Man stelle sich vor, jemand sagt, dass kein Mensch gesellschaftlichen Konventionen einfach ausgeliefert ist, sondern dass er die Gesellschaft, die das Leben beeinflusst und prägt, mitgestalten oder gar verändern kann. Man stelle sich vor, jemand zeigt auf, dass gesellschaftliche Konventionen keine gottgegebene Ordnung, sondern zeit- und ortsabhängige Gewohnheiten widerspiegeln. Man stelle sich dann vor, dass eine Person, die so etwas sagt, blanken Hass auf sich zieht. Das geschieht immer wieder, und zwar insbesondere dann, wenn Menschen das Wort „Gender“ verwenden.
Gender ist ein englischer Fachbegriff und meint das soziale Geschlecht. Es zielt auf jene Geschlechtsidentität, die nicht durch biologische, sondern durch soziale Faktoren bestimmt wird. Warum fordert ein Begriff, der in erster Linie beschreibt und analysiert, Hass heraus? Warum wird das, was mit ihm in Verbindung steht, von vielen zu einem Synonym für „Scheinwissenschaft“ oder „Doktrin“, ja, sogar zum Ausdruck einer angeblichen „Meinungsdiktatur“ gemacht? Vertreter_innen von Theorien aus der Genderforschung begegnen in einem solchen Maße Verzerrungen ihrer Darstellungen, Aufrufe zur Gegenwehr und Hass schürende Feindbilder, wie kaum an anderer Stelle.
Angesichts dessen sah sich das Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie veranlasst, eine Studie durchzuführen, die Hate-Speech zum Genderthema im Raum von Kirche und Diakonie analysiert. In Kooperation mit der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg entstand eine Untersuchung, die typische Kommunikationsmuster und Diskussionsstrukturen solcher Hassrede aufdeckt. In diesem Monat wird die Studie unter dem Titel „Verhasste Vielfalt. Eine Analyse von Hate-Speech im Raum von Kirche und Diakonie mit Kommentierungen“ veröffentlicht. Neben Hassrede zum Thema Gender werden auch entsprechende Äußerungen zu den Themen „Flucht und Islam“ sowie Homosexualität analysiert.
1. Feindbilder
„Der ganze Gender-Wahn ist doch nichts anderes, als ein Angriff auf unsere christlichen Werte, auf unsere Kinder, auf die traditionelle Ehe und Familie.“
Dieses Zitat ist eines von den vielen, die in der Studie für den Bereich Gender analysiert wurden. Ausgewertet wurden für den Themenbereich Gender schriftliche Reaktionen auf ein ‚Wort zum Sonntag‘ mit dem Titel „Frauen im Test“, gesprochen von der Pastorin Annette Behnken und am 27. Juni 2015 in der ard ausgestrahlt. Behnken hatte den Hormontest, mit dem die Fußballerinnen der Frauen-Europameisterschaft 2015 ihr Geschlecht nachweisen mussten, zum Anlass genommen, um die hormonelle Konstruktion des Geschlechts in Frage zu stellen. Sie fragt zum Beispiel danach, wie viel Testosteron denn in einer Frau sein dürfe, bevor sie anfängt, keine Frau mehr zu sein. Sie beschreibt außerdem, dass unser Blick, der nach Mann oder Frau unterscheidet, ein kulturell geprägter sei und die Ebenbildlichkeit zu Gott sich aber in Vielfalt ausdrücke: „Unendlich vielfältig schuf Gott uns - unzählige Ebenbilder“. Auf der Kommentarseite von ‚Wort zum Sonntag‘ und auch auf anderen Internetseiten führen diese Gedanken zu überwiegend herabsetzenden und diffamierenden Reaktionen.
Ein wichtiger Punkt bei der Analyse bildet die Verwendung von sogenannten feindbildkonstruierenden Begriffen, wie beispielsweise „Genderwahn“, „Genderismus“ oder „Gender-Ideologie“. Mit Letzterem wird zum einen eine kulturelle Indoktrination unterstellt, zum anderen aber auch die Manipulation von Menschen hin zu einer Weltsicht, die sich gegen Männer, Familie und Heterosexuelle richtet. Gender wird zum Gegenentwurf zu naturwissenschaftlicher Forschung oder zu christlichen Überzeugungen stilisiert. Dadurch, dass klassisch-maskuline Rollenbilder zur Diskussion gestellt werden, würde Gender eine Entmännlichung der Gesellschaft nach sich ziehen. Wichtig ist, dass viele Schreibende nach eigenem Bekunden nicht die Ziele einer antifeministischen Front verfolgen, die auch in der Analyse begegnet. Es wird teilweise sogar explizit erwähnt, dass die prinzipielle Gleichberechtigung von Männern und Frauen nicht in Frage gestellt werden darf. Vielmehr entspringt die Wut dem Bedürfnis, die angeblich naturgegebene grundsätzliche Verschiedenheit bei gleicher Wertigkeit zu verteidigen.
2. Themenvermischung
Gleichzeitig lassen sich die Aggressionen gegen das Konzept Gender nicht verstehen, ohne die Symbolkraft des Schlagwortes Gender zu betrachten. Für viele ist Gender zum Inbegriff einer viel weitreichenderen Bedrohungskulisse geworden. Es geht dabei in jeder Hinsicht um die Wahrung von Grenzen und den damit verbundenen Privilegien. Deshalb findet sich in vielen Posts eine auf den ersten Blick nur schwer zu verstehende Themenvermischung, von Gender über Homosexualität zum Islam und dem Thema Migration. Innerhalb des von der Studie untersuchten Materials lässt sich die aggressiv geäußerte Gegnerschaft zum Konzept Gender nicht getrennt vom Thema Flucht betrachten, wie zum Beispiel dieses Zitat zeigt:
„Da will man für Frau Behnken nur hoffen, dass sie nicht einmal unangenehm mit ausschließlich testosterongesteuerten Jungmannen - z. B. geflüchteten Alleinreisenden aus der Dritten Welt (...) konfrontiert wird. Für die ‚edlen Wilden‘ aus Steppe und Urwald bzw. der ‚Dritten Welt‘ ist Frau Behnken mit ihrem Aussehen - und ganz ohne Kopflappen! - ein echtes Schnäppchen.“
Nicht nur die Grenze zwischen den Geschlechtern wird als gefährdet angesehen, sondern auch die Grenze zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“. Das „Wir-und-Ihr“-Bild ist auch ein häufig begegnendes rhetorisches Mittel. Die Assoziationen, die diese Sprechweise hervorruft, zeigen eine homogene Masse an muslimischen und gewaltbereiten Flüchtlingen, die von naiven Regenbogenideologinnen und -ideologen aufgenommen werden. Durch die Gender-Ideologie sei es - den Schreibenden zufolge - diesen manipulierten Gutmenschen nicht mehr möglich, die natürliche Gegnerschaft zu den muslimischen Fremden zu begreifen. Durch diese Naivität werde die Gesellschaft in doppelter Hinsicht bedroht, von außen durch „die Anderen“ und von innen durch die Naivität der Ideolog_innen.
Dabei begegnet auch ein übersteigertes und irrational erscheinendes Misstrauen, das sich in sogenannten Verschwörungstheorien widerspiegeln kann. Vor diesem gedanklichen Hintergrund spielt auch die spezielle Dynamik von Hate-Speech in sozialen Medien eine bedenkenswerte Rolle. In solchen Medien erfährt ein Post eine unmittelbare Reaktion. ‚Likes‘ bilden dabei einen Beifallsteppich, der den Schreibenden Anerkennung verschafft und Identität stiftet. Dadurch entsteht ebenso ein enthemmendes Umfeld. Dabei spielt die grundsätzliche Annahme, dass es sich in sozialen Medien um eine Versammlung von Gleichen handelt, eine Rolle. Statusanzeigen, die eine Autorität in der Offline-Gesellschaft kennzeichnen, wie Körpersprache, Kleidung oder die Umgebung, in der gesprochen wird, fehlen in der Online-Kommunikation. Eigene und fremde Äußerungen werden ohne diesen Filter wahrgenommen und sind daher gleichwertig. Wird nun diese Gruppe von Gleichen, der man seine Ansichten mitteilt, als solidarisch empfunden, ist dies Anlass, die eigene Position immer stärker zum Ausdruck zu bringen. Dadurch, so zeigt es die Analyse der Gesprächsverläufe, steigert sich der Grad der Verunglimpfung. Die Hemmschwelle sinkt, wenn der (vermeintliche) Zusammenhalt der Gruppe erlebt wird. In diesem Zusammenhang erscheinen Aggressionen als Zugehörigkeitssignale.
Die vehemente Abgrenzung von dem „Gender-Wahn“ wird so zum Stabilitätsgaranten für die eigene Lebenswelt und die eigene Identität. Wird diese Stabilität auch im persönlichen Gespräch ohne ein zwischengeschaltetes Medium geboten, ist für die digitale Kommunikation auch der sogenannte „Echokammer-Effekt“ von Bedeutung. In den sozialen Medien ist es ähnlich wie im richtigen Leben - wir folgen Menschen, die ähnlicher Meinung sind wie wir. Außerdem werden in den sozialen Medien Informationen gefiltert, bevor sie Menschen zugestellt werden, und zwar entsprechend ihrer durch ihr Nutzungsverhalten ermittelten Interessen. Man begegnet somit fast nur noch Inhalten, die der eigenen Meinung entsprechen. Dies verstärkt den Echokammer-Effekt und das Erleben von vermeintlichem Zusammenhalt.
3. Einschreiten
„Macht euren homo-gender-equality-feminism-tolerance-refugee-Scheiß ohne mich!“
Dieses Zitat ruft nach einer Antwort. Dabei herrscht im Internet eine zumindest gefühlte stärkere Strafffreiheit, auch dies führt zu dem in der Psychologie als „online-disinhibition-effect“ bezeichneten Enthemmung des Verhaltens. Für diese Enthemmung spielen auch das fehlende konkrete Gegenüber und die Ungleichzeitigkeit in der Kommunikation eine Rolle. Ein diffamierender Post kann abgesendet werden, ohne dass eine direkte Reaktion erwartet werden kann. Es ist gerade diese direkte Reaktion, die eine regulierende Funktion in der Face-to-face-Kommunikation einnimmt. Das Fehlen dieser Regulation führt dazu, dass sich Menschen online auf andere Weise präsentieren, als sie es offline würden.
Findet sich daher eine solch enthemmte Kommunikation in digitalen Kommunikationsräumen, sind regulierende Eingriffe in die Kommunikation besonders wichtig. Mittlerweile ist es bekannt, dass sich Menschen, die diskriminierten Gruppen angehören, aus der digitalen Kommunikation zurückziehen, wenn sie erleben, dass verbale Gewalt sanktionsfrei hingenommen wird. Eine der Empfehlungen der Studie „Verhasste Vielfalt“ an Nutzer_innen von sozialen Medien ist es daher auch, sich dieser Verantwortung zu stellen und regulierende Gegenrede sichtbar zu machen.
Die Autorin legt Wert auf den Gebrauch der gendergerechten Sprache.
Informationen
Verhasste Vielfalt. Eine Analyse von Hate Speech im Raum von Kirche und Diakonie mit Kommentierungen (Annika Lukas, Ellen Radtke und Claudia Schulz, Hg.), Schriften zu Gender in Kirche und Theologie (herausgegeben vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie) Band 1, Hannover 2017.
Ellen Radtke