Die Grautöne mehr beachten

Gespräch mit dem Leipziger Theologieprofessor Rochus Leonhardt über die Bewertung von Lügen im Privaten, bei Martin Luther und in der neueren evangelischen Theologie
Foto: privat
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Das Thema Lüge erfährt in der evangelischen Theologie, anders als in der Philosophie und dem Katholizismus, keine große Beachtung. Deshalb fordert der Leipziger Theologieprofessor Rochus Leonhardt die Erarbeitung einer umfassenden Geschichte der Lüge in der protestantischen Theologie.

zeitzeichen: Herr Professor Leonhardt, haben Sie heute schon gelogen?

Rochus Leonhardt: Darüber muss ich kurz nachdenken. Eigentlich kann ich die Frage guten Gewissens verneinen. Denn ich habe heute, außer mit Ihnen, fast mit niemandem gesprochen. Aber letztlich kommt es darauf an, was man unter einer Lüge versteht.

Und was ist das?

Rochus Leonhardt: Wenn jemand einem anderen Menschen gegenüber eine falsche Angabe macht, und zwar so, dass es nicht ein Irrtum ist, sondern eine bewusste Falschaussage, ist das eine Lüge. Bei dem Wort Lüge schwingt natürlich immer etwas Moralisches mit. Dass man nicht lügen soll, wird ja schon Kindern beigebracht. Aber nebenbei bemerkt: Wenn Kinder anfangen zu lügen, merkt man, dass sie sich entwickeln.

Ist Lügenkönnen also auch ein Entwicklungsstadium eines Menschen?

Rochus Leonhardt: Ja. Natürlich versuchen Eltern, das Lügen zu problematisieren und ihre Kinder zur Wahrhaftigkeit anzuleiten. Aber davon ganz unabhängig: Prinzipiell ist eine bewusst falsche Tatsachenbehauptung nicht immer gleich eine moralisch verwerfliche Lüge. Sondern dies ist sie erst dann, wenn man zu dem Menschen, dem man bewusst etwas Unwahres sagt, in einem bestimmten Vertrauensverhältnis steht.

Also entscheidet die Beziehung zu dem Menschen darüber, ob eine Aussage als Lüge zu bewerten ist?

Rochus Leonhardt: Ja, das halte ich im Blick auf die moralische Beurteilung für das Entscheidende. Gegenüber dem Vertreter einer Diktatur, der wissen will, wie ich politisch denke, und der das höchstwahrscheinlich weitermeldet, verspüre ich keine Wahrheitspflicht. Und wenn mich ein Journalist fragen würde, was ich gewählt habe, würde ich mich nicht verpflichtet sehen, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. Grundsätzlich ist die Welt der sachgerecht feststellbaren Tatsachen zu unterscheiden vom zwischenmenschlichen Umgang mit wahren Fakten.

Das heißt doch, Politiker dürfen Menschen belügen, wenn sie mit ihnen keine direkte Beziehung verbindet.

Rochus Leonhardt: Das ist eine schwierige Frage. Der Soziologe Max Weber hat gemeint, der Politiker sei der Prototyp des Verantwortungsethikers. Und dieser schaut immer auf die Folgen seiner Handlungen. Er kennt daher im Unterschied zum Gesinnungsethiker kein unbedingtes Lügenverbot. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt und ob es nicht Grenzen verantwortungsethisch begründeter Unwahrhaftigkeit gibt. Allerdings: Mit einem radikalen Lügenverbot und dem Absehen von moralischen Grautönen kann ein Verantwortungsethiker nicht leben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einem Spiegelinterview gesagt, ein Politiker dürfe nicht lügen, müsse aber nicht zu jeder Zeit alles sagen.

Rochus Leonhardt: Dieses Interview ist schon viele Jahre alt. Merkel kam damit seinerzeit einer Erwartung entgegen, die politischen Verantwortungsträgern oft entgegengebracht wird. Wer lügt, ist moralisch diskreditiert und damit als Person nicht mehr glaubwürdig. Aber immer wieder zeigt sich, dass Politiker, wenn sie denn Verantwortung tragen, dieser Erwartungshaltung nicht entsprechen. Man muss aber noch hinzufügen: Wenn Politiker der Öffentlichkeit relevante Informationen immerfort vorenthalten, werden sie ihrer Verantwortung ebenfalls nicht gerecht, obwohl sie eigentlich nur schweigen und keine Lüge aussprechen; Lüge ist immer ein sprachliches Phänomen.

Wie ist das denn im Privaten? Ist da die Lüge grundsätzlich unmoralisch oder gibt es auch hier Situationen, in denen sie erlaubt ist?

Rochus Leonhardt: Grundsätzlich würde ich sagen, auch im Privaten gibt es Situationen, in denen man als Belogener hinterher nachvollziehen kann, warum man belogen worden ist. Ich kenne Leute, die Kinder adoptiert und ihnen das von Anfang an gesagt haben. Andere Eltern erzählen den Kindern dagegen erst später die Wahrheit. Und die Kinder werfen ihnen dann vor, jahrelang belogen worden zu sein. Andererseits ist ein Kind erst ab einem bestimmten Entwicklungsstand in der Lage, den Unterschied zwischen biologischer und sozialer Familie zu begreifen, so dass es den Eltern ihr Schweigen vielleicht nicht übelnimmt.

Was ist das Gegenteil von Lüge?

Rochus Leonhardt: Wahrhaftigkeit.

Und das heißt…

Rochus Leonhardt: Wahrhaftigkeit ist ein bestimmter Umgang mit wahren Sachverhalten. Entscheidend ist dabei, dass die Beziehung zu anderen Menschen mit berücksichtigt wird. Und zwar so, dass man weiß: Ich muss in bestimmten Situationen wirklich die Wahrheit sagen, weil mein Gegenüber das erwartet.

Gehen Christen mit Lügen anders um als andere? Oder sollten sie das tun?

Rochus Leonhardt: Ich weiß nicht, ob religiöse Menschen im Allgemeinen ehrlicher sind oder nicht. Ich denke, dass es keine signifikanten Unterschiede zu nichtreligiösen Menschen gibt. Entscheidend ist das Maß an moralischer Sensibilität. Sie kann sich mit religiösen Überzeugungen verbinden, muss es aber nicht. Je moralisch sensibler man ist, desto mehr Gedanken macht man sich im Blick auf die eigene Wahrhaftigkeit. Und man fragt sich: Wem schulde ich wieviel Wahrhaftigkeit? Von Religion ist das zunächst unabhängig. Sie kann zur Begründung eines unbedingten Lügenverbots ebenso herangezogen werden wie zur Rechtfertigung von Lügen, etwa indem man behauptet, Gott erlaube es unter bestimmten Umständen, Anders- oder Nichtgläubige zu täuschen.

Wie wird die Lüge denn in der evangelischen Theologie bewertet?

Rochus Leonhardt: Zunächst einmal ist die Lüge ein individualethisches Thema. Und Individualethik ist in der neueren evangelischen Theologie vielfach randständig behandelt worden. Allerdings: In der Ethik des Heidelberger Theologen Wilfried Härle von 2011 gibt es einen kurzen Abschnitt über die Ethik der Sprache, in dem auch das Thema Lüge angesprochen wird. Insgesamt sind es aber vor allem katholische Theologen, Philosophen oder andere Humanwissenschaftler, die sich intensiver mit der Lüge beschäftigen. Aus meiner Sicht gibt es übrigens bei Luther ein noch nicht hinreichend ausgeschöpftes Potenzial, das für eine genauere Befassung mit dem Lügenthema aktualisiert werden könnte. Im Laufe seiner Entwicklung kam Luther dahin, das gewöhnlich als Begründung des Lügenverbots herangezogene achte Gebot nur noch auf die Lüge zum Schaden des Nächsten zu beziehen. Eine bewusst falsche Tatsachenfeststellung, die dem Nächsten hilft, die klassische Nutzlüge, hat er sogar positiv beurteilt.

Und wie sieht es in der neueren protestantischen Theologie aus?

Rochus Leonhardt: Karl Barth, der die deutschsprachige evangelische Theologie im 20. Jahrhundert ziemlich dominiert hat, verhandelt das Problem der Lüge nur in einem dogmatischen Zusammenhang einigermaßen ausführlich, nämlich in der Sündenlehre. Für Barth besteht die Lüge des Menschen letztlich in einem falschen Gottesverhältnis, der bewusst verkehrten Beziehung zu Christus. Ich darf Barth vorlesen: „Des Menschen schlimme Werktagslüge wurzelt in seiner schlimmeren Sonntagslüge. […] Indem er in der Begegnung mit Jesus Christus zum Lügner wird, wird er es auf der ganzen Linie“.

Was folgt aus einem solchen Ansatz?

Rochus Leonhardt: Angesichts dieses Zugriffs können Einzelfragen der individuellen Lebensführung gar nicht weiter vorkommen. Sie merken: Ich halte nicht viel von Karl Barth. Helmut Thielicke hat im Gegenzug zu Barth in seiner monumentalen Theologischen Ethik gezeigt, dass es auch aus evangelischer Sicht wichtig ist, von einer Schwarz-Weiß-Sicht wegzukommen, die Grautöne stärker zu betrachten und sich ethischen Probleme im Detail zu widmen.

Wie soll das gehen?

Rochus Leonhardt: Seine Stärke liegt darin, dass er den von Barth postulierten Zusammenhang von „Sonntagslüge“ und Werktagslüge“ genauer zu reflektieren versucht. Er behandelt Notlügen in Politik, Diplomatie und Höflichkeit und auch solche, die durch politische Unrechtssituationen bedingt sind. Aber damit verbindet sich natürlich ein Problem: In der evangelischen Ethik ist eine Kasuistik, das heißt der Versuch, einen allgemeinen moralischen Grundsatz auf einzelne Fälle anwendbar zu machen, suspekt.

Aber solche Regeln würden Menschen doch helfen?

Rochus Leonhardt: Aber wer hat die Autorität, solche Regeln zu formulieren? Theologen? Kirchenfunktionäre? Außerdem: Derjenige, der sich an diese Regeln hält, könnte den Eindruck bekommen, er sei dadurch vor Gott gerecht. Eine Kasuistik und Regeln, an die man sich hält, sind im Grunde der Weg in die von Luther bekämpfte Werkgerechtigkeit. Man würde nicht mehr aus dem Glauben heraus handeln, sondern vor allem äußere Gebote erfüllen. Wer möglichst umfassende Anleitungen braucht, wie sie etwa in der katholischen Moraltheologie des Barockzeitalters entwickelt wurden, ist, so würde Luther wohl sagen, zu echtem Handeln aus Glauben noch nicht befreit.

Es ist Luther wichtig, dass man sich trotzdem nicht sicher sein kann. Dass auch eine Lüge, die zum Heil führt, den Lügner nicht schützt. Ist das nicht ein verwirrender Gedanke für den modernen Menschen?

Rochus Leonhardt: Luther unterscheidet immer zwei Ebenen: das Verhältnis des Menschen zu Gott und das zu seinen Mitmenschen. Gott fordert stets das Maximum an Wahrhaftigkeit. Daran hat Luther immer festgehalten. Aber dies können wir gegenüber unseren Mitmenschen nicht durchgängig realisieren. Für Luther hat die Forderung, nicht falsch Zeugnis zu reden wider seinen Nächsten, auch die Funktion, dem Menschen das zu zeigen, was er nicht kann. Die Forderung, nicht zu lügen, ist also nicht einfach mit der Erwartung verbunden, dass sie stets durch alle erfüllbar ist.

Das bleibt schwer zu verstehen.

Rochus Leonhardt: Luther war moralisch hochgradig sensibel. Und deshalb war für ihn jede Unwahrhaftigkeit im Grunde genommen eine Lüge, die gegen das verstößt, was Gott eigentlich von uns will. Auf der anderen Seite leben wir nicht in einer reinen Gottesbeziehung, unbeeinträchtigt von den Ambivalenzen dieser Welt. Im Gegenteil: Wir sind von Gott in die Ambivalenzen dieser Welt hineingestellt, und so müssen wir – nun wieder im Sinne Max Webers – verantwortlich handeln. Es geht also auch um pragmatische Entscheidungen. Eines der prominentesten Beispiele aus dem Alten Testament ist die dreimal unterschiedlich überlieferte Erzählung, in der Abraham seine Frau Sara beziehungsweise Isaak seine Frau Rebekka jeweils als Schwester ausgibt. Diese Lügen sind zwar, so Luther in seinem Kommentar dazu, nicht zu entschuldigen, aber sie sind gleichwohl ein Liebesdienst. Dieser Beurteilungswechsel wurzelt im Handeln Gottes, der unsere moralischen Fehlleistungen so umzubiegen vermag, dass am Ende etwas Gescheites dabei herauskommt. Das ändert aber nichts daran, dass unsere moralischen Fehlleistungen eben Fehlleistungen sind – theologisch: Sünden. Gott macht unsere Lügen also nicht zur Wahrheit. Wir können allerdings nach Luther dankbar dafür sein, dass er uns mit den Folgen unserer Sünde nicht allein lässt.

Was bedeutet das konkret für unser Verhalten im Umgang mit der Lüge?

Rochus Leonhardt: Zunächst muss man feststellen: Lügen ist anstrengender als die Wahrheit zu sagen. Kurzfristig kann es zwar einfacher sein, zu lügen, aber langfristig setzt man sich damit selbst unter Druck. Auf lange Sicht, quasi im Sinne eines Ökonomieprinzips, ist Wahrhaftigkeit die einfachere Option. Allerdings gibt es auch Menschen, die mit ihren Lügen so verwachsen sind, dass sie sich davon nicht mehr frei machen können. Das kann dann auch pathologische Züge annehmen.

Gibt es bei der Bewertung des Lügens konfessionelle Unterschiede?

Rochus Leonhardt: Was dem Willen Gottes gemäß ist, wird sich dem Glaubenden aus evangelischer Sicht jeweils in der konkreten Situation erschließen, kann also nicht in ein Regelwerk überführt werden, das unabhängig von der Situation ist. Im Katholizismus ist dagegen die Kasuistik stärker verbreitet, die durch die Beichtpraxis eine größere Bedeutung gewonnen hat. Es gibt dort eine viel stärkere Orientierung an einem festen und erkennbaren Geländer. Römisch-katholische Moraltheologen haben daher, soweit ich das beurteilen kann, die Tendenz, bei der Behandlung des Lügenthemas etwas konkreter zu werden als evangelische Ethiker.

Gibt es Situation, die zur Lüge zwingen und diese entschuldigen?

Rochus Leonhardt: Unsere Rechtsordnung sieht vor, dass man in bestimmten Situationen, in denen man sich zum Lügen genötigt sehen könnte, keine Aussage machen muss, etwa wenn man sich selbst oder seine Angehörigen vor Gericht belasten würde. In einem Rechtssystem, das eine solche Entlastung nicht kennt, ist nach meiner Auffassung die Lüge moralisch unproblematisch – auch wenn man sich dabei vielleicht nicht ganz wohl fühlt.

Die Philosophie beschäftigt sich mit dem Thema Lüge, die katholische Theologie, die Sozialwissenschaften. Haben Sie eine Idee, warum die evangelische Theologie das nicht tut?

Rochus Leonhardt: Nun, wir tun es ja gerade. Prinzipiell allerdings liegt, wie schon gesagt, in der evangelischen Theologie ein großer Schwerpunkt auf der Sozialethik. Außerdem möchte man nicht in die Falle der Kasuistik und der Werkgerechtigkeit tappen. Zugleich aber gibt es im Blick auf die individuelle Lebensorientierung einen Bedarf an moralischer Orientierung. Eine Grundlage dafür könnte eine umfassende Geschichte der Behandlung des Lügenthemas in der protestantischen Theologie sein. Diese aber ist derzeit leider noch ein Desiderat.

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Reinhard Mawick am 19. Dezember 2017 in Leipzig.

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