Messias für die Müllbabies

Wie Thomas Coram unerwünschte Säuglinge vor dem Tod rettete
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Es braucht keinen Heiligen, noch nicht einmal christliche Nächstenliebe. Manchmal genügt ein mitfühlendes Herz, um die Welt zu verändern. Die Geschichte des Foundling Hospital, des ersten Findelhauses in London.

London, England, um 1725. Wie ein Magnet zieht die Stadt die Menschen an. Die neuen Fabriken haben Hunger nach Arbeitskräften. Die Landbewohner dürsten nach Stadtluft, die frei macht. Fremd und entwurzelt geraten sie in den Strudel der Großstadt mit all ihren Verheißungen und Versuchungen. Gin ist so populär, dass man diese Jahre später als „The Gin Craze“ – den Gin-Wahnsinn bezeichnet. Statt rigider dörflicher Heiratsregeln warten in der großen Stadt sexuelle Freiheit, Romanzen und erotische Abenteuer. Vergewaltigungen durch Arbeitgeber und Prostitution gehören zum Alltag. Verhütungsmittel gibt es nicht, ungewollte Schwangerschaften sind an der Tagesordnung. Die aber sind für die betroffenen Frauen eine biografische Katastrophe. Als „gefallene Frau“ werden sie von Freunden und Familie gemieden, verlieren ihren Job und haben ganz schlechte Karten, einen Mann fürs Leben zu finden. Wohin also mit den unerwünschten Babies? Aus Verzweiflung verfielen Mütter allzu oft auf die einfachste, entsetzlichste Lösung.

1750 war jedes fünfte Haus in London eine Ginkneipe, mit entsprechenden Folgen für die Kinder.
1750 war jedes fünfte Haus in London eine Ginkneipe, mit entsprechenden Folgen für die Kinder
An kleinen Beigaben sollten die Mütter ihre Kinder erkennen, falls sie sie doch wieder aus dem Findelhaus  holen wollten.
An kleinen Beigaben sollten die Mütter ihre Kinder erkennen, falls sie sie doch wieder aus dem Findelhaus holen wollten.

Thomas Coram betrieb zu dieser Zeit einen äußerst einträglichen Handel mit Schiffsmaterial, das er günstig aus Amerika bezog und teuer an die englische Marine verkaufte. Im Laufe der Jahre hatte er ein kleines Vermögen angehäuft. Der tägliche Weg ins Geschäft führte ihn durch die Gassen in der Nähe der Themse. In diesen Jahren gab es in London weder eine Kanalisation noch eine geregelte Müllabfuhr, auf den Straßen musste man immer wieder großen Misthaufen ausweichen, die die Bewohner als Müllhalde nutzten. Fäkalien und Essensreste gammelten hier vor sich hin, die Kadaver toter Hunde und Pferde - und mittendrin immer wieder auch unerwünschte Babies, die dort abgelegt wurden, um zu sterben. Aus Mitleid und Entsetzen beschloss Coran, eine Unterkunft für diese Kinder zu schaffen.

Mit seiner Idee wandte er sich an wohlhabende und einflussreiche Männer der Gesellschaft, stieß dort aber auf ungeahnte Ablehnung und Widerstand. Wenn man die unerwünschten Babies rettete, ermutigte man dann nicht andere Frauen auf ihrem unmoralischen Pfad, ebenfalls schwanger zu werden? Dann hatte Coran die geniale Idee, sich an die Ehefrauen dieser Männer zu wenden - und hatte mehr Erfolg! 17 Jahre lang musste Thomas Coram für seine Ideen werben, bis König George II. schließlich am 17. Oktober 1739 eine Urkunde zur Gründung eines „Hospital für die Versorgung und Erziehung ausgesetzter und verlassener Kinder“ unterzeichnete, das „Foundling Hospital“, zu deutsch: Findelhaus.

Lotterie mit Bällen

Der Abend der Eröffnung kam. Ein Zeitzeuge berichtet: „Um 8 Uhr wurden die Lichter am Eingang gelöscht und die Tür geöffnet. Die Glocke erklang, und eine Frau brachte ein Kind herein. Das Kind wurde von Dr. Nesbitt und mehreren anwesenden Gentlemen begutachtet. Das Kind erhielt eine Nummer, seine Beschreibung wurde in ein Buch aufgenommen. Die Frau, die das Kind gebracht hatte, wurde fortgeschickt, ohne weiter befragt zu werden. So kam ein Kind nach dem anderen, bis dreißig Kinder aufgenommen worden waren, davon waren 18 Jungen und zwölf Mädchen.“

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Das Hospital konnte nur dreißig Kinder aufnehmen, jeden Abend aber spielten sich stürmische Szenen vor der Tür ab, weil viel mehr Frauen kamen und darum stritten und kämpften, ihr Kind abgeben zu können. So wurde ein Lotteriesystem installiert. Alle Mütter mussten sich auf eine Bank setzen und dort abwarten. Dann griff jede in einen Beutel und zog einen kleinen Ball heraus. Ein weißer Ball bedeutete, dass das Kind sofort aufgenommen würde. Ein roter Ball hieß, dass das Kind auf eine Warteliste kam. Ein schwarzer Ball aber bedeutete, dass Mutter und Kind umgehend zurückgeschickt wurden.

Jedes aufgenommene Kind wurde medizinisch untersucht und erhielt eine Nummer, seine neue Identität. Der Name der Mutter blieb absichtlich anonym. Nur wenige Tage nach der Aufnahme wurde jedes Kind getauft, dabei wurde ihm irgendein Name willkürlich zugeteilt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Jahre später einmal eine Mutter ihr Kind zu sich zurückholen wollte, hatte man sich etwas Besonderes einfallen lassen: jedem eingelieferten Baby sollte möglichst eine kleine, individuelle Kleinigkeit beigelegt werden. Dies war die einzige Möglichkeit für die Mutter, es später zu identifizieren. In dem Museum sind diese Beigaben heute noch zu betrachten. Oft waren es nur kleine Schilder aus Pappe mit hingekritzelten Sprüchen oder naiven Zeichnungen, manchmal auch Briefe oder sogar kurze Gedichte. Wer nicht schreiben konnte, legte nur ein leeres Stück gefaltetes Papier ins Tragetuch, oder aber bunte Bänder mit Knoten darin, manchmal sogar kleine gestickte Lätzchen. Einfache Metallschilder mit eingekratzten Initialen sind zu sehen, Münzen, ein Ring oder auch nur ein Knopf als offenbar wertvollster Besitz. Jede Mutter bekam ihrerseits eine Quittung für ihr abgegebenes Kind, damit sie nicht in Verdacht geriet, sie hätte ihr Kind verschwinden lassen oder es umgebracht.

Möglichst bald nach der Ankunft im Findelhaus wurden die Kinder an Pflegefamilien in der Stadt oder auf dem Land vermittelt, die meisten noch als Babies. So konnten sie in einer Familie aufwachsen, hatten keinerlei Erinnerung an ihre leibliche Mutter und hielten die neue Familie ganz selbstverständlich für ihre eigene.

Die Erziehung war von militärischem Drill geprägt, alle Kinder waren uniform gekleidet. Die medizinische Versorgung war allerdings vorbildlich.
Die Erziehung war von militärischem Drill geprägt, alle Kinder waren uniform gekleidet. Die medizinische Versorgung war allerdings vorbildlich.

Nach einigen Jahren, meistens im Alter von Sechs, mussten die Kinder ihre Pflegefamilien dann wieder verlassen und ins Heim zurückkehren. Das war für viele der schmerzlichste Moment ihrer Lebensgeschichte. Nun erfuhren sie, dass sie Findelkinder waren, sie mussten von der Frau Abschied nehmen, die ihre Mutter geworden war. Hannah Brown, die ein Buch über ihre Erfahrungen als Findelkind in den 1860er Jahren geschrieben hat, bringt es auf den Punkt: „Jedes Kind, das ins Findlingsheim kommt, wird zweimal seiner Mutter beraubt, zuerst der leiblichen Mutter, dann seiner Pflegemutter.“

Toilettengang nach Plan

Alle Findelkinder, die man in den späteren Jahren interviewt hat, erinnern sich daran, dass die Ankunft im Heim traurig und erschreckend war. Als erstes wurden den Jungen und Mädchen die Haare geschoren, wahrscheinlich zur Vermeidung von Kopfläusen. Danach wurden sie in Uniformen gekleidet und umgehend mit einem nahezu militärischen Lebensstil bekannt gemacht. Die Jungs wurden in Gängen auf der linken und die Mädchen auf der rechten Seite untergebracht. In jedem Schlafsaal schliefen ungefähr 50 Kinder, zwei in jedem Bett. Früh am Morgen erklang die Hausglocke, um sechs Uhr im Sommer und bei Morgengrauen im Winter. Dann mussten die Kinder aufstehen, sich anziehen, die Betten machen, Hände waschen, Haare bürsten und ihre Gebete aufsagen. Sogar der Besuch des Badezimmers war streng nach Stundenplan geregelt. Erst die älteren Kinder erhielten das Privileg, die Toilette zu besuchen, wenn sie mussten.

Hymne von Händel

Der Zweck des Hospitals war in erster Linie, das nackte Leben ausgesetzter Kinder zu retten. Darüber hinaus sollten sie aber auch zu tüchtigen Bürgern erzogen werden, die ihren Platz in der Gesellschaft fänden. Wichtiger als das Klassenzimmer war deshalb die Werkstatt. Die Jungen lernten dort das Schreinern, die Mädchen das Stricken, Spinnen, Nähen und Stopfen. Von Anfang an wurden sie an lästige und niedere Arbeiten gewöhnt, um sie auf spätere Stellen vorzubereiten. Jeden Tag mussten sie die Böden schrubben, endlose Stunden in der Wäscherei zubringen, in der Küche beim Kochen helfen und den Abwasch erledigen.

Das Foundling Hospital früher und heute.
Das Foundling Hospital früher und heute.

Der einzige Lichtblick war der Musikunterricht, auf den großes Gewicht gelegt wurde. Das lag wohl an der frühen Förderung des Heims durch Georg Friedrich Händel. Er gab schon kurz nach der Gründung ein Benefizkonzert in den Räumen des Foundling Hospital. Es hatte so großen Erfolg, dass die Veranstaltung bald regelmäßig wiederholt wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde auch sein neues Oratorium, der „Messias“ gespielt, das bis dahin nur zweimal in London aufgeführt worden war, und zwar ohne besonderen Erfolg. Bei der Benefizaufführung jedoch löste es regelrechte Begeisterungsstürme aus und wurde daraufhin bald in Stadt und Land berühmt. Aus Dankbarkeit führte Händel es von da an jedes Jahr im Hospital auf. Zudem stiftete er eine Orgel für die Kapelle und verfasste die „Foundling Hospital Hymne“, die dann bei jeder offiziellen Gelegenheit gesungen wurde.

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Das Essen war schlecht und knapp. Doch medizinisch waren die Findelkinder im Vergleich zu ihren Zeitgenossen privilegiert. Von der ersten Stunde an erhielten die abgegebenen Babies eine medizinische Versorgung. Akribisch wurde ihr Gesundheitszustand von einem Arzt untersucht und im Aufnahmebuch dokumentiert. Auch in den folgenden Jahren genossen die kleinen Bewohner des Foundling Hospital eine medizinische Betreuung, die für London vorbildlich war. Regelmäßig kamen auch renommierte Ärzte in das Heim, um die Kinder zu untersuchen und zu behandeln. Die häufigsten aufgezeichneten Erkrankungen waren Erkältung, Fieber, Pocken, Tuberkulose und Mangelerscheinungen. Für Ärzte war es in wissenschaftlicher Hinsicht hilfreich, dass hier so viele Kinder beieinander lebten. Automatisch konnten sie aus ihren Beobachtungen und Behandlungen statistische Erkenntnisse gewinnen. 1767 führte etwa der Arzt Sir William Watson zahlreiche Reihenversuche mit der Impfung von Kindern gegen Pocken durch, indem er ihnen die Flüssigkeit aus den Pockenblasen erkrankter Menschen verabreichte. Damit legte er die Grundlage für die Entwicklung der Pockenschutzimpfung in Britannien.

Obwohl das Foundling Hospital längst Geschichte ist, wirkt die Idee ihres Gründers auch heute noch. Die „Coram Family“ kümmert sich um Kinder in besonderen Notlagen, zum Beispiel um HIV-positive Kinder, behinderte oder hilfsbedürftige Kinder von Straffälligen, deren Eltern augenblicklich im Gefängnis sitzen. Die Organisation hat ihren Sitz zufällig direkt neben dem ehemaligen Findlingshospital, in dem sich heute ein Museum befindet. Im Garten vor dem Eingang steht unter Bäumen eine Statue von Thomas Coram. Fast 300 Jahre nach seiner mutigen Gründung des ersten Findlingsheims in London wird immer noch Hilfe für Kinder in seinem Namen geleistet.

Martin Glauert (Text und Fotos)

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