Im Wirbel des #MeToo
Dass es #MeToo-Phänomene auch im Raum der evangelischen Kirchen in Deutschland gibt, überrascht nicht. Schließlich wirken in der Großorganisation Kirche auch nur Menschen, selbst wenn sich der Arbeitsalltag in Gemeinden, Kirchenämtern und kirchlichen Bildungseinrichtungen natürlich in der Regel sehr von dem in der Filmindustrie in Hollywood unterscheidet.
Die internationale Debatte um #MeToo, die seit der Weinstein-Enthüllung im Herbst immer wieder neue Nahrung erhält, erzeugt in verschiedenen Verästelungen immer wieder neue Diskurse. Sie scheint auf jeden Fall nachhaltigerer Natur zu sein, als die meist nur kurzlebigen und eher regionalen Vorläuferdebatten, wie zum Beispiel „#Aufschrei“ im Jahr 2013.
Besonders seit der Veröffentlichung des offenen Briefes von Catherine Millet im Januar, unterzeichnet von einhundert französischen Frauen, unter anderem von Film-Diva Catherine Deneuve, wird deutlich, wie schwer es ist, den Gegenstand von #MeToo präzise zu bestimmen. Zu Beginn des Briefes versucht Millet folgende Differenzierung: „Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber eine beharrliche oder ungeschickte Anmache ist nicht strafbar.“ Dafür erntete sie viel Widerspruch, bekam aber durchaus auch Zuspruch. Zum Beispiel von der Münchner Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Die meinte im Deutschlandfunk, wir sollten „die Schönheit der Liebe, die Schönheit der Verführung, das Raffinement zwischen den Geschlechtern nicht dadurch aufs Spiel setzen (…), dass sich Frauen ausschließlich dadurch definieren, dass sie Opfer von sexuellen Übergriffen waren, sondern auch einen Diskurs möglich machen (…), in dem wir uns selber als Begehrende, vielleicht auch als Objekt der Begierde begreifen“, und damit „in der Lage bleiben, als Subjekt unser Begehren anders zu artikulieren als denn eines, das eigentlich keines hat und eigentlich unschuldig ist und dem das andere immer nur übergriffig aufgedrückt wird.“ Alles klar? Wohl kaum. Komplexe Unschärfe liegt in der Natur eines Phänomens, das unsere Gesellschaft wahrscheinlich noch lange beschäftigen wird, und einer Debatte, in der es immer wieder um das Erringen von Definitionsmacht à la „Was ist gewesen?“ und „Wie ist was - besonders im Kontext vergangener Jahrzehnte - zu bewerten?“ gehen wird.
Die Vorwürfe und Folgen im Zuge von #MeToo betreffen viele Bereiche. Ein Aspekt des Themas lohnt sich, aus spezifisch evangelischer Perspektive zu bedenken: Der lutherischen Theologie ist die Unterscheidung von Person und Werk wichtig. Aufsehen erregte der Vorgang, dass Hollywood-Star Kevin Spacey, der vor über dreißig Jahren einen zur Tatzeit 14-jährigen Jungen sexuell belästigt haben soll und dafür um Entschuldigung bat, aus Ridley Scotts Film „All Money of the World“ herausgeschnitten und die Szenen aufwendig mit einem anderen Darsteller nachgedreht wurden. Das wirft Fragen auf: Ist Spacey wegen Verfehlungen vor Jahrzehnten, für die er - wenn auch in umstrittener Weise - um Entschuldigung bat, auf einmal ein schlechter Schauspieler? Und ist diese moderne Praxis der damnatio memoriae eine adäquate Möglichkeit, mit solchen Verfehlungen umzugehen und Täter dazu zu bringen, ihr Verhalten zu bedenken und zu ändern? Zweifel sind angebracht.
Reinhard Mawick