Dritter Weg
Im Lutherjahr 1983 stand die wichtigste bundesdeutsche Veranstaltung ganz im Zeichen wissenschaftlicher Anliegen. Die große Lutherausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg – unter der fachlichen Leitung des renommierten Kirchenhistorikers Bernd Moeller – verfolgte ausdrücklich das Ziel, dem Publikum vor Augen zu führen, dass Luthers Zeit „eine uns sehr fremde Zeit“ gewesen ist.
Über dieses Anliegen entspann sich damals eine – unveröffentlicht gebliebene und daher lange unbekannte – Auseinandersetzung zwischen dem Historiker Hartmut Boockmann als Mitglied des Wissenschaftlichen Vorbereitungskomitees der Nürnberger Ausstellung und dem Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Günther Gillessen. Gillessen bemängelte die distanzierte Art, mit der die Ausstellung die Reformationsgeschichte präsentiere. Die Religion zu Luthers Zeit werde dargestellt, als ob es sich um „die Kultur der Samoaner“ handele. Boockmann verteidigte dagegen die wissenschaftlich-nüchterne Distanz der Ausstellung gegenüber ihrem historischen Gegenstand, gehe es doch gerade darum, die Fremdheit des 16. Jahrhunderts deutlich werden zu lassen. Gillessen erwiderte, die Distanz der Ausstellung habe sich aber leider nicht „auf den Abstand des Forschers zu seinem Gegenstand“ beschränkt, sondern man habe es offenbar darauf angelegt, „den Betrachter in diese Eiseskühle der Unbeteiligtheit zu versetzen (.). Zuviel Distanz bedeutet auch Entwertung und Entwürdigung (.). Soll vorhandene oder unterstellte Fremdheit des Publikums zum Gegenstand sich lösen können oder soll es sich in Ver- oder gar Entfremdung steigern? (.) Und ist es nicht auch eine Bedingung historischer Forschung, daß der Forscher die Distanz nicht nur halten können muß, sondern auch aufgeben: daß er sich selbst in andere versetzen (kann) – die Grundlage allen Verstehens? Wie ‚fremd‘ also darf eine Ausstellung über eine der großen religiösen Entscheidungen in Europa für das Publikum ausfallen?“
In den aktuellen Diskussionen über das Reformationsjubiläum 2017 zeichnet sich eine ganz ähnliche Kontroverse ab. Vertreter der historischen Wissenschaften fordern eine konsequente Historisierung Luthers, und sie präsentieren den Reformator als eine dem modernen Menschen zunächst einmal ganz und gar fremde Gestalt des frühen 16. Jahrhunderts. Aus den Reihen der Evangelischen Kirche in Deutschland wird daran kritisiert, dass damit nichts Konstruktives zu einer gegenwartsrelevanten Reformationsdeutung beigetragen werde (zz 3/2017). Dies wiederum verstehen manche Historiker als einen Ruf nach einer „monumentalischen“ Geschichtsbetrachtung im Sinne Friedrich Nietzsches und einer unreflektierten Repristination der Luthermythen des 19. Jahrhunderts (zz 4/2017).
Könnte es hier nicht einen dritten Weg geben, der das wissenschaftliche Anliegen der Historisierung mit dem didaktischen Anliegen der Aktualisierung zusammenbringt? Wäre beispielsweise statt eines unreflektierten Umgangs mit den Luthermythen auch ein reflektierter Umgang denkbar? Immerhin werden von der Mythosforschung seit einigen Jahrzehnten gute Argumente gegen eine ausschließlich dekonstruktiv-entlarvende Analyse der Mythen von Seiten der Wissenschaft vorgetragen. Manche Historiker warnten schon früh vor der „Billigkeit der Mythenverachtung“ (Thomas Nipperdey). Heute bieten Kultur-, Ideen- und Symbolgeschichte prinzipiell genug Raum, um konstruktiv mit Geschichtsmythen umzugehen und sie als bildhafte Verdichtungen historischer Ereignisse zu verstehen. Sie deuten diese und sind „die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens“ (Herfried Münkler).
Geschichte und Mythos – und damit auch Historisierung und Aktualisierung – sind im Falle Luthers besonders eng miteinander verwoben. Denn die Mythisierung Luthers begann schon zu seinen Lebzeiten und wurde von ihm selbst vorangetrieben. Am 1. November 1527, einen Tag nach dem zehnjährigen Jubiläum des Thesenanschlags, schrieb Luther in einem Brief an den reformatorischen Theologen Nikolaus von Amsdorf, er trinke in Erinnerung daran, dass zehn Jahre zuvor die Ablässe „vernichtet“ worden seien. 1537 bekam Luther mit Georg Rörer eine Art Erinnerungsbeauftragten zur Seite, der helfen sollte, die wichtigen biographischen Daten und Zusammenhänge für die Nachwelt zu überliefern. Manche Forscher sehen in den entsprechenden Bemühungen der 1530-er und 1540-er Jahre das Streben nach einer „Monumentalisierung“ (Volker Leppin) Luthers, zu deren Ergebnissen auch die Erzählung vom Thesenanschlag gehöre. Ob das stimmt oder nicht – in der Folge bildete sich ein Kanon mythischer Szenen aus Luthers Leben heraus, die bis heute den erzählerischen Rahmen für jede Lutherbiographie ausmachen.
Bildhaft verdichtet
Vom Gewittererlebnis bei Stotternheim über das Turmerlebnis bis zum Thesenanschlag, dann weiter von der Verbrennung der Bannandrohungsbulle über Luthers Auftritt beim Reichstag in Worms und den Aufenthalt auf der Wartburg bis zu Luthers Hochzeit – Luthers Leben, jedenfalls in den stürmischen Anfangsjahren der reformatorischen Bewegung, lässt sich anhand solcher Szenen erzählen, die die entscheidenden Lebensereignisse des werdenden Reformators bildhaft verdichten, narrativ eingängig machen und für aktualisierende Deutungen öffnen: Protestantische Ernsthaftigkeit kann man anhand des Stotternheimereignisses veranschaulichen, welches einen jungen Mann zeigt, der sich bis in die letzte Konsequenz an sein in einer Notlage gegebenes Versprechen hält. Protestantische Innerlichkeit wird an der einsamen Lektüre und der daraus gewonnenen reformatorischen Erkenntnis im Turmerlebnis deutlich. Der Thesenanschlag wird – allerdings erst im 19. Jahrhundert – zu dem Bild für Luthers Reformstreben und Aufbegehren gegen die römische Kirche. Vor dem 19. Jahrhundert wird die Konfrontation mit Rom in einer anderen Szene verdichtet, nämlich der Verbrennung der päpstlichen Bulle. Luthers Auftritt in Worms setzt die protestantische „Gewissensreligion“ (Karl Holl, vergleiche zz 12/2016) ins Bild. Der Wartburgaufenthalt zeigt Luther als genialen Sprachschöpfer. Und Luthers Hochzeit symbolisiert schließlich das neue Verhältnis, das die Reformation dem Einzelnen gegenüber der Welt ermöglicht.
Es ist daher kaum überraschend, dass die mythischen, geschichtspolitischen Deutungen, mit denen Luther im Laufe von fast 500 Jahren öffentlich präsentiert wurde, direkt an diese Szenen anschließen: „Luther der Freiheitsheld“, das ist der Luther, der die Thesen gegen den unterdrückerischen Ablasshandel veröffentlicht, das ist der Luther, der in Worms vor Kaiser und Reich standhält und sich von keiner Macht der Welt einschüchtern lässt. „Luther der deutsche Nationalheld“, das ist der Luther, der auf der Wartburg die Bibel in verständliches Deutsch übersetzt und der mit einer einheitlichen Sprache auch ein Bewusstsein für die nationale Zusammengehörigkeit der Deutschen schafft. Das ist außerdem der Luther, der 1517 gegen den römischen Papst und 1521 gegen den spanischen Kaiser im Namen nicht nur seines Gewissens, sondern auch seiner „lieben Deutschen“ auftritt und der schließlich mit seiner ganz auf die persönliche Gottesbeziehung ausgerichteten Theologie die „deutsche Innerlichkeit“ (Thomas Mann) nachhaltig prägt – um nur zwei der zahlreichen historisch-politischen Lutherdeutungen zu nennen.
Die Eingängigkeit der Luthergeschichte und die Vieldeutigkeit von Luthers reformatorischen Leistungen führten dazu, dass seit dem 19. Jahrhundert kein deutscher Staat darauf verzichtete, sich des politischen Mythos Luther zu bedienen: nicht das 1871 gegründete Kaiserreich, das den Nationalhelden Luther in den Vordergrund rückte, nicht die Weimarer Republik, die Luther als Befreier aus Unterdrückung feierte, nicht die Nazis, die den „deutschen“ Luther propagierten, ohne allerdings dessen christlich-theologische Bezüge allzu stark zu machen, nicht die DDR, die in einem allmählichen Prozess bis 1983 dazu kam, Luther zum Vorkämpfer des Fortschritts und einem „der größten Söhne unseres Volkes“ (Erich Honecker) zu erklären, und auch nicht die Bundesrepublik Deutschland, die bei Luther wie bei den meisten historischen Traditionen der deutschen Nationalgeschichte große Zurückhaltung an den Tag legte, im Falle Luthers der DDR aber eine eigene Würdigung entgegensetzen wollte.
Dabei stand das Luthergedenken in der Bundesrepublik von Beginn an stark unter dem Eindruck einer historischen Reformationsforschung, die dazu neigte, Luther zu historisieren, ja ihn zu entmythologisieren. Die beiden bekanntesten unter den mythischen Lutherszenen – Thesenanschlag und Wormser Auftritt – wurden spätestens seit Ende der Fünfzigerjahre in ihrem historischen Tatsachengehalt in Zweifel gezogen, vor allem aber wurde versucht, sie durch kontrastierende Deutungen ihrer mythischen Qualität zu berauben. Wenn heute nicht mehr nur einzelne Aspekte, sondern im Grunde der ganze Luther radikal historisiert werden soll, liegt das in der Konsequenz dieser Entwicklung.
Gefahr der Mumisierung
Darin aber liegt zugleich ein schwerwiegendes Problem. Denn im ungünstigsten Fall kommt man am Ende bei einer „antiquarischen“ Geschichtsbetrachtung heraus, von der Friedrich Nietzsche meinte, dass sie drohe, die Geschichte nicht mehr zu konservieren, sondern zu „mumisieren“, und die sich in dem Zusammentragen vergangener Bedeutungslosigkeiten selbst genüge. Ein nur noch fremder Luther, der als Summe wissenschaftlicher Erkenntnis präsentiert wird, vermittelt die Botschaft, dass Luther und die Reformation mit uns und unserer Lebenswelt nichts zu tun haben. Man kann dann die Faszination des Fremden stark machen, muss dabei aber im Blick behalten, dass dies ein nur für Lutherkenner interessantes Programm wäre. Und für den Rest besteht die Gefahr, dass die geschichtspolitische Aussage des fremden Luther letztlich zugespitzt wird und lautet: Luther ist irrelevant. Man kann mit dem fremden Luther allein jedenfalls nicht begründen, wieso Bücher über den Reformator gelesen, Ausstellungen besucht, Filme gesehen oder Unterrichtseinheiten umgesetzt werden sollten. Strenggenommen kann man damit nicht einmal begründen, wozu wir historische Reformationsforschung brauchen. Die eingangs erwähnte Nürnberger Lutherausstellung von 1983 jedenfalls wurde von Publikum und Presse sehr gemischt aufgenommen. Ein Rezensent fasste das Unbehagen am historisierend-distanzierten Ausstellungsansatz in die Worte: „Nicht Objektivität ist das Ergebnis, sondern Langeweile.“
Um dieser Gefahr zu entgehen, wäre statt entlarvender Dekonstruktion, aber auch statt unreflektierter Reproduktion der Luthermythen ein reflektierter Umgang mit ihnen zu empfehlen, und zwar sowohl von den Historisierern als auch von den Aktualisierern. Dann nämlich könnten beide Anliegen zusammenkommen: jenes der Wissenschaft, die historische Realität zu rekonstruieren und damit den Rahmen jeder historisch seriösen Reformationsdeutung anzugeben, und jenes der geschichtskulturellen Vermittlung, unser historisches Erbe lebendig zu halten. Dazu aber bedarf es der gegenseitigen Anerkennung der Legitimität dieser Anliegen. Nicht nur die reine Wahrheit zu suchen ist legitim, sondern auch die – verantwortliche – bildhafte Verdichtung, die historische Erzählung, die den Kern jedes Interesses an Geschichte ausmacht. Im 19. Jahrhundert – als die Luthermythen übrigens fast durchweg von Gelehrten und Wissenschaftlern geschaffen wurden – wusste man dies. Vielleicht sollten wir im Blick auf 2017 daher einen Schuss 19. Jahrhundert wagen.
Literatur
Benjamin Hasselhorn (Hg.): Reformationsgeschichte zwischen Historisierung und Aktualisierung. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016. 256 Seiten, Euro 24,80.
Ders.: Das Ende des Luthertums?, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 216 Seiten, Euro 19,– .
Thomas Kaufmann/Martin Laube: "So nicht!" (zz 04/2017)
Thies Gundlach: "Perspektiven vermißt" (zz03/2017)
Benjamin Hasselhorn
Benjamin Hasselhorn
Benjamin Hasselhorn ist evangelischer Theologe und Historiker. Von 2014 bis 2019 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung 2017 "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen" in Wiitenberg. Seit April 2019 ist er Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg.