Theologische Leerstelle

Die geistliche Bilanz des Reformationsjubiläums ist bescheiden
Foto: Markus Pletz

Von Beginn an wurde das Reformationsjubiläum 2017 mit einer Mischung aus Euphorie und Kritik erwartet. Große Hoffnungen auf eine einmalige Gelegenheit zur Vermittlung des historisch-kulturellen Erbes, aber auch auf eine religiöse Renaissance des evangelischen Christentums verbanden sich mit ihm. Anderseits wurde früh kritisiert, dass die Planungen überdimensioniert und nicht wohl abgewogen seien. Der Historiker Hartmut Lehmann etwa meinte 2014, es könne dazu kommen, dass die Puste schon aus sei, bevor die eigentlichen Feierlichkeiten überhaupt begännen. Lehmann warnte davor, dass „nach zehn Jahren Lutherdekade mit Hunderten von Veranstaltungen und Events im Jahre 2017 das Thema Luther in der breiteren Öffentlichkeit nur noch auf Desinteresse stoßen wird, im schlimmsten Fall auf Ablehnung und Spott.“

Seit das Jubiläum läuft, wird die Kritik noch verschärft. In der FAZ wird der evangelischen Kirche vorgeworfen, sie betreibe Etikettenschwindel. Denn sie werbe mit Luther, habe sich inhaltlich aber längst meilenweit von ihm entfernt. Zudem fehle eine echte theologische Perspektive auf das Reformationsjubiläum. In den einschlägigen Debatten seien es die Historiker, die das Wort führten. Wo aber blieben eigentlich die Theologen, um nach 500 Jahren Reformation über die Bedeutung von Luthers reformatorischer Botschaft in der Moderne zu diskutieren?

Ist die theologische Leerstelle des Protestantismus vielleicht der Grund, warum die Besucherzahlen der kirchlichen Veranstaltungen weit hinter den Erwartungen zurück blieben? Zu lange, so der Eindruck vieler Beobachter, hat die Kirche versucht, die Leerstelle mit Politik und Moral zu füllen.

Vor allem der evangelische Kirchentag steht schon seit Jahren deswegen in der öffentlichen Kritik. So hieß es etwa im cicero, der Kirchentag sei „zu einer rotgrünen Sammlungsbewegung mit ein bisschen Transzendenzdekoration verkommen“.

Die FAZ fragte in diesem Jahr angesichts prominenter Politikerauftritte wie dem Gespräch zwischen Angela Merkel und Barack Obama vier Monate vor der Bundestagswahl, wo genau eigentlich die Grenze verlaufe „zwischen Kirchentag und Wahlwerbung“? Und in der Zeit wurde gewarnt, dass eine vornehmlich politisch agierende Kirche in der Gefahr stehe, „ihre religiöse Botschaft zu verlieren und sich selber zu säkularisieren“. Im cicero wiederum wird etwas eingängiger formuliert: „Bye bye, Transzendenz!“ Einzig die taz äußert sich lobend über den Kirchentag, da das Treffen der „Halleluja-Schlümpfe“ eine riesige Versammlung der noch ernsthaft politisch-moralisch Engagierten im Lande sei.

Das kirchliche Motto von 2017 lautete: „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen.“ Es scheint aber, als hätten viele keinen Bedarf mehr an kirchlichen Weltverbesserungsvorschlägen. Zu politisch sei die evangelische Kirche, so Wolfgang Schäuble, zu weichgespült, so Sibylle Lewitscharoff, zu wenig Mut zur Theologie habe sie, so Volker Beck. Vermisst wird eine tragfähige geistliche Perspektive. „Bewahrung der Schöpfung“, Antitrassismus, gegenderte Kirchenlieder und die „Option für die Armen“ (Heinrich Bedford-Strohm) scheinen den meisten zu wenig zu sein.

Wo aber sollte eine geistliche Perspektive für 2017 herkommen? Die EKD hat ihre Flucht in die Politik schon vor langer Zeit angetreten. Und die akademische Theologie hat längst jenen Traditionsfaden abreißen lassen, der um eine Bewältigung der „Umformungskrise“ (Emanuel Hirsch) rang, in die das Christentum insgesamt infolge der Aufklärung geraten war. 150 Jahre lang hatten evangelische Theologen mit all ihrer Kraft an einer Befreiung des evangelischen Christentums aus der Krise gearbeitet und nach einer angemessenen Gestalt des evangelischen Glaubens in der modernen Welt gesucht. Von Daniel Friedrich Schleiermachers Ansatz zu einer konsequenten Verinnerlichung des Glaubens über Adolf Harnacks Versuch, den christlichen Glauben durch Vereinfachung und Reduzierung auf seinen Kern mit der modernen Lebensauffassung zu vereinbaren, bis zur Neubelebung lutherischer Theologie durch Karl Holl, ja bis zum existenztheologischen Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns zieht sich dieser Traditionsfaden eines ernsthaften theologischen Ringens um ein modernes evangelisches Christentum.

An ihn anzuknüpfen wäre die genuin theologische Aufgabe für das Reformationsjubiläum 2017 gewesen. Zu sehen war davon nichts.

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Benjamin Hasselhorn, 31, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Der promovierte Theologe und Historiker war Kurator der Nationalen Sonderausstellung „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“ in Wittenberg. Im Frühjahr 2017 erschien in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig seine Streitschrift „Das Ende des Luthertums?“.

Benjamin Hasselhorn

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Foto: Markus Pletz

Benjamin Hasselhorn

Benjamin Hasselhorn ist evangelischer Theologe und Historiker. Von 2014 bis 2019 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung 2017 "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen" in Wiitenberg. Seit April 2019 ist er Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg.


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