Papphund zum Überleben
Miriam schaut Hannah direkt in die Augen. Die Kleine ist wahrscheinlich um die sieben oder acht Jahre alt. Miriam lächelt verschmitzt von unten, hält das Gesicht etwas schräg, hat eine kleine Zahnlücke, ein schmales Gesicht. Die Haare gehen ihr gerade über die Ohren. Hannah meint, Miriam sieht aus wie ein Mädchen, das sie schon einmal auf der Straße gesehen hat. Doch das kann nicht sein. Das Foto von der lächelnden Miri entstand 1942, als Miriam Sommerfeld-Israi acht Jahre alt war. Sie war eines der 3.500 Kinder, die während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis hier gefangen gehalten wurden.
Seit April widmet die Gedenkstätte Bergen-Belsen den Kindern im KZ eine Sonderausstellung. Hannah Prilop besucht sie als Teilnehmerin der Anne-Frank-Friedenstage, die zum sechzehnten Mal in Bergen stattfanden. Sie steht kurz vorm Abitur, hat blonde lange Haare und ein befreiendes Lachen. Doch jetzt sieht Hannah ernst aus. Originaltonaufnahmen und Fotos zeigen, wie die inhaftierten Eltern versuchten, ihren Kindern in Zeiten von größter Not und Menschenverachtung eine Form von Normalität zu schaffen. Die Mutter der kleinen Miriam auf dem Foto erfand zum Beispiel einen Hund, den sie auf eine Pappe aufmalte. „Sie erzählte uns jeden Morgen, was er machte, wohin er ging, wen er traf und wen er fraß“, erzählte Miriam nach der Befreiung des KZs britischen Soldaten in einem Tonbandinterview. Andere Eltern richteten im Lager eine provisorische Schule ein, erstellten handschriftliche Zeugnisse. Hannah kann sich das kaum vorstellen. „Dass die Kinder Himmel und Hölle mit den Leichen gespielt haben, überhaupt mit Leichen spielten oder dazwischen umherliefen – einfach schrecklich“, sagt sie. Sie wirkt trotzdem nicht überwältigt, schaut sich jedes Exponat bis zum Ende an. Die Ausstellung erzählt die Geschichte der Kinder sensibel und leise, ungeschönt, aber nicht unerträglich.
Hannah läuft langsam auf dem Gelände der Gedenkstätte in Richtung einer Steinwand. Dort erinnern Inschriften auf russisch, jiddisch, hebräisch, polnisch und vielen anderen Sprachen der Opfer an das, was hier geschehen ist. Neben Hannah gehen die anderen Jugendlichen, die zu den Anne-Frank-Friedenstagen nach Bergen angereist sind. Sie sind zwischen 15 und 18 Jahre alt und kommen aus Polen, Tschechien, den Niederlanden oder Deutschland. Die Sonne scheint, die Schülerinnen lachen manchmal, schauen zwischendurch auf ihre Smartphones, andere sehen ernster aus. Wer sie ist. Immerhin ist dies auch der Ort, an dem Anne Frank umgebracht wurde, die am 12. Juni 89 Jahre alt geworden wäre. „Ich fühle auch nichts“, sagt eine Schülerin und zuckt die Achseln. Ein anderer winkt gelassen ab, zieht die Schultern hoch. „Don’t worry“, sagt er. „Du musst Dich ja auch nicht traurig oder schuldig fühlen“, meint Katharina Hoopmann von der Stadt Bergen, die die Anne-Frank-Friedenstage organisiert hat und die Schülerinnen begleitet. „Ihr habt es ja nicht miterlebt und euch trifft keine Schuld.“
Als sie Kind war, war der Umgang mit der Vergangenheit in der Gedenkstätte noch ein anderer. „Es gab einen Raum mit überdimensionalen Fotos von Leichenbergen und man spürte einen erhobenen Zeigefinger“, meint sie. Doch das ist lang vorbei. Heute geht es darum, sich zu erinnern – aber ohne Schuldgefühle zu erzeugen. „In den Siebziger- und Achtzigerjahren hat man noch etwas betrieben, was ich als ‚Überwältigungspädagogik‘ bezeichnen würde“, sagt Jens Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seit 1977 existiere aber der so genannte Beutelsbacher Konsens zur Politischen Bildung, der von den Landeszentralen für politische Bildung erarbeitet wurde. „Der fordert zwei Dinge: Zum einen das Überwältigungs-Verbot und das Kontroversitäts- Gebot. Das muss meines Erachtens hochgehalten werden.“
Deutlich widerspricht Wagner daher dem Vorwurf des „Schuldkultes“ in den Gedenkstätten, wie ihn AfD-Politiker immer wieder formulieren. „Den hat es nie gegeben.“ Die Gedenkstätten förderten eine Auseinandersetzung mit der Geschichte mit dem Ziel, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu vermitteln und in die Gesellschaft hineinzutragen. „Wir wollen ein kritisches, reflexives Geschichtsbewusstsein, und das ist etwas komplett anderes als ein Schuldkult.“
Fast mehr Sorgen als der Geschichtsrevisionismus der AfD macht ihm aber die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der NS-Geschichte und ihren Opfern – und die reiche bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Von 1945 bis zum Beginn des neuen Jahrtausends sei die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch grundlegend für die demokratische Selbstverständigung in der Bundesrepublik gewesen und es sei darüber gestritten wurde. Doch das gesellschaftliche Klima habe sich geändert, nicht nur was die AfD anbelangt. „Allgemein habe ich den Eindruck, dass jüngere Menschen, insbesondere die um Dreißig- oder Vierzigjährigen, die in der Politik oder Wirtschaft in Entscheidungspositionen gelangen, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für nachrangig halten.“
Wichtig sei es daher, in der Gedenkstättenarbeit Aktualitätsbezüge aufzuzeigen. „Denn das ist die zentrale Frage der Gedenkstättenarbeit: Was geht mich das eigentlich an? Und wenn die Jugendlichen dann feststellen könnten, so unterschiedlich sind die Grundvoraussetzungen für das, was im Nationalsozialismus passiert ist, nicht von den Grundvoraussetzungen, die wir heute hier in Deutschland oder auch anderen Ländern haben, dann lassen sich Aktualitätsbezüge herstellen, ohne ahistorische Analogien zu behaupten.“
Esther Gardei
Esther Gardei
Esther Gardei ist Journalistin und wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Bonn.