Ungelogen

Zeitgeist-Psychoanalyse
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Der Roman fragt, was zu sagen und zu denken erlaubt sei, wo die Lüge beginnt, wo sie endet und wie sehr sie schadet.

Joachim Lottmann ist das Lama der deutschen Gegenwartsliteratur. Er spuckt, manchmal wirklich, stets stilvoll und treffsicher, so dass man was von der Jacke zu reiben hat, und manchmal erwartet man es nur, denn das ist der Ruf des 61-jährigen Schriftstellers und Journalisten. Seine große Kunst sind elegante und subversive Torpedosätze, die unvermutet explodieren, Sätze wie dieser: „Das ist das Schöne bei Intellektuellen, sie können sich immer unterhalten.“ Was jedoch ist gemeint? Dass sie stets Themen haben, geistig rege und ausdrucksfähig sind? Oder können sie bloß virtuos die Klaviatur des Verschweigens bespielen?

Bei dem Schriftsteller Johannes Lohmer und seiner bezaubernden Gattin Harriet, einer linksliberalen Zeitungskolumnistin, liegt die Vermutung nahe. In dem Roman Alles Lüge laufen sie zwar gemeinsam durch das Leben und die Straßen von Athen, Wien, Berlin und Nizza. Sie besuchen angesagte Galerien, Lesungen, Partys, den AfD-Parteitag und Flüchtlingsnotunterkünfte und haben sich stets etwas zu erzählen, politisch wie beziehungstechnisch. Heikles lassen sie aber geflissentlich aus: sie, weil sie vieles fraglos als Konsens erwartet, er, weil er will, dass sie weiter mit ihm schläft. Er spart sich das für Männerfreunde auf oder schreibt es in seinen Büchern, was verlässlich Ärger macht, besonders sein jüngstes Projekt, das unter dem Arbeitstitel „Der zweite Faschismus“ dem Islam gelten soll.

Alles Lüge spielt zwischen dem Frühsommer 2015 und dem EM-Sommer 2016, eine ereignisreiche Zeit, die vom Gipfel der Flüchtlingskrise über Silvester in Köln bis zum LKW-Anschlag in Nizza reicht und Debatten los trat, die noch längst nicht zu Ende sind. Stigmatisierungen und Denkverbote an deren Rändern sind so markant wie die Probleme, die es zu bewältigen gilt – von den Ängsten, dem Pauschalverdacht und den Ressentiments, die sie auslöste, ganz zu schweigen. Sie alle macht sich Lohmer mit Verve zu Eigen. Er erleidet und durchdenkt sie derart offen, dass er sich schon selber fragt, ob er jetzt ein „Rechter“ sei, jedoch ohne Harriet gegenüber Klartext zu reden. Er zieht es vor, weiter zu lügen, und erlebt sich deshalb in ungewollt enger Gesellschaft mit „Mutti“, so manchem Politiker und etlichen Intellektuellen seines Milieus.

Nun ist Lottman für die Lust an wohlfeiler Provokation berüchtigt, so dass man sich fragt, wie viel von ihm in Lohmer steckt. Der Triftigkeit von dessen Gedanken und Vorbehalten tut das keinen Abbruch. Außerdem gehört das Spiel mit dem Alter Ego zu seinem Stil, der es dem Leser erlaubt, Ansichten Raum zu geben, die er sonst vielleicht nie zuließe. Lohmer ist so der Agent eines (selbst-) aufklärerischen Impulses, den der durchaus sympathische Held in schmerzhafter Ehrlichkeit auf die Spitze treibt und so auch beim Leser die eigenen Zweifel und Ressentiments nach oben spült, damit endlich nicht mehr „alles Lüge“ sei. Das mag manche stören, weil Lohmer auf jegliche Political Correctness erfrischend unverklemmt pfeift. Doch wer sich drauf einlässt, erfährt einen Gewinn, der auch noch unterhaltsam ist. Denn in popliteraturtypischer Manier enthält der Roman auch viel witzigen Tratsch, etwa über den Wucht-Katholiken Matthias Matussek und die „Springer-Boys“, und setzt neben die Tabubrüche genüsslich so manche kleinere und große Bosheiten.

Angesichts millionenstarker, unzureichend kontrollierter Zuwanderung und grassierenden Islam- und Anschlagsängsten als akutem Anwendungsfall steht Lottmanns/Lohmers Zeitgeist-Psychoanalyse im Mittelpunkt. „Alles Lüge“ ist insofern auch eminent politisch, indem der Roman fragt, was zu sagen und zu denken erlaubt sei, wo die Lüge beginnt, wo sie endet und wie sehr sie schadet. Ein anregender, durchaus erheiternder Roman.

Udo Feist

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