Irdischer Charakter

Über die Paradiesvorstellungen in den Weltreligionen
Wandmalerei: Der Buddha Amitabha in seinem Paradies Sukhávati. Foto: Adelheid Herrmann-Pfandt
Wandmalerei: Der Buddha Amitabha in seinem Paradies Sukhávati. Foto: Adelheid Herrmann-Pfandt
Die Paradiesvorstellungen in den Weltreligionen sind auf den ersten Blick unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie im Grunde vorletzte, irdische Größen bleiben, wie die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt aufzeigt.

Die vielleicht wichtigste Funktion von Religion liegt in der Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Sterblichkeit. Der Tod, der alle Errungenschaften des irdischen Lebens, alle Beziehungen und jeden Besitz in einem Augenblick zunichtemacht, ist das zentrale Sinnproblem des menschlichen Lebens. Alle bekannten Religionen haben daher Ideen dazu hervorgebracht, wie es nach dem Tode weitergeht, sie haben Bilder einer transzendenten Wirklichkeit geschaffen, die über den Tod hinausreicht. Für einige Religionen, darunter die drei Monotheismen Judentum, Christentum und Islam, ist die jenseitige Welt die Endstation, für andere, wie Buddhismus und Hinduismus, ein Durchgangsstadium, von dem aus es über die Wiedergeburt wieder zurück in den Daseinskreislauf geht. Ethisch ausgerichtete Religionen kennen in der Regel nicht nur eine Form der jenseitigen Welt, sondern unterscheiden zwischen Paradies und Hölle, und es hängt von den Taten ab, die jemand im irdischen Leben begeht, ob er oder sie am Ende im Paradies oder in der Hölle landet. Aber was ist das eigentlich, das Paradies?

Das Wort „Paradies“ leitet sich aus dem Awestischen (Alt-Persischen) ab, wo es „umgrenzter Bezirk“ bedeutet und sich zumeist auf königliche Palastgärten bezieht. Im griechischen Alten Testament, der Septuaginta, wird es für den Garten Eden verwendet. Die Vorstellung, das Paradies sei ein Garten, war also von Anfang an mit diesem Begriff verbunden. Im Alten Testament ist das Paradies nicht etwa nur eine Bezeichnung für das, was den Menschen nach dem Tode erwartet, sondern auch für ein goldenes Zeitalter am mythischen Beginn der Menschheitsgeschichte. Aufgrund ihres Ungehorsams gegen Gott werden Adam und Eva, die ersten Menschen, jedoch aus dem Paradies vertrieben und müssen von da an ein entbehrungsreiches, schmerzvolles und unausweichlich auf den Tod zulaufendes Leben auf der Erde leben. Das Paradies, in das Menschen nach ihrem Tode zu gelangen hoffen, ist also der Ort, den die Menschheit am Anfang ihrer Geschichte aus eigener Schuld verloren hat.

Zugleich wird an der Paradiesgeschichte auch deutlich, dass das mit diesem Begriff verbundene Jenseits der irdischen Wirklichkeit weitgehend ähnelt. Das biblische Paradies ist ein Garten von der Schönheit irdischer Gärten, mit Pflanzen, Tieren und Menschen, aber ohne die Härten irdischen Daseins, ohne Gewalt, ohne Sünde und ohne den Tod (vergleiche Jesaja 11,6 und 9). Das Bild des Paradieses im Islam ist von biblischen Vorstellungen beeinflusst und bedeutet auch hier eine Fortsetzung des irdischen Lebens mit bestimmten Veränderungen. Alle Verstorbenen müssen sich nach dem Tode einer Prüfung unterziehen. Diejenigen, die nicht als Ungläubige oder aufgrund ihrer bösen Taten in der Hölle landen, erhalten je nach ihren Verdiensten einen Platz im Himmel, die Frömmsten am weitesten oben.

Eine Sonderrolle spielen Märtyrer, die im Kampf für den Islam gefallen sind: Sie gehen ohne Prüfung ins Paradies ein, in dem Ströme von Wasser, Milch und Wein fließen, Früchte wachsen und zahlreiche Jungfrauen – eine Quelle spricht von 70 mal 70 – auf jeden männlichen Märtyrer warten. Die höchste Belohnung für sie ist jedoch, dass sie Allah schauen dürfen. Interessant ist, dass sowohl hinsichtlich der Zahl der Jungfrauen pro Märtyrer (ein Mann darf maximal vier Frauen haben) als auch des Weingenusses die irdischen Verbote im Paradies aufgehoben sind. Was für eine Belohnung Märtyrerinnen bekommen, bleibt im Unklaren.

In den indischen Religionen ist die Paradiesvorstellung mit der Wiedergeburtslehre verknüpft. Auch im Hinduismus ähnelt das Jenseits prinzipiell dem Diesseits, so ist zum Beispiel die soziale Schichtung und Abgrenzung der Kasten gegeneinander auch im Jenseits präsent. Wer durch gute Taten gutes Karma angesammelt hat, kann einen paradiesähnlichen Zustand genießen, während Bösewichte in einer der vielen Höllen schmoren. Beides, Paradies wie Hölle, sind jedoch stets nur vorläufig; niemand muss sich vor ewiger Verdammnis fürchten oder kann ewige Glückseligkeit erhoffen, da böses oder gutes Karma sich verbraucht und dann eine neue Wiedergeburt in einem anderen Weltbereich ansteht. Als endgültiges Ziel des Menschen sieht der Hinduismus jedoch die völlige Erlösung (moksha) aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Drei Wege, unter denen die Gläubigen wählen können, führen traditionell zu diesem Ziel: der Weg der Liebe, der Weg des Wissens und der Weg der Tat. Wer die Erlösung gefunden hat, befindet sich jenseits der irdischen Welt, aber auch jenseits von allen Paradiesen und Höllen, in einem Zustand, der mit irdischen Mitteln weder nachvollziehbar noch verständlich ist.

Auch im Buddhismus, der ja aus einer Frühform des Hinduismus hervorgegangen ist, finden wir diese Unterscheidung in vorläufiges und endgültiges Jenseits, in Paradies/Hölle und Erlösung (nirvana). Wer viel gutes Karma angesammelt hat, kann in einem so genannten Reinen Land wiedergeboren werden, wo er eine lange Zeit des Glückes erlebt, bevor dann auch hier das gute Karma verbraucht ist. Das berühmteste „Reine Land“ des Buddhismus heißt Sukhávati (die Freudevolle), wird im Westen lokalisiert und von einem Buddha namens Amitabha beherrscht. Wie die Paradiese der monotheistischen Religionen wird auch Sukhávati als idealisierter Garten beschrieben. Auch hier geht es, wie im muslimischen Paradies, noch um körperliche und spirituelle Lust. Sukhávati hat jedoch auch eine befremdende Eigenschaft: alle in ihr wiedergeborenen Wesen kommen als Männer auf die Welt. Sie werden nicht aus dem „unreinen“ Mutterschoß geboren, sondern aus „reinen“ Lotosblüten. Die „Reinheit“ des „Reinen Landes“ basiert also auf der Ausgrenzung der Frauen und auf der Fiktion, dass das männliche Geschlecht aus unerfindlichem Grunde „reiner“ sei als das weibliche. In Ostasien, vor allem in Japan, sind eigene Schulen des Buddhismus entstanden, die sich nur mit dem Buddha Amitabha (japanisch Amida) und seinem „Reinen Land“ beschäftigen.

Trotzdem hat auch im Buddhismus die Wiedergeburt in einem solchen „Reinen Land“ lediglich vorläufigen Charakter. Die wahre Erlösung eröffnet sich nur dem, der sein Karma, positives wie negatives, komplett aufbraucht und das Nirvana erreicht, einen Zustand jenseits jeder Beschreibbarkeit, in dem es zur völligen Beruhigung aller Emotionen, ja zum „Verlöschen“ – so die Bedeutung des Sanskrit-Begriffes nirvana – kommt. Auch für Buddhisten ist dieser Zustand, der mit dem moksha der Hindus vergleichbar ist und ebenfalls in manchen Schulen Frauen ausschließt, die eigentliche Erlösung. „Es gibt, ihr Mönche“, so der frühbuddhistische Text Udana in einer berühmten Passage, „ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, Ungeformtes. Wenn es ein solches Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, Ungeformtes nicht gäbe, so könnte aus der Welt des Geborenen, Gewordenen, Erschaffenen, Geformten keine Befreiung erkannt werden.“

Eine Eigenschaft, die östliche und westliche Paradiesvorstellungen miteinander teilen, ist die Idee, dass ein Paradies oder „Reines Land“, trotz seiner eher transzendenten Natur, auch auf der Erde angesiedelt sein kann. Forschungen über den jüdischchristlichen Garten Eden haben ergeben, dass er vermutlich ursprünglich in einem bestimmten Gebiet im Zweistromland lokalisiert wurde, dass also etwa die im biblischen Text genannten Flüsse des Paradieses mit irdischen Flüssen identifiziert wurden. Die Verfasser der Bibel haben offenbar geglaubt, dass das Paradies innerhalb der irdischen Welt anzusiedeln sei. Einen ganz ähnlichen Status genießt im tibetischen Buddhismus das Land Shambhala, in dem laut dem Mythos das Kalacakra-Tantra, ein berühmter Text, entstanden sein soll. Irgendwo im Norden soll Shambhala liegen, und die tibetische Literatur weist sogar Wegbeschreibungen dorthin auf, die allerdings nicht wirklich zu einem geographisch fixierbaren Ort führen.

Auf dem Shambhala-Mythos basiert wiederum die zunächst rein literarische Fiktion von „Shangri La“, einem irdischen Paradies irgendwo in einem verborgenen Tal in Tibet, in dem Menschen friedlich, leidenschaftslos und ohne zu altern zusammenleben. Der Mythos von Shangri La, erfunden von James Hilton in seinem Roman „Der verlorene Horizont“ (Lost Horizon, 1933), entfaltete eine solche Strahlkraft, dass er nicht nur das mystifizierende Tibetbild im Westen maßgeblich prägte, sondern die chinesische Regierung sogar dazu veranlasste, nach der Gegend zu suchen, die Hilton als Vorbild für seinen Mythos gedient haben könnte, und dann die entsprechende Region, Teil der Provinz Yunnan, in „Shangri La“ umzubenennen. Natürlich war der Grund nicht ein Glaube an den Mythos, sondern der Wunsch, den westlichen Tourismus zu fördern.

Der Pluralismus unserer heutigen Gesellschaft hat zur Folge, dass die Jenseits- und Paradiesvorstellungen sich vervielfältigt haben und auch innerhalb einer Religion bei verschiedenen Personen stark voneinander abweichen können. Im westlichen Buddhismus gibt es Praktizierende, die nicht an Wiedergeburt und demnach auch nicht an „Reine Länder“ als potentielle Wiedergeburtsorte glauben, sondern daran, dass mit dem Tode alles aus sei. Für manche Christen ist der biblische Glaube an die endzeitliche Überwindung des Todes angesichts der globalen Überbevölkerung wenig attraktiv, jedenfalls solange man tatsächlich von einer körperlichen Auferstehung ausgeht. Auch der Glaube an ein Jüngstes Gericht, infolge dessen ein Teil der Menschen in die Hölle, ein anderer in den Himmel beziehungsweise ins Paradies gelangen soll, überzeugt viele Christen nicht mehr, auch aufgrund der Angst, die vielen Menschen durch diesen Glauben vermittelt worden ist.

In Religionen, die sich im Zuge der New Age-Bewegung als Alternative zum Christentum gebildet oder erneuert haben, ist das Interesse an einem Jenseits daher oftmals gering, und es geht ihnen eher um die spirituelle Gestaltung des Lebens hier und jetzt. Ein populäres neuheidnisches Lied, das bei Trauerfeiern gern gesungen wird, zieht zwar Trost aus einer Ewigkeitsvorstellung, die sich aber rein diesseitig auf die vier Elemente bezieht und auf Jenseitsbilder komplett verzichtet: „Sie bleiben, wenn wir nicht mehr sind./ Erde und Meer, Feuer und Wind./ Sie bleiben, wenn wir wiederkehr’n./ Die Erde wird grün, und am Himmel ein Stern.“

Die deutsche Religionswissenschaftlerin und pagane Priesterin Donate Pahnke McIntosh, die ich für diesen Artikel interviewte, sagte mir, dass sie den weitverbreiteten Glauben vieler Neuheiden an das „Sommerland“, ein Paradies in Form einer Insel mit Apfelbäumen und einer heilenden Quelle, nicht teile, ebenso wenig wie den Glauben an eine persönliche Seele, die wiedergeboren werden könne. Sie bezweifelt, dass man überhaupt irgendetwas über das Leben nach dem Tode wissen könne, weil niemand von dort zurückgekommen sei und selbst Nahtoderlebnisse höchstens etwas über den Übergang vom Leben zum Tod, aber nichts über den Zustand nach dem eingetretenen Tode enthüllen könnten. Das bedeute jedoch nicht, dass sie ihre Zweifel in irgendeiner Form propagiere. In ihrer Arbeit als Seelsorgerin und Trauerrednerin sei es ihr wichtig, Jenseitsvorstellungen und Glaubensaussagen ihrer Klientinnen und Klienten nur dann zu hinterfragen, wenn sie ihnen Angst machten. Sie habe schon erlebt, dass jemand aus Furcht vor dem jenseitigen Gericht nur unter inneren Qualen habe sterben können. „Alles, was Angst macht, ist falsch, und alles, was tröstet, hilft“, sagt sie.

Nach ihrer eigenen Jenseitsvorstellung befragt, bekennt sie: „Die Göttin hat mich mein ganzes Leben lang begleitet, und so wird sie auch im Augenblick meines Todes bei mir sein. Im tiefen Vertrauen auf sie werde ich an ihrer Hand über die letzte Schwelle gehen. Dann wird ja deutlich werden, was danach kommt – wenn denn überhaupt etwas kommt. So wie im Leben vertraue ich auch im Tode auf ihre allumfassende Liebe und Weisheit.“ In ihrem Desinteresse an Paradiesbildern und ihrem völligen Vertrauen auf die geglaubte Gottheit kommt eine solche pagane Spiritualität meinem Eindruck nach der christlichen Jenseitshoffnung nahe, wie sie der Marburger Theologe Hans-Martin Barth beschrieben hat: „Auch das Christentum kennt phantasievolle Schilderungen des Paradieses oder abstrakte Verheißungen von Freiheit. Aber die eigentliche Hoffnung der Christen und Christinnen ist damit nicht getroffen. Sie besteht nicht in einem wie auch immer gestalteten ‚Fortleben‘, sondern in der durch nichts beeinträchtigten Nähe zu Jesus Christus, dem Bürgen und Inbegriff unüberbietbarer Liebe. … Der dreieine Gott verheißt nicht ein ‚Auferstehungsleben‘ oder ‚himmlische Seligkeit‘, überhaupt nicht ‚etwas‘, sondern sich selbst.“

Damit reiht sich auch das Christentum ein in die Gruppe jener Religionen, die im Paradies und allen mit ihm verbundenen Verheißungen etwas sehen, dass angesichts „echter“ Erlösung nur einen vorläufigen und wenn man so will, irdischen Charakter hat.

Adelheid Herrmann-Pfandt

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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