Von guten und schlechten Lügen

Warum manche Lügen in der Bibel gebilligt werden und andere nicht
Jusepe de Ribera (1591-1652):„Isaac and Jacob“, 1637. Foto: akg-images
Jusepe de Ribera (1591-1652):„Isaac and Jacob“, 1637. Foto: akg-images
Die Lüge ist in der Bibel oft nicht das, was der moderne Mensch darunter versteht. Deshalb ergeben sich aus dem biblischen Befund auch keine eindeutigen Anleitungen, wie das Lügen zu bewerten ist. Das zeigt der Rostocker Theologieprofessor Martin Rösel auf

Ein wichtiger Aspekt der revidierten Perikopenordnung, die am ersten Advent 2018 in Kraft tritt, ist die stärkere Berücksichtigung alttestamentlicher Texte. Zu ihnen gehört, vorgesehen für den 23. Sonntag nach Trinitatis, der Text Exodus 1,8-20. Er wird künftig Genesis 18,20-33 ersetzen. Statt der Strafe über Sodom und Gomorra wird also künftig mit der Erzählung über die gottesfürchtigen Hebammen eine der klassischen Lügengeschichten des Alten Testaments ausgelegt werden. Eine kürzere Fassung der Geschichte (Exodus 1,15-22) wird überdies zum Gedenken des 9. Novembers vorgesehen. So soll auf das sozialethische Proprium des Gedenktages hingewiesen werden; das Handeln der Hebammen gilt als Vorbild für Zivilcourage.

Exodus 1 erzählt, dass der Pharao den hebräischen Hebammen befiehlt, die neugeborenen Jungen zu töten, die Mädchen aber am Leben zu lassen. Doch die Hebammen fürchten Gott und lassen alle Kinder am Leben. Vom Pharao zur Rede gestellt, lügen sie, dass die hebräischen Frauen „wie die Tiere gebären, bevor die Hebamme kommt, haben sie schon geboren“ (Zürcher Bibel). Der Text schließt mit dem Satz „darum ließ Gott es den Hebammen gut gehen“; die Lüge der Hebammen wird von Gott nicht nur gebilligt, sondern auch belohnt.

Das führt zu der Frage, ob Exodus 1 mit dieser Aussage alleine steht oder als Beispiel für eine breitere Tendenz der biblischen Überlieferung gelten kann. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Texten, in denen eine Lüge im Mittelpunkt des Geschehens steht und gebilligt wird. Solche Erzählungen stehen im Widerspruch zur geläufigen Wahrnehmung der Bibel als ein der Wahrheit verpflichtetes, das Lügen prinzipiell ablehnendes Dokument. Ursache für solche Werturteile sind einerseits Spitzenaussagen wie Johannes 8,44, wonach der Teufel Vater der Lüge sei: Wer lügt, gehört damit auf die Seite des Bösen. Außerdem wird oft auf das achte Gebot in seiner volkstümlichen Variante „du sollst nicht lügen“ hingewiesen. Es ist aber richtiger, mit „du sollst nicht als falscher Zeuge aussagen gegen deinen Nächsten“ (Exodus 20,16) zu übersetzen. Doch zeigt unter anderem die Auslegung in Martin Luthers Kleinem Katechismus „…dass wir unseren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden…“, dass das Gebot zu einer Aufforderung zu prinzipieller Ehrlichkeit entgrenzt wurde. Ursprünglich bezog es sich nur auf eine Situation vor Gericht, in der eine falsche Zeugenaussage zur Verurteilung eines Unschuldigen führen konnte. Die Erzählung von Königin Isebels Justizmord an Nabot in 1.Könige 21 illustriert dies.

Besonders in den narrativen Partien des Alten Testaments findet sich eine ganze Reihe von Überlieferungen, in denen Lügen offensichtlich gut geheißen werden, etwa weil sich Schwache mit ihrer Hilfe gegen Mächtige schützen können. Das ist bei der „Ahnfrau“-Geschichte in Genesis 12 deutlich: Abraham bittet seine Frau Sara zu sagen, dass sie seine Schwester sei, damit die Ägypter ihn am Leben lassen. Dieser Plan gelingt, und obwohl der Pharao später merkt, dass Abraham ihn belogen hat, darf er das Land mit Sara und üppigem Gewinn wieder verlassen - die Lüge hat sich ausgezahlt. Diese Überlieferung begegnet im Folgenden in zwei weiteren Versionen (Genesis 20 und 26), beide mit leichten Veränderungen. Ihnen ist abzulesen, dass spätere Tradenten, also Überlieferer, Anstoß an der Lüge des Stammvaters genommen haben und diese abmildern. In Genesis 20,12 rechtfertigt sich Abraham sogar damit, er habe nicht gelogen, sondern nur nicht die ganze Wahrheit gesagt; Sara sei seine Halbschwester. Als Paradebeispiel für einen erfolgreichen Lügner gilt nach Genesis 27 Jakob, der den Segen seines Vaters Isaak durch eine List seiner Mutter erschleicht. Der Segen bleibt trotz der Lüge gültig, diese wird offenbar gebilligt. In anderen Fällen wird die Lüge ausdrücklich positiv bewertet. So etwa bei Tamar, die nach Genesis 38 ihr Recht gegen ihren Schwiegervater Juda mit einer Täuschung durchsetzen muss. Ausdrücklich erklärt der Betrogene: „Sie ist im Recht“ (Vers 26).

Die Hure Rahab wird belohnt, weil sie die Wächter Jerichos angelogen hat und so die Kundschafter Israels vor der Auslieferung schützte (Josua 2; 6,25) - ein Urbild der Frage, ob man unschuldig Verfolgte ausliefern darf. In den David-Überlieferungen ist schließlich zu lesen, wie Davids Aufstieg zum König durch eine Fülle von Täuschungen und Lügen begleitet wurde. Im Falle von Jonathan, der David mehrfach vor seinem Vater Saul rettet, wird die Lüge sogar als „Barmherzigkeit“ bezeichnet (1.Samuel 20,8). Und noch in hellenistischer Zeit wird im Buch Judit erzählt, wie die fromme Jüdin ihr Volk dadurch rettet, dass sie den Holofernes betrügt und dann töten kann.

Allerdings finden sich auch Erzählungen, die Lügen negativ bewerten. So überführt Gott in Genesis 4 Kain, der vorgibt nicht zu wissen, wo sein Bruder ist. Die Geschichte von Nabot wird in hellenistischer Zeit in der apokryphen Susanna-Erzählung wieder aufgenommen; hier überführt der kluge Daniel die falsch aussagenden Männer.

Im Neuen Testament ist die Notlüge des Petrus, sein dreifaches Abstreiten, Jesus zu kennen, das wohl bekannteste Beispiel (Markus 14). Durch die vorangestellte Ankündigung Jesu und Petrus’ Beteuerung, ihn nicht zu verraten (Markus 14,30f.), wird die Verwerflichkeit der Lüge noch gesteigert, sie erhält zudem den Charakter eines verweigerten Bekenntnisses. Zugleich wird im Fortgang der Erzählung aber auch deutlich, dass Petrus vergeben werden kann, weil er die Lüge bereut (Vers 72).

Aus diesen Geschichten lässt sich folgern, dass für die biblischen Erzähler Lügen zur Realität menschlicher Existenz hinzugehören. Sie sind dann akzeptabel, wenn sie Ohnmächtigen zum Recht verhelfen oder dem hintergründigen Wirken Gottes dienen. Sie sind abzulehnen, wenn sie die Gemeinschaft gefährden. Damit fügt sich die Fragestellung nach der Lüge ein in das hebräische Konzept der „Gemeinschaftstreue“, das keine starren Regelungen im Sinne eines abstrakten Ideals von Gerechtigkeit kennt.

Wenn es also keine prinzipielle Verurteilung der Lüge gibt, wundert nicht, dass in manchen Texten Gott selbst der Vorwurf gemacht werden kann, dass er lüge. Das gilt etwa für die existenziellen Aussagen Jeremias, der sich von Gott verführt oder betrogen fühlt (Jeremia 20,7; 15,18) und diesen Vorwurf noch ausweitet: Ganz Israel ist betrogen (4,10). In der Erzählung über Micha ben Jimla (1.Könige 22) und bei Ezechiel (14,9) wird die Idee eingeführt, dass Gott selbst die Propheten verführt und ihnen Falsches eingibt; hier werden offenbar Erfahrungen mit unzuverlässigen Wahrsagereien reflektiert. In späteren Textschichten, in denen anthropomorphe oder -pathische Gottesvorstellungen zurücktreten, wird dann aber Gottes Zuverlässigkeit betont. Daher kann Numeri 23,19 formulieren, dass Gott nicht wie ein Mensch lügen oder etwas bereuen wird (vergleiche 1.Samuel 15,29). Die oft als klassisch zitierte Aussage „alle Menschen sind Lügner“ aus Psalm 116,11 war allerdings nicht als prinzipielle Aussage gemeint, sondern gibt der Verlassenheit des Beters Ausdruck, der sich nur noch auf Gottes Hilfe stützen kann.

Im deutschen Sprachgebrauch wird unter einer Lüge in der Regel eine sprachliche Aussage verstanden, die absichtlich ganz oder in Teilen unzutreffend ist. In diesem Sinne sind die oben nacherzählten Aussagen der Hebammen oder des Petrus als Lügen anzusehen. Komplexer sind die Dinge bei Jakob, der nicht nur seinen Vater mit der Aussage belügt, er sei Esau, sondern ihn zusätzlich durch eine Verkleidung täuscht. An keiner dieser Stellen fällt im Text ein dem deutschen Wort „Lüge“ äquivalentes Lexem; die Lügen müssen demnach aus dem Gang der Erzählung erschlossen werden.

Und auch wenn sich in einer deutschen Bibel explizit „Lüge“ und das Verbum „lügen“ findet, haben wir es oft mit einer Deutung des Übersetzers zu tun. Mit „Lüge/lügen“ wird eine ganze Reihe von hebräischen Wortwurzeln übersetzt, deren semantische Weite von Falschaussagen bis hin zu „verheimlichen“, „betrügen“ oder „täuschen“ reichen. Hinzu kommt, dass sie sowohl positiv im Sinne von „listig handeln“ als auch negativ im Sinne eines absichtlichen Betrugs konnotiert sein können. Als Beispiel kann Psalm 24,4 dienen, wo die Lutherbibel schreibt: „Wer nicht bedacht ist auf Lüge.“ Die Zürcher ist näher an der Semantik des Hebräischen, wenn sie mit „wer nicht auf Nichtiges seinen Sinn richtet“ übersetzt.

Im Neuen Testament ist der Sprachgebrauch einheitlicher, es begegnen häufig Bildungen mit dem Wortstamm pseud-, bei denen sich die Übersetzung mit „Lüge“ durchaus nahelegt. Doch auch hier ist zu bedenken, dass die Semantik des griechischen eine andere ist als die des deutschen Wortes.

Die Überlegungen zur Semantik werden bedeutsam, wenn abschließend der Blick auf eine Entwicklung gelenkt wird, die sich in den späteren Phasen der Prophetie und der Weisheit vollzogen hat. In älteren Texten werden konkrete Lügen verurteilt, die die Gemeinschaft gefährden (vergleiche Hosea 4,2; Jeremia 7,9), vor allem Falschaussagen vor Gericht (vergleiche Sprüche 14,25: Ein ehrlicher Zeuge rettet Leben, wer aber Lügen vorbringt, ist ein Betrüger.)

In jüngeren Texten geschieht dann aber eine grundsätzlichere Gegenüberstellung von Wahrheit und Lüge. Dabei wird unter „Wahrheit“ analog zu ägyptischen Vorstellungen zum einen die Schöpfungsordnung verstanden, dann aber auch die Tora, die Weisung Gottes (vergleiche Psalm 119,142. 163).

War „Lüge“ früher Charakteristikum falscher Prophetie, wird sie nun zur Kennzeichnung einer generellen Haltung verwendet, die sich gegen Gottes Heilsangebot in Schöpfung und Gebot richtet.

Diese Entwicklung bekommt in der zwischentestamentlichen Zeit eine besondere Dynamik, da sie in apokalyptisch-dualistisches Denken integriert wird. Besonders in den Texten aus Qumran ist ablesbar, dass „Lüge“ nun die Verletzung der wahren Religion bezeichnet. Die Gegner der Gemeinde sind Lügenpropheten, und zu den Nöten der Endzeit gehören Verführungen zu Lügenlehren. Dieses Verständnis wirkt in vielen neutestamentlichen Texten weiter. Zu den Kennzeichen des neuen Menschen nach Epheser 4,25 gehört das Ablegen der Lüge, die Gegner des Paulus gelten als „Lügenbrüder“ (pseudadelphos, Galater 2,4) oder Lügenapostel (2.Korinther 11,13), die Gottes Wahrheit in Lüge verkehren (Römer 1,25). Die Verweigerung des Christusbekenntnisses ist nach 1.Johannes 2,22 als Lüge zu sehen, was auch eine ethische Dimension haben kann, denn auch wer seine Brüder nicht liebt, gilt als Lügner (1.Johannes 4,20).

Da nun die Lüge zu einer umfassenden Deutungskategorie geworden ist, stellte sich auch die Frage nach ihrer Herkunft. Der johanneischen Tradition zufolge ist sie auf den Satan zurückzuführen. Für Paulus, der in Römer 3,4 das „alle Menschen sind Lügner“ aus Psalm 116 aufgreift, ist sie demgegenüber mit der Sünde Adams in die Welt gekommen (vergleiche Römer 5,12).

„Lüge“ ist also in der Bibel oft nicht das, was wir als „Lüge“ verstehen. Daher sind keine einfachen Handlungsanleitungen zu erwarten. Orientierung kann aber die Überlegung geben, dass sich die Bewertung von Lügen an ihrem Nutzen oder Schaden für Gemeinschaften und Beziehungen bemessen lässt.

Literatur:

Maria-Sibylla Lotter: Die Lüge. Reclam Verlag, Stuttgart 2017, 408 Seiten, Euro 14,80.

Rochus Leonhardt/Martin Rösel (Hg.): Dürfen wir lügen? Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2002, 264 Seiten, Euro 28,-.

Martin Rösel

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