Aufrüttelnd

Reformatorische Anstöße
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Die beiden Autoren können dazu beitragen, dass die Engführung des Reformationsjubiläums auf ein „Lutherjahr“ vielleicht doch noch geweitet wird.

Für den Durchbruch zu einer zeitgemäßen und aufrüttelnden theologischen Deutung des Reformationsjubiläums ist es auch im Herbst 2017 noch nicht zu spät. Der Titel Frei glauben verspricht so etwas. Für dieses Buch haben sich Christina Aus der Au, die Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentags Berlin/Wittenberg 2017, und der Praktische Theologe Thomas Schlag zusammengetan.

Die beiden in Zürich tätigen Autoren können dazu beitragen, dass die Engführung des Reformationsjubiläums auf ein „Lutherjahr“ vielleicht doch noch geweitet wird. Freilich wäre dafür mehr notwendig als nur ein ergänzender Blick auf Zwingli und Calvin. Dafür müsste man auch kirchliche Entwicklungen des 21. Jahrhunderts in den Blick nehmen, in denen reformatorische Aufbrüche zu spüren sind. Doch von einem knappen Seitenblick auf das anglikanische Konzept der fresh expressions abgesehen, bleibt dieses Buch ganz und gar auf den landeskirchlichen Protestantismus in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz beschränkt.

Von den beiden Hauptteilen beschäftigt sich der eine mit „Reformatorischen Orientierungen“. Einerseits wird die historische Fremdheit reformatorischen Denkens herausgestellt, andererseits werden Brücken zu einem modern-aufgeklärten Denken gesucht.

Die vier der Reformation zugeschriebenen Allein-Formeln werden dafür ebenso herangezogen wie die reformatorische Freiheitsidee und das Priestertum aller Getauften. Schon diese Darstellung mündet allerdings nicht in die Beschreibung einer „protestantischen Lebenskultur“, wie es der Untertitel zu versprechen scheint, sondern eher in eine Kirchenprogrammatik. Sie wird in einem zweiten Hauptabschnitt weiter entfaltet, der die erstaunliche Überschrift trägt: „Protestantische Kirche fordert heraus“. Müsste nicht eher von einer durch reformatorische Impulse herausgeforderten Kirche die Rede sein? Fragt man, inwieweit die in den „reformatorischen Orientierungen“ so stark hervorgehobenen Allein-Formeln in diesem kirchenpraktischen Teil aufgenommen werden, sieht man sich enttäuscht.

Von der herausgehobenen Bedeutung der Heiligen Schrift ist lediglich in einer Würdigung der Kinder- und Jugendtheologie die Rede, der zugetraut wird, „das reformatorische sola scriptura vom Kopf auf die Füße“ zu stellen. Vom „solus Christus“ wird behauptet, es sei „für all die genannten Herausforderungen das unbedingte Zentrum und der substantielle Bezugspunkt allen organisatorischen, kulturellen und theologisch-institutionellen Kircheseins“. Eingelöst durch die Autorin und den Autor wird diese steile Behauptung nicht.

Die programmatische Zentrierung der Reformation auf die beiden anderen Allein, nämlich auf das Wechselverhältnis zwischen Gnade und Glaube, kommt in den praktisch-theologischen Erwägungen nicht zur Sprache. Sie schwanken darüber hinaus zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung.

Einerseits wird in Analogie zur Spätkapitalismus-These die „Spätphase“ der Volkskirche beschworen. Andererseits wird bestritten, dass es sich beim bisherigen volkskirchlichen Selbstverständnis um ein „Auslaufmodell“ handelt. Deshalb wird ein „Perspektivenwechsel“ gefordert, der sich auf die „vorhandenen Potentiale kirchlicher Praxis“ richtet. Auch wenn diese Potentiale im Sinn von bottom-up-Prozessen interpretiert werden, eignet dieser Betrachtungsweise doch ein Zug des Beharrens, nicht des Aufbruchs an. Er wird durch die Betonung des „prophetischen Wächteramts“ keineswegs gemildert. Von der angekündigten „protestantischen Lebenskultur“ ist bei alldem leider nicht die Rede.

Wolfgang Huber

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