Gnade für Deutschland

Klartext
Foto: privat
Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Wandel.

Offen für Fremde

11.Sonntag nach Trinitatis12. August

Weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Jesus Christus gekommen. (Galater 2,16)

Es erstaunt und fasziniert, dass sich das Christentum von einer kleinen jüdischen Gruppe zu einer Weltreligion entwickelt hat, der über zwei Milliarden Menschen angehören. Dafür haben missionarische Strategien gesorgt, aber auch glückliche kulturelle, politische und wirtschaftliche Umstände. Aber am Anfang steht das, was im Galaterbrief zu lesen ist. Paulus siegt beim Streit darüber, welche Bedingungen Nichtjuden, in der Lutherbibel „Heiden“ genannt, erfüllen müssen, um Christen zu werden und zu bleiben. Sie müssen sich nicht beschneiden lassen, bestimmte Speisen meiden und den Sabbat einhalten. Mit anderen Worten: Durch den „Glauben an Jesus Christus“ haben Nichtchristen einen unmittelbaren Zugang zum Gott der Juden. Sie müssen also nicht zum Judentum übertreten. So nimmt das Christentum die universalistischen Traditionen des Alten Testamentes auf und überwindet die Grenzen von Sprachen, Kulturen und Nationen.

Und für Christen ist das nicht einfach eine historische Tatsache, sondern ein wichtiger Teil ihres Glaubens. Sie bekennen, dass die Katholizität, sprich: die Universalität, das Wesen der Kirche ausmacht. Die Feststellung, dass der Mensch nicht „durch Werke des Gesetzes“ gerecht wird, sondern „durch den Glauben an Jesus Christus“, ist im Lauf der Kirchengeschichte oft missverstanden worden. Zum einen ist den Juden unterstellt worden, sie würden religiöse und moralische Weisungen nur befolgen, um in den Himmel zu kommen. Zum anderen ist vergessen worden: Wer an Jesus Christus glaubt, lässt sich auf den ein, der laut Matthäus (7,21; ähnlich bei Lukas 6,46) verkündigt hat, dass nicht die, die zum ihm „sagen Herr, Herr, in das Himmelreich kommen“, sondern diejenigen, die Gottes „Willen tun“.

Der Weg zu solchem Tun führt für Christen nicht über das jüdische Gesetz, die Tora und ihre Auslegung, sondern eben über Jesus Christus. Christen sollten wie Martin Niemöller (1892–1984), einer der führenden Männer der Bekennenden Kirche, immer wieder fragen: „Was würde Jesus tun?“ Mit anderen Worten: Entspricht das, was ein Christ im privaten Bereich wie in Politik und Wirtschaft tut, dem alttestamentlichen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, das nach Jesus den Kern des „Gesetzes“ ausmacht?

Wacher Blick

12.Sonntag nach Trinitatis, 19. August

Er (Petrus) ergriff ihn (den Gelähmten) bei der rechten Hand und richtete ihn auf. (Apostelgeschichte 3,7)

Die Fernsehnachrichten zeigen laufend Bilder des Elends, Menschen, die unter Unfällen, Naturkatastrophen, Armut, Hunger, Krieg und Unterdrückung leiden. Und wer in einer Metropole lebt, begegnet dauernd Obdachlosen, deren Gesichter von Alkohol und dem Leben unter freiem Himmel gezeichnet sind, und Bettlern aus Südosteuropa, die verstümmelte Gliedmaßen zur Schau stellen. Da liegt es nahe, nicht mehr hinzusehen. Denn wegsehen schützt die Seele. Aber es kann ihr auch schaden. Es kann Mitleid dämpfen oder ersticken und den Blick für soziale und wirtschaftliche Probleme trüben. Auch an dem Gelähmten, der nach der Apostelgeschichte „täglich“ vor dem Tempel saß und bettelte (Vers 2), dürften die meisten Gottesdienstbesucher achtlos vorbeigegangen sein. Petrus dagegen „blickte ihn an“ (Vers 4). Dann sprach er den Mann an und befahl ihm „im Namen Jesu Christi“ aufzustehen (Vers 6). Und Petrus beließ es nicht bei Worten, sondern „ergriff“ den Gelähmten „bei der rechten Hand und richtete ihn auf“ (Vers 7).

Was die Apostelgeschichte hier erzählt, kann man auch als Gleichnis dafür deuten, wie Christen handeln sollen. Am Anfang stehen das Hinsehen, die Analyse und Beurteilung der Lage. Dann kommt das Reden, aufmunternde Worte – und wenn nötig auch der lautstarke Protest gegen Menschen und Strukturen, die Mitmenschen Leid zufügen. Und schließlich folgt die Aktion, das Aufrichten des Einzelnen und die Mitwirkung an der Errichtung einer gerechteren Gesellschaft. Diese Interpretation mag überzogen sein. Aber die Erzählung aus der Apostelgeschichte und die anderen Heilungsgeschichten, die das Neue Testament überliefert, machen deutlich: Christen sind nicht nur zur Seelsorge verpflichtet, sondern auch zur Leibsorge. Aber das ergibt sich schon aus der Überzeugung, dass in Jesus Christus das Wort „Fleisch“ geworden ist (Johannes 1,14).

Neue Chance

13. Sonntag nach Trinitatis, 26. August

Der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. (1. Mose 4,4–5)

In Familien mit mehreren Kindern kommt es immer wieder vor, dass die Eltern das Nesthäkchen bevorzugen. Und die Geschwister fühlen sich zurückgesetzt. Ihr Groll steigert sich meist nicht zum Mord, aber er entlädt sich oft beim Erben. Bei Kain ist es nicht der irdische, sondern der himmlische Vater, der das jüngere Kind, Abel, zu bevorzugen scheint. Das weckt im Älteren Neid, Eifersucht und mörderische Wut. Ähnlich reagierten Christen, nachdem sich die Kirche vom Judentum gelöst hatte. Nur dass die Geschwisterfolge bei den beiden Schwesterreligionen anders war als bei Kain und Abel. Die Jüngere konnte nicht verwinden, dass die Ältere Gottes erste Liebe war. Vergeblich versuchten die Christen die Juden zu enterben. Dass diese aber trotz aller Verfolgungen den Bund mit Gott nicht kündigten und ihrem Glauben treu blieben, erfüllte Christen mit einer Mordswut. Und sie steigerte sich, als Juden gleiche Bürgerrechte erhielten und sie in den freien Berufen, in Kultur und Wissenschaft erfolgreich waren.

Wie Kain „senkten“ die Christen „finster ihren Blick“. Und sie wandten ihn ab, nachdem die Nazidiktatur begonnen hatte. 1935 verfasste die Berliner Lehrerin Elisabeth Schmitz (1893–1977) für die Bekennende Kirche eine Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“. Anhand von Berichten reichsdeutscher Tageszeitungen (!) beschrieb sie, wie die Nazis jüdische Deutsche drangsalierten, um sie aus ihrer Heimat zu vertreiben. In der Denkschrift, sechs Jahre vor der systematischen Deportation der deutschen Juden, warnte Schmitz vor dem „Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland“. Und sie prophezeite, die evangelische Kirche werde wegen ihres Schweigens auf die Frage nach dem Bruder Abel „einst“ die „Kainsantwort“ geben müssen.

Ähnlich wie Kain befürchteten die nichtjüdischen Deutschen 1945, dass sich das, was sie getan oder unterlassen hatten, bitter rächen würde. Aber das geschah so wenig wie bei Kain. Vielmehr erhielten die Deutschen, zunächst im Westen, die Chance, eine Demokratie und die Wirtschaft aufzubauen, Theologisch lässt sich das und die Wiedervereinigung als unverdiente Gnade deuten. Ihre Dankbarkeit dafür können Christen zeigen, indem sie zusammen mit allen anständigen Mitbürgern die Verrohung in der Gesellschaft bekämpfen und die Demokratie verteidigen.

In Familien mit mehreren Kindern kommt es immer wieder vor, dass die Eltern das Nesthäkchen bevorzugen. Und die Geschwister fühlen sich zurückgesetzt. Ihr Groll steigert sich meist nicht zum Mord, aber er entlädt sich oft beim Erben. Bei Kain ist es nicht der irdische, sondern der himmlische Vater, der das jüngere Kind, Abel, zu bevorzugen scheint. Das weckt im Älteren Neid, Eifersucht und mörderische Wut. Ähnlich reagierten Christen, nachdem sich die Kirche vom Judentum gelöst hatte. Nur dass die Geschwisterfolge bei den beiden Schwesterreligionen anders war als bei Kain und Abel. Die Jüngere konnte nicht verwinden, dass die Ältere Gottes erste Liebe war. Vergeblich versuchten die Christen die Juden zu enterben. Dass diese aber trotz aller Verfolgungen den Bund mit Gott nicht kündigten und ihrem Glauben treu blieben, erfüllte Christen mit einer Mordswut. Und sie steigerte sich, als Juden gleiche Bürgerrechte erhielten und sie in den freien Berufen, in Kultur und Wissenschaft erfolgreich waren.

Wie Kain „senkten“ die Christen „finster ihren Blick“. Und sie wandten ihn ab, nachdem die Nazidiktatur begonnen hatte. 1935 verfasste die Berliner Lehrerin Elisabeth Schmitz (1893–1977) für die Bekennende Kirche eine Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“. Anhand von Berichten reichsdeutscher Tageszeitungen (!) beschrieb sie, wie die Nazis jüdische Deutsche drangsalierten, um sie aus ihrer Heimat zu vertreiben. In der Denkschrift, sechs Jahre vor der systematischen Deportation der deutschen Juden, warnte Schmitz vor dem „Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland“. Und sie prophezeite, die evangelische Kirche werde wegen ihres Schweigens auf die Frage nach dem Bruder Abel „einst“ die „Kainsantwort“ geben müssen.

Ähnlich wie Kain befürchteten die nichtjüdischen Deutschen 1945, dass sich das, was sie getan oder unterlassen hatten, bitter rächen würde. Aber das geschah so wenig wie bei Kain. Vielmehr erhielten die Deutschen, zunächst im Westen, die Chance, eine Demokratie und die Wirtschaft aufzubauen, Theologisch lässt sich das und die Wiedervereinigung als unverdiente Gnade deuten. Ihre Dankbarkeit dafür können Christen zeigen, indem sie zusammen mit allen anständigen Mitbürgern die Verrohung in der Gesellschaft bekämpfen und die Demokratie verteidigen.

Weg zur Wahrheit

14. Sonntag nach Trinitatis, 2. September

Nachdem wir zuvor gelitten hatten…fanden wir dennoch den Mut bei euch das Evangelium Gottes zu sagen in hartem Kampf. (1.Thessalonicher 2,2)

Wegen der Abschaffung der Sklaverei spalteten sich im 19. Jahrhundert US-Kirchen. In den evangelischen Landeskirchen Deutschlands wurden Kriegsgegner bis ins 20. Jahrhundert als Schwärmer abgetan oder als vaterlandslose Gesellen diffamiert. Und als die evangelischen Kirchen in Deutschland und anderswo das Pfarramt für Frauen öffnen wollten, beriefen sich die Gegner auf die Bibel und drohten mit Kirchenaustritten. Heute ist es selbstverständlich, ja eine Binsenwahrheit, dass Sklaverei unchristlich ist. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, erklärte der Weltkirchenrat 1948. Und die meisten Protestanten des Westens empfinden Pfarrerinnen und Bischöfinnen als Bereicherung. Aber diese (und andere) Fortschritte sind nicht vom Himmel gefallen. Vielmehr mussten sie, und die neuen theologischen Einsichten, die sie ermöglicht hatten, „in hartem Kampf“ gegen Mitchristen errungen werden. Konflikte dienen also der Wahrheitsfindung. Das war schon der Fall bei den Propheten des Alten Testaments, bei Jesus und Paulus.

Andere Wirtschaft

15. Sonntag nach Trinitatis, 9. September

Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Galater 6,2)

Dieser Satz lässt sich, vor allem in der Übersetzung Martin Luthers, leicht lernen und behalten. Umso seltener wird er beherzigt. Das wird in diesen Tagen besonders augenfällig. Ausgerechnet diejenigen, die sich als Verteidiger des christlichen Abendlandes aufspielen, sind nicht bereit, die Lasten mitzutragen, die anderen aufgebürdet werden. Nun kann man darauf verweisen, dass es auch für Paulus eine abgestufte Solidarität gab. So endet der Galaterbrief mit der Mahnung, „Gutes zu tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (6,10). Aber eben „allermeist“, nicht „ausschließlich“. Kürzlich wurde des zweihundertsten Geburtstages von Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) gedacht. Der evangelische Bürgermeister hatte 1864 in Heddesdorf bei Neuwied einen „Darlehnsverein“ für Landwirte und Handwerker gegründet, der sich dann zu einer internationalen Genossenschaft entwickelte. Ein Jahr zuvor hatte der jüdische Bankier und Philanthrop Eduard Pfeiffer (1835–1931) in Stuttgart die erste Konsumgenossenschaft Deutschlands ins Leben gerufen. Genossenschaften folgen dem Prinzip: „Einer für alle, alle für einen“. So verwirklichen sie im Kapitalismus die Aufforderung des Paulus, dass einer die Last des anderen tragen soll.

Jürgen Wandel

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