Bienen auf der Datenfarm

Wie Karl Marx den digitalen Kapitalismus beschreiben würde
llustration: Susann Massute
llustration: Susann Massute
Der Kapitalismus erfindet sich gegenwärtig neu, Daten werden zum zentralen Rohstoff. Der Berliner Physiker Timo Daum, der als Hochschuldozent arbeitet, beschreibt diesen Prozess mit dem Marxschen Vokabular.

Karl Marx beschreibt in seinem Hauptwerk die Logik des Kapitalismus im anbrechenden Industriezeitalter. Und heute? Was würde Marx wohl von unserer Welt halten, vom Internet, von user-generated content, dem Silicon Valley, kurz: Wie würde Marx den „Digitalen Kapitalismus“ unserer Tage analysieren und kritisieren?

Erstens: Kreative Zerstörung. Karl Marx hat es als Charakteristikum der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ausgemacht, dass ihre „technische Basis revolutionär (sei), während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war“. Sie sei kein „fester Kristall“, notierte er vor über 150 Jahren. Der Kapitalismus transformiert sich selbst durch technische Revolutionen, und geht gestärkt aus diesen hervor.

Der Kapitalismus war schon immer von Innovation geprägt und der Lust am Neuen, das das Alte hinter sich lässt: „Move fast and break things“, könnte man mit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg dieses Prinzip beschreiben. Im digitalen Zeitalter hat es sich noch intensiviert: Die Geschwindigkeit technologischer Umbrüche - derzeit etwa der Durchbruch von Technologien künstlicher Intelligenz zum Massenmarkt - nimmt eher zu als ab, gleichzeitig scheinen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen in weite Ferne gerückt.

Disruption, also die Entstehung neuer Geschäftsmodelle und Akteure, die etablierte Firmen vertreiben, wird als gesunder Erneuerungsprozess gefeiert. Der von Marx beeinflusste österreichische Ökonom Joseph Schumpeter nannte das schon vor einhundert Jahren kreative Zerstörung.

Zweitens: Von General Electric zu General Data. Vor zehn Jahren fanden sich unter den fünf wertvollsten Unternehmen der Welt neben dem Software-Giganten Microsoft noch zwei Ölkonzerne, eine Bank und ein Mischkonzern: General Electric. Über ein Jahrhundert lang galt die einzige Firma, die seit der Installierung des Dow-Jones-Index ununterbrochen in diesem firmiert, als Musterbeispiel für effektive Organisation und erfolgreiches Management.

Heute ist General Electric nur noch ein Schatten seiner selbst, das einstmals so profitable Kerngeschäft wird gegenwärtig von seinem Chef John L. Flannery abgewickelt, gerade so, als würde Volkswagen keine Autos mehr bauen. Der zweitgrößte Autohersteller der Welt und Markenzeichen des deutschen Wirtschaftswunders befindet sich ebenfalls in einer tiefen Krise: Der Versuch, die Dieseltechnologie mit gefälschten Abgaswerten zu retten, ist gescheitert, illegale Preisabsprachen in der Branche sind aufgeflogen, ehemalige Manager sitzen im Gefängnis. Auch bei Forschung und Entwicklung hat der Volkswagen-Konzern seine Führungsrolle eingebüßt. Seit 2016 steht ein Online-Einzelhändler weltweit an erster Stelle in dieser Kategorie: Amazon.

Drittens: Digitaler Kapitalismus. In den vergangenen zehn Jahren wurden wir Zeuge des Aufstiegs von Online-Unternehmen in die Riege der mächtigsten, finanzstärksten und profitabelsten Unternehmen der Welt. Heute stehen Apple, Alphabet (Google), Microsoft, Amazon und Facebook mit Blick auf ihren Börsenwert weltweit an der Spitze. Mit ihren Dienstleistungen und Geschäftsmodellen rund um Algorithmen und Daten haben sie unsere Welt grundlegend verändert und ein neues Gesellschaftsmodell hervorgebracht: den Digitalen Kapitalismus. In der digitalen Ökonomie der Plattformen werden Algorithmen zum entscheidenden Produktionsmittel, Daten zum zentralen Rohstoff und Information zur Ware Nummer eins. Sie haben ein „neues Akkumulationsregime“, wie es der Wirtschaftspublizist Nick Srnicek nennt, aus der Taufe gehoben, also ein neues Verwertungsmodell, dessen Hauptaugenmerk nicht mehr die fabrikmäßige Herstellung von Waren und deren Verkauf ist, sondern die Organisation des Zugangs zu Wissen und Information.

Die großen Unternehmen der Digital-Ökonomie haben nicht nur wirtschaftliche sondern auch politische und gesellschaftliche Macht. Ihre Services rund um Web-Suche, Soziale Medien, Orientierung auf der Erdoberfläche, Kanalisierung des Online-Warenverkehrs - sind de facto public utilities geworden, also Dienste informationeller Grundversorgung, vergleichbar mit Strom und Wasser, gleichzeitig aber privatwirtschaftlich organisiert und geheimniskrämerisch orchestriert.

Viertens: Extraktion und Exploitation (Ausbeutung) auf den Plattfomen. Im Digitalen Kapitalismus geraten die Generierung und Verteilung von Information über digitale Plattformen ins Zentrum der ökonomischen und gesellschaftlichen Aktivität. Ist der industrielle Kapitalismus gekennzeichnet durch die Extraktion von Rohstoffen und der Exploitation von lebendiger Arbeit - wie etwa auf einer Offshore-Öl-Plattform - verschiebt sich der Fokus nun zur Extraktion von Daten und der Exploitation von User-Arbeit auf den digitalen Plattformen, die ebendiese durch meist kostenlose Services anlocken.

User statt Arbeiter

Die Plattformen - proprietäre, also nicht frei zugängliche, Anwendungen oder Online-Angebote - stellen eine virtuelle Infrastruktur zur Verfügung und vermitteln zwischen Dritten. Sie sind nicht für die Inhalte verantwortlich, beherrschen aber die Form. Ihnen gegenüber stehen Einzelne, die keinerlei Einfluss auf das Gesamtsystem haben. Die Betreiber bestimmen die Regeln des Spiels, die Spieler sind ihrer Willkür ausgeliefert. Experimente mit Bezahlmodellen oder Änderungen der Privatsphäre-Einstellungen sind an der Tagesordnung. Durch den Netzwerkeeffekt erzielen sie rasch eine Monopolstellung.

Die Plattformen der digitalen Ökonomie unterscheidet eines grundlegend von den Fabriken des industriellen Kapitalismus: Es tummeln sich dort keine Arbeitermassen. Die User sind es, die, angelockt durch kostenlose Dienste, dort Informationen generieren, Verbindungen herstellen und einen nicht enden wollenden Strom an Daten generieren - das Gold des digitalen Kapitalismus.

Fünftens: Nutzer und Arbeiter. In den automobil-futuristischen Sechzigerjahren debattierte man die Frage, ob Tankwarte bald durch Roboter ersetzt werden. Im Zuge einer allgemeinen Technik-Euphorie schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis deren einfache Tätigkeit durch maschinelle Kollegen übernommen werden mit erheblichen Kosten-Einsparungen als Folge. Demgegenüber gaben andere zu bedenken, der Job sei doch zu facettenreich, um von einem Automaten erledigt werden zu können, und außerdem würden die Kunden die menschliche Interaktion sicher vermissen. Schlussendlich hat keine von beiden Seiten Recht behalten. Das Selbst-Tanken kam in Mode und wurde durch begleitende Werbekampagnen als modern und zeitgemäß verkauft. Binnen weniger Jahre machten die Kunden der Tankstellen den Job selbst, die Tankwarte wurden arbeitslos, und von Tankrobotern sprach niemand mehr.

Auch auf den Plattformen des Informationskapitalismus machen die Nutzer fast alles selbst. Die vom Internetpionier Jaron Lanier als „Sirenen-Server“ bezeichneten Datensammelstellen der Plattform-Monopolisten beschäftigen nur eine verschwindend kleine Elite an hochprofessionellen Experten. Eine privilegierte Klasse aus hochdotierten, hochmotivierten Algorithmen- und Daten-Expertinnen und -Experten ist entstanden, eine Art „Arbeiteraristokratie“ (Lenin) des Digitalen Kapitalismus.

Google verarbeitet etwa 40.000 Suchanfragen pro Sekunde. Wäre Google ein Call-Center müsste es ein paar Millionen Such-Agenten in Vollzeit einstellen, um diese Flut zu bewältigen. Tatsächlich arbeiten nur eine Handvoll Spezialisten an und um den Suchalgorithmus, der nach wie vor der Kern von Googles Geschäftsmodell ist. Die Daten wiederum, die von den Such-Robotern unermüdlich durchforstet werden, haben wir alle erstellt - die Inhalte des World Wide Web sind genauso user-generated content wie die Beiträge auf Facebook und Twitter.

Emsig wie Bienen generieren die User unablässig Content und Traffic, produzieren und konsumieren, und erzeugen so einen nicht enden wollenden Strom an Daten, den die Plattform kapitalisieren kann. Big Data ist nichts als eine automatische Datenfarm, auf der das Kapital verwertbare Information ernten oder sie, wie der Imker den Honig, regelmäßig abschöpfen kann. Bloß - die emsigen Bienen, das sind im digitalen Kapitalismus nicht mehr die Arbeiter, die am Fließband stehen, sondern die User, die Konsumenten, die Einzelnen, direkt an die Wissen-zu-Kapital-Transformationsmaschine Angeschlossenen: User Generated Capitalism.

Sechstens: Der Kapitalismus erfindet sich neu. Die Transformation hin zum digitalen Kapitalismus ist in zwei Etappen geschehen. Zunächst geriet der Fordismus - ein Gesellschaftsmodell, das auf industrieller Massenproduktion und Massenkonsum bei relativem Wohlstand aufbaut - in die Krise: Die mikroelektronische Revolution verallgemeinerte seit den Siebzigerjahren die Nutzung von Computern in der Produktion und machte sie als Personal Computer zur Massenware. Seit den Neunzigerjahren und der Erfindung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee findet in einem zweiten Schritt eine globale Vernetzung statt - das Internet wurde zur Meta-Struktur der digitalen Ökonomie.

Mächtige Internetkonzerne sind entstanden, die sich anschicken, der Welt eine neue Ordnung aufzuzwingen, weitgehend geheim und unbehelligt, und mit einer schier unerschöpflichen Kapitaldecke. Der „herrschenden Klasse der digitalen Welt“, wie der Internet-Experte Nenad Romic die digitale Oligarchie aus dem Silicon Valley vor einigen Jahren genannt hat, gelingt es, einen neuen digitalen Kapitalismus aus der Taufe zu heben.

Der Kapitalismus erfindet sich mal wieder neu, und er transformiert die Welt, uns Menschen, unsere Arbeit, unsere Beziehungen gleich mit. Karl Marx hat vor 150 Jahren zwar nicht den Digitalen Kapitalismus vorausgesehen, aber er hat ihn als „umwandlungsfähigen und beständig im Prozess der Umwandlung begriffenen Organismus“, charakterisiert - und damit eindrucksvoll Recht behalten.

Literatur

Timo Daum: Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie. Edition Nautilus, Hamburg 2017, 272 Seiten. Euro 18,-.

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Timo Daum

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