Es scheint nur eine Randbemerkung im Nebensatz zu sein, wenn in der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934 von der „noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht”, die Rede ist. Sie bringt aber in knappster Diktion die zentrale Einsicht zur Sprache, dass die Kirche nicht in irgendeiner Sonderwelt existiert. Sie wirkt unter den äußeren Bedingungen der einen Gegenwart und Wirklichkeit, in der dem Staat die Aufgabe zukommt, „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens (.) für Recht und Frieden zu sorgen“.
Dass es dem Staat nicht zukommt, für seine Rechtsordnung einen „Ewigkeitswert“ zu reklamieren, unterstreicht die Barmer Theologische Erklärung dann auch. Aber interessanter ist, dass die Kirche ihren Ort nicht neben oder über, sondern inmitten der (staatlicherseits zu ordnenden) irdischen Lebenswirklichkeit hat. Der Lutheraner Hans Asmussen (1898–1968) beschrieb sie pointiert in dem Vortrag, mit dem er die „Theologische Erklärung“ in die Barmer Bekenntnissynode einbrachte: „Verkündigt die Kirche ein staatliches Reich, ein irdisches Gesetz und die Gerechtigkeit einer menschlichen Gesellschaftsform, dann überschreitet sie ihre Grenzen und reißt den Staat in ihre eigene Versumpfung mit sich hinab.”
Die 1934 vorgenommene Aufgabenabgrenzung zwischen Staat und Kirche lässt unschwer erkennen, dass es auch Jahrhunderte nach der Reformation Bedarf gab, in der evangelischen Kirche Fragen nach reklamiertem Rechtsraum, nach beanspruchter Rechtsetzung, nach Mitteln und Wegen zur Um- und Durchsetzung des gesetzten Rechts und zu etwaigen Übergriffigkeiten zu beantworten. Denn eine Rechtsabstinenz hat die Reformation nicht bewirkt.
Warnung vor Übergriffen
Dass es dazu nicht gekommen ist, mag angesichts nicht selten zitierter Bemerkungen Luthers – zum Beispiel: „(.) so heißt es denn recht: Ein Jurist – ein böser Christ“ – überraschen. Oder auch: „Juristen wissen nicht, was die Kirche ist. Wenn sie ihre Bücher alle durchsuchten, so fänden sie nicht, was die Kirche sei; darum sollen sie uns auch nicht reformieren. Omnis Jurista est aut nequista aut ignorista: ein jeglicher Jurist ist entweder ein Schalk oder ein Esel, der in göttlichen Sachen nichts kann. Und wenn ein Jurist darüber disputieren will, so sagt ihm: Hörst du, Gesell, ein Jurist soll hier nicht eher reden, es farze denn eine Sau.“
Trotz solcher drastischer, distanzierender Bemerkungen: Die Reformation Wittenberger Prägung lehnte das Recht nicht ab oder war dem Recht gegenüber gar feindlich eingestellt. Sie forderte vielmehr eine genaue und konsequent durchgehaltene Differenzierung zwischen den Aufgaben der kirchlichen Verkündigung und der dazu dienenden Ordnung einerseits und denen weltlicher Rechtsetzung und -durchsetzung andererseits.
Luther beschrieb mehrfach, welche fatalen Folgen es hat, wenn die Abgrenzung nicht mehr bewusst ist, oder aber die Grenzlinie in der einen oder der anderen Richtung überschritten wird. Staatliche Rechtsetzung greift falsch aus, will sie auf Glauben zielende Verkündigung regulieren und kanalisieren. Und die Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt geht fehl, wenn sie Ziele verfolgt, die weltlichen Charakters sind. Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schulde“ bietet in dem Abschnitt „Wie weit sich weltliche Obrigkeit erstrecke“ die zugehörige Argumentation: „Die Seele ist nicht unter des Kaisers Gewalt, er kann sie weder lehren noch führen, weder töten noch lebendig machen, weder binden noch lösen, weder richten noch urteilen, weder festhalten noch freilassen, welches doch sein müsste, wo er Gewalt hätte, über sie zu gebieten und Gesetze zu erlassen: sondern über Leib, Gut und Ehre hat er wohl solches zu tun, denn solches ist unter seiner Gewalt.“ Sollte aber die damit markierte Linie von einem weltlichen Herrn überschritten werden, „da seid ihr ein Tyrann und greift zu hoch, gebietet, wo ihr weder Recht noch Macht habt“.
Ebenso fatal wäre der andere Übergriff, wollte sich die Kirche weltlicher Mittel bedienen, um ihre Glaubensanliegen durchzusetzen oder zu schützen: „Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt wehren. (.) Gottes Wort soll hier streiten; wenns das nicht ausrichtet, so wirds wohl von weltlicher Gewalt unausgerichtet bleiben, wenn sie gleich auch die Welt mit Blut füllte. Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen zerhauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken. Es ist aber allein das Gotteswort da, das tuts“.
Am 10. Dezember 1520 entfaltete die Bannandrohungsbulle Papst Leos X. ihre rechtliche Wirkung gegen Luther und diejenigen, die seinen Überzeugungen folgten. Der damit markierte Bruch wurde seitens der Wittenberger Reformatoren dadurch dokumentiert, dass Luther an diesem Tag vor dem Elstertor die Bannandrohungsbulle wie die Bücher der kanonischen Rechtsetzung dem Feuer übergab. Eine nach reformatorischer Einsicht revidierte kirchliche Ordnung trat dann aber nicht alsbald als komplettes Produkt einer systematisch-planmäßigen Durcharbeitung ins Leben, sondern war Ergebnis einer je nach dem aktuellen, ja akuten Bedarf geleisteten Arbeit, zunächst für einzelne Bereiche des kirchlichen Handelns wie den Gottesdienst und die Amtshandlungen, die Diakonie und die Sicherung der für die Finanzierung des kirchlichen Dienstes erforderlichen Einkünfte.
Auch die ersten reformatorischen Kirchenordnungen, die bald danach herausgegeben wurden, wirken heute lückenhaft und der Ergänzung bedürftig. Umso bedeutsamer ist, dass dennoch schon zu dieser Zeit oft für eine Art Qualitätssicherung gesorgt wurde, indem die Entwürfe der Ordnungen nach Wittenberg zur Prüfung gesandt und dort redigiert wurden. Oder es wurden Personen zur Erstellung der Kirchenordnungen herangezogen, die schon andernorts mitgearbeitet hatten und so eine einschlägige Expertise besaßen.
Die Reformation konnte nur dort Wirkung zu entfalten, wo die Landesherren oder die Magistrate der Städte sich dafür entschieden, eine Ordnung des Kirchenwesens im Sinne der Reformation zu fördern oder zumindest zu dulden. So trat an die Stelle der bisher einheitlichen kirchlichen Rechtsordnung eine Vielzahl von Ordnungen. Und diese vermochten keine Rechtswirkung über die Grenzen des jeweiligen Territoriums hinaus entfalten, für das sie erstellt worden waren. Und seither, bis heute, findet die Rechtsetzung in der evangelischen Kirche Deutschlands letztlich in landeskirchlicher Verantwortung statt. Nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 sind die Landessynoden als die gesetzgebenden kirchlichen Organe bienenfleißige Dauerproduzentinnen von kirchlichem Recht. Die digital zugänglichen kirchlichen Rechtssammlungen der diversen Landeskirchen vermitteln einen quantitativen Eindruck davon und belegen bestens, wie sehr man sich durch Rechtsetzung um Überschaubarkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit kirchlichen Handelns bemüht. Sie lassen andererseits aber auch einen beunruhigenden Zweifel hochkommen. Doch ein skeptisches „Was würde Jesus dazu sagen?“ (Martin Niemöller) würde die zu klärenden Rechtsfragen auch nicht beantworten. Dass die Kirche ihren Dienst in der noch nicht erlösten Welt tut, bindet sie jedenfalls erkennbar ein in die in fortschreitende Tendenz zur Verrechtlichung vielen Lebensbereiche.
Diese ist auch ein (sanftes) Joch dessen, was 1949 aus der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz übernommen wurde: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Da der Staat keine religiöse Orientierung betreibt, hat er Staat den Religionsgesellschaften logischerweise Selbständigkeit eingeräumt, mit der Möglichkeit zur Setzung eigenen Rechts. Dies erfordert aber entsprechende Kompetenz – also (Verwaltungs-)Juristen im kirchlichen Dienst wie auch Synodale (ordiniert wie nicht ordiniert), die sich aufmerksam und qualifiziert der Themen und Einzelfragen annehmen, die viele rechtliche Regelungen erfordern. Und es bringt mit sich, dass sich die Leitung von Kirchen und Gemeindeleitung über weite Strecken als Agieren in einem ausdifferenzierten Rechtsraum darstellt. Und das lässt Pfarrerinnen und Pfarrern immer wieder über eine zu hohe Belastung durch die unvermeidliche Erledigung von Verwaltungsaufgaben klagen.
Neben den aus der Reformation unmittelbar resultierenden Folgen für die Entwicklung von Rechtsordnungen im „weltlichen“ Rechtsraum wie etwa für Ehe, Ehescheidung und das Austarieren konkurrierender konfessioneller Ansprüche im Staatswesen, das sich in Deutschland von 1555 an dauerhaft auf das Nebeneinander verschiedener Konfessionen einzurichten hatte, dürften sich auch weitere Wirkungen beschreiben lassen: Dazu gehören eine beschleunigte Emanzipation des Zivilrechts vom kanonischen Recht, die Ausformung des Öffentlichen Rechts und des Völkerrechts.
Verlust der theologischen Dimension
Allerdings hat der Heidelberger Kirchenhistoriker Christoph Strohm jüngst in dem Beitrag „Reformation und Recht“ bestens begründet, dass ein Nachweis von „konfessionsspezifischen Kulturwirkungen“ schon methodisch ein ganz erhebliches Problem darstellt, weil „die“ Reformation selbst keine einheitliche Größe, sondern ausgesprochen vielgestaltig ist. Zur Veranschaulichung der Bandbreite seien nur Stichworte wie Gnesioluthertum, Philippismus, Calvinismus und Täufertum genannt. Zudem wurden alle, die sich an den durch lange Zeitphasen hindurchziehenden Entwicklungen beteiligten, von den Mainstreams des jeweiligen Zeitgeschehens mitgeprägt, von den Realitäten absoluter Monarchie, Perspektiven aufgeklärten Denkens, revolutionärer Ideen und auch von Konfrontationen, wie sie der Kulturkampf im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit sich brachte. Monokausale Zuschreibungen von Ursachen und Wirkungen derart komplexer Entwicklungen sind unzulänglich. Und wo sie dennoch unternommen werden, dienen sie nur zu leicht geschichts- und gesellschaftspolitischen Abzweckungen der jeweiligen Gegenwart.
Diese Frage wird sich auch die im Kontext des gegenwärtigen Reformationsjubiläums vorgenommene Fokussierung auf den Begriff der Freiheit gefallen lassen müssen, gerade angesichts dessen, dass in der Epoche der Reformation die Etablierung einer angemessenen rechtlichen Ordnung eine so zentrale Rolle spielte, was bis zur Gegenwart wirkt.
Der Tübinger Staatskirchenrechtler Martin Heckel weist in seiner neuen umfassenden Untersuchung Martin Luthers Reformation und das Recht (siehe auch zz 4/2017) nachdrücklich darauf hin, dass bis heute – jedenfalls in Deutschland – der Bereich „Religion“ nicht aus dem Bereich staatlicher Kulturverantwortung ausgegrenzt worden ist. Man wird nicht zu weit gehen, wenn man darin eine mittelbare Wirkung der Reformation sieht: Man hat gelernt, das Nebeneinander verschiedener konfessioneller und religiöser Überzeugungen im Land aufgrund der damit seit dem 16. Jahrhundert verbundenen Mühen auszuhalten und im Ergebnis für das Gesamte förderlich zu gestalten.
Ob der von Heckel zugleich skizzierte Verlust der theologischen Dimension des Kirchenrechts in den auf die Reformation folgenden Epochen durch den gegenläufigen Impuls des Kirchenkampfes aufgefangen und hinreichend korrigiert ist, ist fraglich. Solange kirchliche Öffentlichkeitsarbeit die Synoden als „demokratische Organe“ präsentiert und im öffentlichen Bewusstsein etabliert, kann wohl kaum mit dem Aufkommen eines neuen Verstehens der theologischen Dimension kirchlicher Rechtsetzung in der noch nicht erlösten Welt gerechnet werden.
Jürgen Kampmann