Horizont aufziehen. Beziehen Sie das vor allem auf die ökologische Krise? Oder wie könnte das Ende des Kapitalismus aussehen?

MATHIAS GREFFRATH: Es gibt drei Aspekte. Am Ende des Kapitels über den relativen Mehrwert schreibt Marx, der Kapitalismus ruiniert die Quellen des Wohlstandes, den Arbeiter und die Erde, also das, was Marx „Springquellen“ des Wohlstands nennt. Dass wir den Boden ruinieren, ist angesichts von abschmelzenden Gletschern und Glyphosat allenthalben offensichtlich. Und der Arbeiter wird ruiniert dadurch, dass man ihn nicht mehr braucht. Es gibt Prognosen, wonach vierzig Prozent oder noch mehr der Arbeitsplätze in den kommenden Jahrzehnten verloren gehen werden. Das halte ich für wahrscheinlich, denn die Zahl der Arbeitsstunden ist seit 2000 nicht mehr gewachsen. Es sind zwar mehr Leute in Beschäftigung, aber die gesamtgesellschaftliche Produktivität ist nicht mehr gewachsen. Die fortschreitende Automatisierung wird dazu führen, dass der Arbeiter überflüssig oder unterentlohnt sein wird. Gleichzeitig sinkt ja nach Maßgabe des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, die Möglichkeit, Profit zu machen. Es wird immer schwieriger, Wachstum zu generieren.

Ohne Wachstum funktioniert der Kapitalismus nicht.

MATHIAS GREFFRATH: Der Kapitalismus gerät auch in Krisen, die er dadurch löst, dass er soziale Errungenschaften wieder abbaut, so dass das gesellschaftliche System anfängt zu bröckeln. Das wird aber nicht zum großen Paukenschlag führen. T.S. Eliot hat gesagt, das ganze wird nicht mit einem großen Krach enden, sondern mit einem Winseln.

Also nicht der große Kladderadatsch?

MATHIAS GREFFRATH: Nein, sondern die Desintegration der Gesellschaft wird zu Erscheinungen führen, die sehr unangenehm werden können. Etwa die globale Migration. Damit zieht das Weltproletariat mit dem Weltkapital gleich. Das Weltkapital operiert global, holt Coltan aus dem Kongo und schickt Hähnchenflügel aus Westniedersachsen nach Westafrika und ruiniert dort die kleinbäuerlichen Landwirtschaften. Im Gegenzug kommen die Bauern aus dem Süden der Welt auf unseren Arbeitsmarkt. Diese Migration ist nichts anderes als die Herstellung von Waffengleichheit. Wenn man das so sieht, dann bekommt man einerseits mehr Angst, aber ist andererseits vielleicht bereit, die Strukturen zu verändern. Auch wenn ich das derzeit nicht sehe.

Sie klingen recht pessimistisch. War Marx auch eher ein Pessimist?

MATHIAS GREFFRATH: Nein, Marx war ein Systemtheoretiker. Er begriff die Welt als ein vom Kapital reguliertes und angetriebenes System mit offenem Ausgang. Ihm war klar, dass die Arbeiter durch eine lange Schule gehen müssen. Und er rief ihnen zu: Wenn ihr euch nicht organisiert, wenn ihr euch nicht zusammenschließt, Gewerkschaften und Parteien gründet, dann werdet ihr enden als eine unterschiedslose Masse armer Teufel, denen keine Erlösung mehr helfen kann. Ich hoffe, so endet das nicht.

Das Gespräch führten Philipp Gessler und Stephan Kosch am 21. November in Berlin.

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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