Hinter der Fassade
In einem Berliner Hof, nur wenige hundert Meter von der ehemaligen Sektorengrenze entfernt, steht etwas, das eigentlich nicht hierher gehört. Eine hohe Mauer schirmt es ab vor neugierigen Blicken. Angeschmiegt an eine Betonwand duckt sich ein Holzhaus, zwei niedrige Stockwerke hoch. Die weiße und schwarze Farbe blättert ab, es sieht ärmlich aus und etwas alt. Doch dieses bescheidene Haus hat für internationalen Medienrummel gesorgt. Und dafür, dass bei Ryan und Fabia Mendoza immer wieder Fremde klingeln, um auf ihren Hof gelassen zu werden. Darauf hatte der Künstler Ryan Mendoza gehofft. Nimm etwas fort von dem Ort, an den es eigentlich gehört, setze es in einen anderen Kontext und warte darauf, dass es endlich vermisst wird. Damit seine Geschichte frei wird.
Die bisherige Geschichte geht in der Regel so: Da war diese stille Näherin, Afroamerikanerin, eine hart arbeitende Frau mittleren Alters, die sonntags in die Kirche geht und gerne die Bibel liest. Die Haare ordentlich hochgesteckt, die Hände im Schoß zusammengelegt, eine fast unsichtbare Brille auf der Nase. Alles an ihr ist manierlich, die Dame alles andere als eine Krawallschachtel. Und als diese Frau sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery im US-Staat Alabama weigert, einem Mann ihren Sitzplatz im Bus zu überlassen, der meint, er stünde ihm eher zu als ihr, weil er weiß ist, und als sie dann von der Polizei festgenommen wird und eine Nacht im Gefängnis verbringen muss, kommt es zu Protesten und Demonstrationen. Martin Luther King kommt, ein Busboykott wird organisiert, die schwarze Bürgerrechtsbewegung kommt in Gang.
Das Ganze dauert eine ganze Weile, aber schließlich siegt das demokratische Bewusstsein der US-Amerikaner und ihr Glaube an die Gleichheit aller Menschen. Der zeitweilige Irrweg der Rassentrennung in den Südstaaten wird überwunden und die Gleichberechtigung von Menschen aller Hautfarben dauerhaft Recht und Realität im ganzen Land. Der Name der manierlichen Dame ist heute jedem Schulkind ein Begriff: Rosa Parks. Sie hat mit ihrer Tat bewiesen, dass ein einzelner Mensch mit Zivilcourage und auf friedliche Weise Geschichte schreiben kann. Eine vorbildliche Bürgerin. Eine Ikone.
Doch wer sich das Haus in Ryan Mendozas Hof genauer anschaut, erfährt, dass die Geschichte vielleicht ein bisschen anders erzählt werden muss. Und dass es mehr als eine Geschichte gibt. Es beginnt nämlich anders. Nicht mit schmerzenden Füßen nach einem langen Arbeitstag. Nicht mit einem Kopfschütteln, als ein weißer Mann drohend den Sitzplatz einfordert. Und schon gar nicht als impulsive Tat, ohne Gedanken an die Folgen, die das Beharren auf die eigene Würde haben würde.
Die Geschichte beginnt zum Beispiel elf Jahre zuvor, mit einer Vergewaltigung. Recy Taylor, 24 Jahre jung, ist in Abbeville, Alabama, auf dem Nachhauseweg vom Gottesdienst, als sie von weißen Männern überfallen wird. Sie entführen sie, missbrauchen sie brutal und drohen ihr, sie umzubringen, sollte sie jemandem davon erzählen. Als Recy Taylor dennoch zur Polizei geht, werfen Unbekannte eine Brandbombe in ihr Haus.
Damals bekommt Recy Taylor Besuch von der adretten Näherin aus Montgomery, die seit 1943 für die schwarze Bürgerrechtsbewegung NAACP (Nationale Gesellschaft für den Aufstieg von Farbigen) politisch aktiv ist. Rosa Parks wird über zwölf Jahre lang als Sekretärin und Rechtsbeistand dieser Organisation unzählige Fälle von Diskriminierung, Brutalität und Lynchmorden protokollieren. Auch für die von Martin Luther King geleitete Bürgerrechtsbewegung „Southern Christian Leadership Conference“ (SCLC) und andere wird sie tätig sein. Die Gewalt, die schwarze Mädchen und Frauen tagtäglich erleben, kennt Rosa Parks nur zu gut. Überall sind sie Verhöhnung, Drohungen, Prügeln und drohendem sexuellen Missbrauch durch weiße Männer ausgesetzt.
Rosa Parks gründet das „Committee for Equal Justice for the Rights of Mrs. Recy Taylor“ – eine Kampagne, die sich bald in zahlreichen Städten verbreitet. Genauso handelt Rosa Parks für Gertrude Perkins, eine andere Afroamerikanerin, die Opfer einer Vergewaltigung wird. In beiden Fällen werden die Täter nie belangt. Aber die Kampagnen machen die Gewalt gegen schwarze Frauen und die Komplizenschaft von Polizei und Gerichten mit den weißen Tätern öffentlich. Es werden nicht die letzten Kampagnen dieser Art von Rosa Parks sein.
Man könnte auch sagen, die Geschichte beginnt 23 Jahre zuvor, mit der Heirat von Rosa und Raymond Parks, einem Barbier und schwarzen Aktivisten, der sich für die „Scottsboro Boys“ einsetzt: neun schwarze junge Männer, die zu Unrecht der Vergewaltigung zweier weißer Frauen angeklagt und zum Tode verurteilt worden sind. Rosa Parks begleitet ihren Mann zu geheimen Treffen – oft mitten in der Nacht – , um die Verteidigung zu organisieren, und bereitet Essen zu, das Raymond Parks den Jungen ins Gefängnis bringt. Sie leben in ständiger Angst. Zwei ihre Mitstreiter werden später ermordet werden.
Alles beginnt auch neun Monate zuvor, mit der Weigerung von Claudette Colvin, ihren Sitzplatz im Bus einer weißen Frau zu überlassen. Claudette Colvin ist gerade fünfzehn Jahre alt. Für ihre Tat erfährt sie wenig Unterstützung, stattdessen gilt sie fortan als Unruhestifterin. Ihr Fall landet zwar vor Gericht, wird aber vom NAAC nicht öffentlich gemacht. Unter anderem, weil sie während des Gerichtsverfahrens von einem verheirateten Mann schwanger wird. Ein rebellischer Teenager weckt weniger Sympathien als eine adrette Dame.
Und es beginnt einen Monat zuvor, mit dem grausamen Lynchmord an einem 14jährigen Jungen in Money, Mississippi. Emmett Till wird von Weißen entführt, gefoltert, erschossen und in einen Fluss geworfen. Eine weiße Frau hatte zuvor angegeben, er habe sie unsittlich berührt. Erst 2007 wird sie ihre Lüge zugeben. Die Zeitungsfotos des toten, entstellten Jungen bestürzen Rosa Parks damals zutiefst, erzählt ihre Nichte Rhea McCauley. Die fast Achtzigjährige lebt in Michigan. Gemeinsam mit ihrer Tochter Louise (43) spricht sie am Telefon von ihrer Tante – oder „Auntie Rosa“, wie sie sie liebevoll nennen. „Das war einer der Todesfälle, die meine Tante am meisten geschmerzt haben“, sagt sie. „Sie trug Zeit ihres Lebens ein tiefes Gefühl von Traurigkeit in sich.“ Rosa Parks nimmt auch zur Mutter von Emmett Till Kontakt auf und bleibt ihr bis zuletzt tief verbunden.
Das ist kennzeichnend für Rosa Parks: Mit fast allen, die in der beginnenden Bürgerrechtsbewegung und später eine Rolle spielen, steht sie in Kontakt. Sie hört zu, reist, nimmt Anteil, organisiert, schreibt Briefe, sammelt Kleidung und Geld, hält Reden, schaut nach Wegen, wie man konkret helfen kann, im Kleinen wie im Großen. „Das hat mich geprägt“, erzählt Rhea McCauley: „Auntie Rosa hat immer sehr hart gearbeitet. Sie hat mich gelehrt, was es heißt, für andere da zu sein, ohne etwas als Gegenleistung zu erwarten. Manchen kommt das schwach vor, aber ich habe es bei Auntie Rosa als Stärke erlebt.“ Man kann fast hören, wie ihre Tochter Luise McCauley am Telefon zustimmend nickt. „Unterdrückerische Systeme“, ergänzt sie, „wollen dem Einzelnen das Gefühl geben: Du kannst sowieso nichts ändern. Sie wollen, dass du dich völlig machtlos und hoffnungslos fühlst.“ Sie lacht laut. „Das war bestimmt nicht die Vorstellung von Auntie Rosa! Sie war eine kleine Person, aber mit einem eisernen Willen!“
Die Sache im Bus? Nur ein konsequenter weiterer Schritt. Nachdem sie aus öffentlichen Wasserspendern getrunken hatte, die „nur für Weiße“ bestimmt waren. Nachdem sie nicht mehr dort kaufte, wo sie selbst nicht arbeiten durfte. Rosa Parks wusste, in welche Gefahr sie sich begab. Aber auch, dass sie genau die Person war, die der NAACP brauchte, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Warum andere dem Risiko aussetzen? Und sie war müde, ihrer eigenen Erniedrigung zuzustimmen.
An dieser Stelle muss man wieder auf das kleine Haus im Hof von Ryan Mendoza zurückkommen. Er hat es nach Berlin gebracht, damit man sich daran erinnert, wo es vorher stand: Im Norden der USA, in Detroit. Und dass Rosa Parks 1957 nach dem Busboykott von Montgomery darin Zuflucht fand, bei der Familie ihres Bruders. „Auntie Rosa konnte wieder atmen“, erinnert sich Rhea McCauley. „Sie wusste, dass sie endlich sicher war.“ Drei Schlafzimmer, Bad und Küche, darin drei Ehepaare und 13 Kinder. „Mein Vater sagte mir damals: Wo Liebe ist, schafft man Raum.“ Zwei Jahre lang lebte sie in dem kleinen Haus; in Detroit blieb sie bis zu ihrem Tod.
„Ich bin nicht der richtige für dieses Haus“, sagt Ryan Mendoza in Berlin. Er ist dafür kritisiert worden, als weißer Amerikaner das Haus zum Kunstprojekt zu machen, und findet selbst, es wäre besser gewesen, wenn ein Schwarzer oder die Stadt Detroit es gekauft hätten. Zehn Jahre lang hatte Rhea Parks jemanden gesucht, der das Erbe ihrer Tante bewahren würde – vergeblich. Der Bürgermeister hat schließlich den Abriss angeordnet. Und dann hört McCauley von Mendoza. Sie vertraut ihm und überlässt ihm das Haus für 500 US-Dollar.
Stück für Stück baut er es auseinander und verschifft es nach Deutschland – in ein Land, von dem er glaubt, dass es mit seiner Vergangenheit ehrlicher umgeht als die USA. In Berlin baut er es eigenhändig und unter großer Kraftanstrengung über Monate wieder auf. Zweimal öffnet er seinen Hof für die Öffentlichkeit. „Es ist nicht mein Haus“, so Mendoza, „es gehört anderen.“ Vor allem viele amerikanische Ex-Pats kommen vorbei. Die Boxlegende Gorge Foreman, ebenso Bundesminister Sigmar Gabriel. Gospels werden gesungen. Rhea McCauley gibt Interviews. Und auf einmal interessiert sich die Welt für das Haus und seine ehemalige Bewohnerin. Mendoza hofft: Das ist der Auftakt für seine Rückkehr in die USA.
Zehn Jahre lang lebt Rosa Parks nach dem Busboykott in bitterster Armut. Trotz ihrer weitreichenden Erfahrungen und Vernetzung als politische Aktivistin bekommt sie weder beim NAACP in Detroit noch vom SCLC oder einer anderen Organisation eine bezahlte Stelle oder Hilfe: Dort hat man die Nöte einer Frau aus der Arbeiterschicht nicht im Sinn, die Jobs bekommen diejenigen mit College-Abschluss. Dazu kommt: Das populäre Bild der „einfachen Näherin“ und „Mutter der Freiheitsbewegung“ hat dazu geführt, dass man die politische Kompetenz und Militanz von Rosa Parks übersieht – bis heute. Rosa Parks wird zum Symbol erhoben – und gleichzeitig darauf reduziert. Erst 1965 holt der Kongressabgeordnete John Conyers sie in seinen Mitarbeiterstab, wo sie bis zu ihrer Rente arbeitet.
In Detroit blieb Rosa Parks ihrem Kampf für die Rechte der Schwarzen von Anfang an treu. Denn auch im Norden ist systematische Rassendiskriminierung bittere Realität – auf dem Wohnungsmarkt, in der Schule, bei der medizinischen Versorgung und in massiver Brutalität der Polizei gegen Schwarze. Sie lebt nahe des Epizentrums der Krawalle von 1967, deren zugrundeliegenden Unmut sie verstehen kann. Sie kooperiert mit Vertetern des „Black Power Movements“, unterstützt die „Black Panther“, nennt Malcolm X ihren „persönlichen Helden“, stellt sich gegen den Vietnamkrieg und fordert Reparationen für die Versklavung.
„Die Legende der ‚nicht-zornigen’ Parks wurde genutzt, um die Bewegung fest in der Vergangenheit zu verorten“, schreibt die Historikerin Jeanne Theoharis. „Mit Parks als schicklicher Heldin mit legitimen Kummer – verglichen mit den Forderungen anderer – konnte man diese dann an den Rand drängen. Was dabei übersehen wird, ist Parks anhaltender Zorn über soziale Ungerechtigkeit.“ Dies zeigt die engen Grenzen, innerhalb derer bis heute politischer Protest von Schwarzen in den USA toleriert wird. „Es gibt dieses Märchen von den USA, in der der Rassismus als überwunden gilt“, sagt Louis McCauley. „Auntie Rosa hat das damals infrage gestellt und ist angefeindet worden. Und so ist das heute noch immer.“
Von all dem könnte das kleine Haus in Berlin erzählen – viel besser noch, wenn es nicht in Berlin wäre. Mittlerweile zerlegt Ryan Mendoza es wieder in seine Einzelteile. Denn das Haus geht erneut auf Reisen: Von März bis Juni wird es am Studienzentrum Sklaverei und Gerechtigkeit der Brown Universität in Providence (USA) stehen. Dazu gibt es eine Ausstellung über Rosa Parks und die Bürgerrechtsbewegung. Bis heute sei der Umgang mit Schwarzen Prüfstein der amerikanischen Demokratie, sagt der Leiter des Zentrums B. Anthony Bogue. Der Arbeitstitel der Ausstellung: „Unfinished Business.“
Natascha Gillenberg
Natascha Gillenberg
Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.