Vielfach von Marx zitiert
Bis heute wird die These diskutiert, die der Soziologe Max Weber 1905 aufstellte, wonach sich der „Geist des Kapitalismus“ maßgeblich der protestantischen Ethik verdankt. Protestantismus steht seitdem für rationale Lebensführung, produktive Selbstdisziplin und das Arbeitsethos einer innerweltlichen, aus dem Kloster befreiten Askese. Aber Martin Luther hatte für Weber (1864–1920) und den protestantischen Kulturphilosophen Ernst Troeltsch (1865–1923) keine Ahnung von der Logik der Ökonomie, im Gegensatz zum Genfer Reformator Johannes Calvin. Diese Verteilung von Kompetenzen hätte ein weiterer Grund sein können, im Vorfeld des Reformationsjubiläums innerevangelische Debatten über die Wirtschaft zu führen. Zumal sich beide protestantischen Weltbünde in den vergangenen Jahren sehr pointiert zu Fragen der Weltwirtschaft geäußert haben, der Lutherische Weltbund 2003 in Winnipeg und der Reformierte 2004 in Accra.
Aber warum prägen die Debatten der Weltbünde nicht das Reformationsjubiläum in Deutschland? Das wirkt wie eine Spätfolge des von Troeltsch und Weber konstatierten blinden Flecks bei Martin Luther. Aus Webers Sicht lenkte Luther mit der Auflösung der Klöster und mit seinem Berufsgedanken zwar asketische und damit kapitalismusförderliche Kräfte in den Alltag. Aber dies sei angesichts von Luthers Einlassungen zu Zins und Wucher wieder verblasst, offenbarten diese doch eine „‘rückständige‘ Vorstellungsweise vom Wesen des kapitalistischen Erwerbes“. Und Troeltsch diagnostizierte bei Luther eine „beständige Bekämpfung des Eigennutzes, die Forderung der Ergebung in Verluste, Teuerungen und Nöte als göttliche Strafen und Zuchtruten“ und damit den „evangelischen Radikalismus der leidenden und duldenden Sekte“.
Anders als Troeltsch und Weber beurteilte der Berliner Ökonom und Mitgründer des „Vereins für Socialpolitik“ Gustav Schmoller (1838–1917) den Reformator. Er lobte dessen Schrift über Kaufleute als „das Interessanteste, was uns in nationalökonomischer Beziehung aus der Reformationsperiode erhalten ist“. Und Karl Marx zitierte Luther im „Kapital“ vielfach. Er bezog sich zustimmend auf Luthers klassische Arbeitswertlehre, die mit ihm der liberale Klassiker der Nationalökonomie Adam Smith teilt. Für die klassische Ökonomie bemaß sich der Preis der Arbeit an der Zeit und Anstrengung, die aufgewendet wurden. Das sehen neoklassische Ökonomen heute nicht mehr so. Für sie regelt alleine das Verhältnis von Angebot und Nachfrage den Preis. Da mag in manchem Produkt viel Herzblut stecken, aber das nützt nichts, wenn es am Markt kaum Cents erlöst.
Lobend bezog sich Marx auch auf Smiths und Luthers empirisches Interesse, das heißt ihre alltagsbezogene wie entscheidungsfreudige Verarbeitung von Erfahrungen, die Arbeiter und Unternehmer mit Geld und Spekulation und mit Monopolen machten, und einer Kapitalmacht, die Politik und Kirche ins Wanken bringt. So liest man bei Smith (und nicht bei Marx): „Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen und Zerstreuungen zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann.“ Und bei Luther liest sich das so: Es „haben die Kaufleute unter sich eine allgemeine Regel: Ich darf meine Ware so teuer geben, als ich kann. Das halten sie für ein Recht, da ist der Habsucht der Raum gemacht und in der Hölle alle Türen und Fenster aufgetan. Was heißt das anderes als: Ich frage nichts nach meinem Nächsten?“
Bezugsrechte aufs Seelenheil
Haben also Ökonomen und Sozialisten weniger Berührungsängste gegenüber der Mittelalter, Aufklärung und Neuzeit verbindenden Wahlverwandtschaft von Luther, als Theologen und Soziologen? Luther äußerte sich entschieden, immer wieder neu, grundsätzlich wetternd und seelsorgerlich aufrichtend, zu Geld und Wirtschaft. Umso mehr stellt sich die Frage, warum sich die Organisatoren von Lutherdekade und Reformationsjubiläum in Sachen Geld und Weltwirtschaft so zurückgehalten haben. Nur zur Erinnerung: Mit seinen Thesen verübte der junge Mönch einen Anschlag auf das etablierte Geschäftsmodell des Ablasswesens und der Wallfahrtsökonomie. Betriebswirtschaftlich gesprochen, verdarb er das florierende Geschäft mit future-options, also käuflich zu erwerbenden Bezugsrechten aufs Seelenheil oder weniger Jahre im Fegefeuer, für den Anleger und andere. Der Kauf von Ablassbriefen war aus Luthers Sicht nicht nur eine Investition in eine jenseitige Schrottimmobilie, sondern für den Investor selbst gefährlich, brachte er doch damit Gott gegen sich auf. In These 45 heißt es: „Wer den Bedürftigen sieht, an ihm aber vorbeischaut und stattdessen Ablass kauft, der erwirbt nicht den Strafnachlass des Papstes, sondern den Zorn Gottes.“
Wo im 16. Jahrhundert eine Wallfahrtskirche durch Konfessionswechsel des Landesherrn auf protestantisch gewordenem Gebiet zu stehen kam, wurde sie zur Investitionsruine: Keine Pilger, kein Geld. Selten hat sich das Christentum so mutig in die Wirtschaft eingemischt wie damals. So ging es mit vielen Investitionen so bergab wie mit der Wallfahrtskirche in Alt Krüssow und der Wunderblutkirche in Bad Wilsnack, die die brandenburgische Prignitz belebt hatten. 1543 führte die erste protestantische Kirchenvisitation dazu, dass ein in Alt Krüssow bis heute sichtbarer Tresorraum der Kirche sinnlos wurde und leer stand. Arbeitsplätze in Gastronomie und Hotellerie, Handwerk und Landwirtschaft, von Geldvermittlern und Händlern gingen verloren.
Viele Flugblätter der Reformationszeit belegen, dass Fragen der Geldentwertung durch Ablass, minderwertige Prägungen und durch Bankhäuser, die – wie die Fugger und Welser – das Geld ins Ausland schafften, öffentlich heftig diskutiert wurden. So kann man vermuten: Die Verfasser jener deftigen Druckwerke würden sich heute nicht entgehen lassen, was ihnen die durch die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank ausgelösten Sorgen geboten hätten, oder einen Euro, dem die Kanzlerin einen Geburtsfehler attestiert, weil er für eine Währungsunion ohne Fiskalunion steht. Ganz zu schweigen von ttip, der Debatte um Nahrungsmittelspekulationen oder zahnlose Untersuchungsausschüsse zu Steuerhinterziehung und Korruption, Steueroasen, Menschenhandel und Drogen.
Frappierende Deutlichkeit
Vielleicht war es ja gerade das Setting zwischen Mittelalter und anhebender Neuzeit, das Luther veranlasste, an einer zentralen Stelle seiner Reformation in einer Deutlichkeit, die bis heute frappiert, den Zusammenhang von Geld und der Glaubenskompetenz eines jeden einzelnen anzusprechen.
Im Folgenden soll in aller Kürze an einige Stationen erinnert werden, an denen der Reformator in bemerkenswerter und ungewohnter Deutlichkeit auf Wirtschaftsfragen zu sprechen kam. Seine Sensibilität für die Ökonomie ist bereits in den 95 Thesen ausgeprägt, deren Veröffentlichung wir in diesem Jahr besonders gedenken. Sie durchzieht der Gedanke, dass der Mensch die Aufgabe hat, die Welt im Sinne des Liebesgebotes zu reformieren. So weist die erste These die Christen darauf hin, dass es nicht theologisch-praktisch ausdifferenzierter Bußriten bedarf, sondern der Alltag der Ort ist, den Gottesbezug zum Leben zu bringen: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ’Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen’, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Die Rechtfertigung allein aus Glauben ist die Grundausstattung der Weltzuwendung. Sie hatte für Luther soziale Folgen. „Man sollte mich Doctor bonorum operum nennen!“, auf Deutsch: Lehrer der guten Werke, sagte er. Das heißt im Umkehrschluss: Wer nicht an gute Werke denkt, ist ein schlechter Lutheraner, gerade beim Umgang mit Geld. Hier findet sich bereits Luthers wirtschaftsethischer Grundansatz. Reformation heißt: Ich bin so frei, die Nächstenliebe über alles stellen zu können. In den Jahren 1519/20 befassen sich „Zwei Sermone vom Wucher“ mit einigen Problemen, die Menschen im aufkommenden Frühkapitalismus bedrängen. Hier findet sich ein Nein zum Wucher, der Notlagen ausnützt, aber auch der Hinweis, rund vier bis fünf Prozent Zins seien vertretbar. Für Luther ist die Wirtschaft ein Teil christlicher Existenz, nicht umgekehrt. Das heißt: Wirtschaft ist eigenständig, aber nicht eigengesetzlich. Gerade auch hier müssen sich Christen bewähren.
Bereits diese frühen Positionierungen lassen sich nahtlos mit dem verbinden und aktualisieren, was heute in einer Wirtschaftsethik debattiert wird, die dem ökonomischen und spieltheoretisch argumentierenden Denken verpflichtet ist. Zum Mantra der Ökonomie gehört: Wenn die Rahmenordnungen stimmen, wird aus dem Eigennutz automatisch Gemeinwohl. Demnach lassen sich Umweltprobleme marktkonform lösen, wenn die Preise internalisiert werden. Und Steuerhinterziehung existiert für manche nicht, wenn in Steueroasen das Gesetz gilt, dass keine Steuern gezahlt werden müssen.
Eine durch die Rahmenordnung garantierte Gerechtigkeit ist der Gründungsmythos des Wirkens der von Adam Smith gelegentlich erwähnten „unsichtbaren Hand“. Dabei wissen wenige Ökonomen, dass diese klassische Aussage eher eine theologische ist, als eine ökonomische. Sie war für Smith deshalb tragfähig, weil er ihr Fundament in der Aufklärungstheologie des Deismus verortete: Der Schöpfer hat ein perfektes Uhrwerk geschaffen, das automatisch und leistungsstark das individuelle Nutzenkalkül in den Wohlstand der Nationen verwandelt.
Aber der Glaube an den perfekten Uhrmacher ist zerbrochen. Und auch in der akademischen ökonomischen Debatte reicht nicht mehr der Hinweis auf mehr oder weniger gut gemachte staatliche Rahmenordnungen, die Egoismus in Gemeinwohl verwandeln. Die Frage lautet vielmehr: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ Oder wie man in der ökumenischen Bewegung sagen würde: „Was dient dem Leben und der vollen Genüge aller?“
Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend und anschlussfähig an transdisziplinäre Debatten, Luthers drei berühmte und zentrale Wirtschaftsschriften zu bedenken, wenden sie sich doch an die Verantwortlichen für die weltliche Ordnung, den Adel, die in die babylonische Gefangenschaft geratene Kirche und ganz besonders an jeden einzelnen Christenmenschen. Luther hat ja immer beides bedacht: die Handlungsfreiheiten des einzelnen Christen und die Notwendigkeit und Verantwortung der Institutionen. Wenn Luther sich 1523 einmal mehr an die weltliche Obrigkeit wendet, geht es, wie wir sagen würden, um die Verantwortlichen für die Rahmenordnungen. Die Zweireichelehre bringt es dabei mit sich, dass man in weltlichen Dingen allein mit der Vernunft schon recht weit kommt. In Wirtschaftsdingen muss man also gar nicht immer Gott ins Spiel bringen. So ist das Argument der „Billigkeit“ das zweite zentrale Strukturelement in Luthers Wirtschaftsdenken: Man soll dem Nächs-ten nichts antun, von dem man nicht will, dass es einem selber angetan würde. Das gilt zum Beispiel für verlangte Zinsen, das Ausnutzen von Notlagen und die Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen. Luther denkt an institutionelle Rahmenordnungen wie an die Freiheit und Kompetenz des Einzelnen, sich in ihnen zu verhalten und sie mitzugestalten. „Außerdem macht Geld niemanden froh“, dozierte er zuhause bei Tisch, „es macht einen mehr betrübt und voller Sorgen. Doch ist die Welt so töricht und will alle ihre Freude im Geld suchen.“ Und in der Gemütlichkeit bei Tisch plauderte er auch schon einmal aus dem Nähkästchen: „Der Kurfürst wollte mir ein zwei Drittel Kux aus dem Fürsten-stollen geben, aus dem ich jährlich 300 Gulden gehabt hätte, aber ich habe abgelehnt. Ich traue der Sache nicht, vielmehr erscheint es mir als eine Art Diebstahl.“
So ist letztlich auch der gut protestantische Zug zur eigenen Urteilskraft, der dafür nötigen Bildung und der Fähigkeit, eigenständig Wissen über die Bibel und die Welt zu erwerben, ökonomisch relevant. Bildung macht kompetente Marktteilnehmer, ermöglicht Angebote zu prüfen und Verantwortung dort zu übernehmen, wo man hingestellt worden ist. Und wenn es in der ebenfalls aus dem Jahr 1523 stammenden „Predigt, dass man Kinder zur Schule halten soll“ heißt, „einen fleißigen, frommen Schulmeister, der Knaben treulich zieht und lehrt, den kann man nimmer genug lohnen und mit keinem Geld bezahlen“, so ist auch dies für die Auseinandersetzung über die Ökonomie bedeutsam.
In der 1524 entstandenen Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher“ greift Luther „Monopole“ an, die jenseits aller Konkurrenz Abhängigkeiten schaffen und Preise setzen können, wie sie wollen. Aus Sicht der ökonomischen Preistheorie ist das alles andere als ein wirrer Gedanke, gilt dort als „vollkommener“ Markt doch nur der, auf dem viele Anfrager auf viele Anbieter treffen, weshalb auch heutige Ökonomen Monopole und Oligopole für sehr problematisch halten.
Keine antijüdischen Klischees
Dass Wirtschaft für Luther kein beiläufiges Thema war, sondern ein Dauerbrenner, zeigen auch die klaren Instruktionen „An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, Vermahnung“ von 1539/40. Es handelt sich wohl um Luthers schärfste Schrift zu wirtschaftlichen Problemen seiner Zeit. Er attackiert zu hohe Zinssätze, lotet angemessene aus, sucht theologischen Rat und formuliert: „Sie sagen, die Welt könne nicht ohne Wucher sein. Das ist gewißlich wahr. Denn so fest und angesehen wird keine Regierung in der Welt sein, oder war es in der Vergangenheit, dass sie alle Sünden hätte abwehren können. Und selbst wenn das möglich wäre, so bleibe doch die Erbsünde, die Quelle aller Sünden mitsamt dem Teufel, von dem die Juristen freilich nichts wissen können. Ihr muss man wehren, soviel wie möglich. Wucher muss sein, aber wehe den Wucherern!“
Als Seelsorger mit Witwen und Waisen konfrontiert, die keine anderen Einkünfte haben als ein wenig Zinsen aus dem Angesparten, prägt Luther den Begriff des „Notwücherleins“: „fast ein halbes Werk der Barmherzigkeit für die Armen, die sonst nichts hätten und was den anderen nicht besonders schadet.“ Beiläufig sei angemerkt: Antijüdische Klischees spielen in Luthers Wirtschaftsschriften keine Rolle. Im Gegenteil: Er lobt ausdrücklich die „heilsame Unterbrechung“ von Verschuldungslogiken im alttestamentlichen Institut des Jubeljahres.
Als nach Missernten Bauern und Händler ihr Korn in der Kammer behielten, weil es so immer wertvoller wurde, setzte sich Luther in Wittenberg für Kornspeicher unter städtischer Verwaltung ein. Ganz besonders „fromme“ Zeitgenossen hielten ihm entgegen, in der Bibel stehe doch, man solle nicht für den nächsten Tag sorgen. Luther reagierte mit einer für seine wirtschaftsethischen Maxime typischen Frage: Kann aus so einer Aussage Nächstenliebe sprechen?
Wer Christ sein will, muss sich für den Reformator gerade in der Wirtschaft bewähren. Luthers Impulse aufnehmen, könnte heute zur Einsicht führen: Makro- und Mikroökonomie sind weder Spielplätze für theokratische Allüren noch Protektorate, die man vor Theologie und Kirchen schützen muss. Das Thema Luther und Wirtschaft würde es verdienen, im Mosaik des Reformationsjubiläums so gewürdigt zu werden, das ein den garstigen Graben überwindender und zukunftsweisender Impuls frei wird.
Wolfram Stierle
Wolfram Stierle
Wolfram Stierle ist Theologe und Ökonom und leitet den Grundsatzstab im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Berlin.