„Ein Fest, keine Schulstunde“

Im Streit zwischen der EKD und den Göttinger Theologen irritiert der Tonfall
Martin Luther – historische Figur oder Vorbild für heute? Foto: epd/ Jens Schulze
Martin Luther – historische Figur oder Vorbild für heute? Foto: epd/ Jens Schulze
Die Aufgaben von Kirchenleitungen und akademischer Theologie sind per se unterschiedlich. Deswegen sei der hitzige Streit um das Reformationsjubiläum, der zuletzt in zeitzeichen zwischen EKD-Vizepräsident Thies Gundlach und den beiden Göttinger Theologieprofessoren Thomas Kaufmann und Martin Laube entbrannt ist, überflüssig, meint Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie in Bochum.

Zum Ersten und vorweg: Ob ich mich mit Theologen oder Nichttheologen unterhalte, ein Eindruck im Hinblick auf das Reformationsjubiläum ist augenfällig: Alle sind höchst erstaunt, wie viel positive Resonanz das Jubiläum hervorruft. Kaum jemand hat damit gerechnet, dass das Interesse so groß sein würde. Dabei spreche ich nicht über den Tourismus oder das „Merchandising“ und damit den eher oberflächlichen Kult um die Reformation, sondern über das große Angebot inhaltlich konzipierter Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum, den unerwartet großen Absatz der neuen Lutherbibel, die enorme Nachfrage nach Lutherbiographien, das große Interesse an Gottesdiensten, in denen über zentrale Lutherschriften gepredigt wird, Konzerte, Ausstellungen, Theaterstücke und Oratorien zum Reformationsjubiläum.

Umso erstaunlicher ist die scharfe Kontroverse, die zwischen Thies Gundlach, dem Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD, und zwei renommierten Kollegen aus Göttingen, den Professoren Kaufmann und Laube, entbrannt ist. Da haben sowohl die Kirche wie die wissenschaftliche Theologie mit dem Reformationsjubiläum einzigartige Möglichkeiten, auf Kernanliegen der evangelischen Kirche und Theologie hinzuweisen und reflektierte Beiträge zum Jubiläum in unzähligen Schriften, Vorträgen und Ausstellungen beizusteuern und beharken sich am Ende wechselseitig. Nun ist ein Streit im Hause Luther zunächst ja noch kein Unfall, aber der Ton, in dem der Streit geführt wird, überrascht durch seine Heftigkeit.

Thies Gundlach gibt sich frustriert über die mangelnde Unterstützung der wissenschaftlichen Theologie im Hinblick auf das Reformationsjubiläum und bringt dies scharf zum Ausdruck. Die Göttinger Theologen überbieten die Schärfe des Vizepräsidenten und lassen sich zu Formulierungen hinreißen, die aus wissenschaftlicher Distanz verwundern. Bemerkenswert ist zum Beispiel, zu welch paternalistischer Fürsorge die Kollegen im Hinblick auf Margot Käßmann in der Lage sind, die aus ihrer Sicht von der EKD in der Rolle der Reformationsbotschafterin „domestiziert und verschlissen“ werde. Vielleicht sollte man einer gestandenen Theologin wie Margot Käßmann dann doch zutrauen, ihr Amt eigenständig zu gestalten. Im Übrigen ist ihre Berufung zur Reformationsbeauftragten ein besonderer Glücksfall des Reformationsjubiläums. Käßmann vertritt klug und couragiert, mit viel Engagement und Charme das Reformationsjubiläum in aller Welt – und zwar mit einer Reichweite und Ausstrahlungskraft, die in der akademischen Welt sonst niemand erreicht.

Aktive Fakultäten

Sind die wissenschaftlichen Theologinnen und Theologen tatsächlich Reformationsjubiläumsmuffel? Ich selbst kenne keine Fakultät, die im Jubiläumsjahr nicht entweder eine Ringvorlesung oder gemeinsame Publikationen oder andere Veranstaltungsformate speziell zum Reformationsjubiläum anbietet und sich dabei nicht zuletzt über die Gegenwartsbedeutung des reformatorischen Erbes Gedanken macht. Darüber hinaus sind zahlreiche Kolleginnen und Kollegen für das Reformationsjubiläum vielfältig aktiv – und zwar nicht nur auf wissenschaftlichen Symposien in aller Welt, sondern auch um Vorträge vor Pfarrkonventen und in Gemeinden zu halten oder auch über Lutherschriften zu predigen. Es ist deshalb verständlich, dass die Kollegen Kaufmann und Laube auf dieses Engagement hinweisen. Aber der Tonfall irritiert. Die Medien nehmen dieses Erregungspotenzial natürlich dankbar auf und sprechen von einer „Theologie der Wut“, von tobendem Streit und der „rabies theologorum“ des Protestantismus (Frankfurter Allgemeine Zeitung), die loszuwerden nach Melanchthon ein guter Grund ist, das Ende nicht zu fürchten. Aus katholischer Perspektive sieht man überdies das (Vor-)Urteil bestätigt, dass „stocknüchterne Protestanten“ (Die Zeit/Christ&Welt) nicht feiern können. Sobald man ihnen so etwas wie Pathos abverlange, sei es um sie geschehen.

Zweitens: Jenseits komplizierter Gefühlslagen geht es in der Kontroverse um das Verhältnis von akademischer Theologie und Kirche. Mit diesem steht es gegenwärtig nicht zum Besten. So fühlt sich die Kirche gelegentlich von ihren akademischen Theologinnen und Theologen im Stich gelassen. Das kommt bei Gundlach deutlich zum Ausdruck. Umgekehrt konnten wissenschaftliche Theologinnen und Theologen in den vergangenen Jahren nicht immer den Eindruck gewinnen, dass die Kirchenleitungen ein ernsthaftes Interesse an wissenschaftlicher Reflexion und Kritik haben. Darüber hinaus ist eine erhebliche Wissenschaftsskepsis bei manchen kirchenleitenden Akteuren und eine Distanz zu Kirche und konfessioneller Bindung bei manchen akademischen Theologen festzustellen. Aber eine solche Entfremdung zwischen Kirche und Theologie ist für beide Seiten schädlich. Denn beide Seiten sind aufeinander angewiesen. Und auf beiden Seiten gibt es viel zu lernen.

Ein Teil des wechselseitigen Unverständnisses füreinander verdankt sich der schlichten Tatsache, dass sowohl die Wissenschaft als auch die Kirchenpolitik eigenen Systemlogiken folgen, die nicht unmittelbar aufeinander abgebildet oder zurückgeführt werden können. So haben Kaufmann und Laube grundsätzlich Recht, wenn sie darauf insistieren, dass es Aufgabe wissenschaftlicher Theologie sei, Kritik an der Kirche zu üben und eine vorschnelle Instrumentalisierung der Reformation für kirchenpolitische Ziele durch Historisierung zu verhindern. Der große Friedrich Schleiermacher hat diese Funktion der Theologie betont: Während die „Kirchliche Autorität“ die Orthodoxie vertrete, solle die akademische Theologie heterodox und innovativ sein und damit der Lehrentwicklung immer wieder neue Impulse geben. Allerdings sieht Schleiermacher die beiden Seiten des Kirchenregiments zum Wohl der Kirche eng aufeinander bezogen. Eine wechselseitige Indifferenz war für ihn ebenso ausgeschlossen wie ein destruktives Abqualifizieren der jeweils anderen Seite. Schleiermacher formuliert in seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums von 1830: „Der Zustand eines kirchlichen Ganzen ist desto befriedigender, je lebendiger beiderleih Tätigkeiten ineinander greifen, und je bestimmter auf beiden Gebieten mit dem Bewußtsein ihres Gegensatzes gehandelt wird.“

Schleiermacher verlangt von den akademischen Theologen mithin, sehen zu können, dass Kirchenleitende anders beobachten müssen als sie selbst dies tun und umgekehrt: Dass auch Kirchenleitende ein Interesse daran haben müssen, von der wissenschaftlichen Theologie kritisch wahrgenommen zu werden, auch wenn das manchmal anstrengend ist. Für Schleiermacher ist evident, dass wissenschaftlicher Geist und religiöses Interesse zusammengehören und sich wechselseitig nicht schwächen sollten.

Kritische Begleitung

Im gegenwärtigen Streit scheinen diese Maximen nicht immer befolgt zu werden. Dass die EKD das Reformationsjubiläum in vieler Hinsicht unter kirchenpolitischen Gesichtspunkten gestaltet und betreibt, ist nicht als Populismus (oder gar als fake news) zu diskreditieren. Die EKD muss im Hinblick auf die Öffentlichkeit ganz andere Rücksichten nehmen als ein Lehrstuhlinhaber, ob das nun die Ökumene oder die Thematisierung der negativen Seiten Luthers oder Werbekampagnen betrifft. Umgekehrt kann die EKD keine unmittelbare Unterstützung ihrer Kirchenpolitik von der wissenschaftlichen Theologie verlangen, sondern sollte sich womöglich auch gerade dort geachtet fühlen, wo man sich kritisch mit ihr auseinandersetzt. In dieser Hinsicht ist der Streit vielleicht tatsächlich ein gutes Zeichen – die heftigen Emotionen, die in ihm zum Ausdruck kommen, zeigen, wie lebendig der Protes-tantismus ist.

Doch so wichtig die Kritik für die Theologie ist: Es ist auch Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie als „Freie Geistesmacht“, wie Schleiermacher die kirchenleitende Funktion der wissenschaftlichen Theologie nannte, konstruktive Beiträge zur Frage der künftigen Gestaltung der evangelischen Kirche zu leisten. Die historische Kritik ist wichtig und zentral, aber Theologinnen und Theologen müssen auch in der Lage sein, die Gegenwartsrelevanz der Reformation zu erschließen, die Kernstücke evangelischen Glaubens in einer säkularisierten und komplexen Gesellschaft zu plausibilisieren und ihre Kirche solidarisch-kritisch auf dem Weg in die Zukunft zu begleiten.

Drittens: Die vielfache Kritik an der ökumenischen Ausrichtung des Reformationsjubiläums scheint eine akademische Sichtweise zu sein, die der kirchlichen Praxis und der Wahrnehmung der Kirchen in der Öffentlichkeit nicht entspricht. Auch an diesem Punkt kommen die unterschiedlichen Systemlogiken zum Tragen. Selbstverständlich sollte es im Reformationsjubiläumsjahr auch um protestantische Identität und Selbstvergewisserung gehen. Aber ebenso selbstverständlich sollte es sein, das Fest mit der Bereitschaft zu verbinden, sich in beiden Konfessionen zu hinterfragen und von der jeweils anderen Seite inspirieren zu lassen. Eigene Identität wird vor allem dann kenntlich und bereichert, wenn man sich einem kritischen Gegenüber aussetzt.

Es ist das erste Reformationsjubiläum, das ökumenisch begangen wird, weil es in den vergangenen hundert Jahren zu erheblichen Annäherungen der beiden Kirchen gekommen ist. Christen und Kirchen begegnen sich über die konfessionellen Grenzen hinweg mit gegenseitigem Respekt und nicht mehr mit Verachtung. Auf Gemeindeebene funktioniert die Ökumene vielfach hervorragend. Viele katholische Christen sind sehr interessiert, mehr über Martin Luther und die Reformation zu erfahren. Das Reformationsjubiläum ökumenisch zu feiern, bedeutet deshalb auch danach zu fragen, wie evangelische und katholische Christenheit künftig noch überzeugender den Glauben gemeinsam vertreten und das Gespräch mit der säkularen Welt führen können. Das von manchen kritisierte Jubiläumsmotto des „Christusfestes“ ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt, es zeigt jedoch, dass es für die katholische Kirche genauso selbstverständlich ist wie für die evangelische, sich auf Jesus Christus als Grund der Kirche zu beziehen. Die Erinnerung an die Reformation mahnt die Kirche, sich immer wieder an diesem Ursprung der Kirche messen zu lassen. Im Übrigen ist es gerade aus wissenschaftlicher Perspektive evident, dass jeder Umgang mit historischen Ereignissen identitätsstiftende Elemente enthält. Jedes kulturelle Gedächtnis ist auch Mythos und niemals nur historische Rekonstruktion (vergleiche auch Seite 25).

Deshalb wird die Reformation auf evangelischer und katholischer Seite ganz unterschiedlich erinnert. Man sollte sich deshalb davor hüten, die Reformation vorschnell konfessionell zu vereinnahmen und zu instrumentalisieren. Es erscheint vor diesem Hintergrund besonders reizvoll und herausfordernd, an einer gemeinsamen ökumenischen Deutung des Geschehens zu arbeiten und nach den Einsichten und Impulsen der Reformation für die Gegenwart beider Kirchen zu fragen.

So haben sich die beiden theologischen Fakultäten an der Universität Bochum in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum bereits 2013 mit der Reformation und ihren Folgewirkungen in beiden Kirchen auseinandergesetzt. Ein besonderes Augenmerk galt der Zentralstellung des Wortes Gottes und den belebenden kulturellen und kirchenreformerischen Impulsen, die von dieser Zentralstellung ausgingen und ausgehen. Wenn durch das Reformationsjubiläum die Gemeinschaft zwischen den Kirchen vertieft werden könnte, wäre das ein großer Gewinn. Die Trennungslinie verläuft in der Zukunft immer weniger zwischen den Konfessionen als zwischen Christen und Nichtchristen.

Viertens: Das Reformationsjubiläum ist sowohl für die wissenschaftliche Theologie als auch für die Kirchen eine große Chance. Und es ist tatsächlich ein Fest, keine Schulstunde. Es bedarf, um mitfeiern zu können, einer gewissen Großzügigkeit und auch den Mut sich zu identifizieren und nicht nur zu distanzieren. In diesem Sinn sollte sich die „Freie Geis-tesmacht“ der akademischen Theologie produktiv auf die kirchliche Praxis beziehen und sich nicht in besserwisserischer Attitüde gefallen. Die Kirche wiederum sollte keine falschen Serviceerwartungen im Hinblick auf die wissenschaftliche Theologie hegen, sondern die medial kaum auffällige geräuschlose Unterstützung durch die wissenschaftlichen Theologinnen und Theologen wahrnehmen und sie als „Freie Geistesmacht“ schätzen.

Thomas Kaufmann/Martin Laube: "So nicht!" (zz 04/2017)
Thies Gundlach "Perspektiven vermisst" (zz 03/2017)

Isolde Karle

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