Innere Affinität
Die Annahme, komplexe historische Entwicklungen ließen sich auf eine einzige Ursache zurückführen, ist naiv. Stets wirken viele Faktoren daran mit, dass Neues entsteht. Auch wer meint, der Historisierung der Reformation diene man dann am besten, wenn man ihre mittelalterlichen Züge wieder und wieder hervorkehrt, ist gut beraten, diejenigen Züge an ihr nicht zu vergessen, in denen sich Neues ankündigt: in der Verknüpfung der Gnade Gottes mit der Freiheit des Christenmenschen, in der Eindeutigkeit, mit der gute Werke nicht als Bedingung dieser Gnade, sondern als Folge des Glaubens an den gnädigen Gott verstanden werden, oder im Vorrang der Gewissensbindung vor dem Obrigkeitsgehorsam. Auch die reformatorische Vorstellung von der radikalen Gleichheit aller Getauften gehört in diese Reihe. Es zählt zu den Paradoxien der reformatorischen Theologie, dass sie dem Priesterstand den Abschied gibt, aber zugleich alle Getauften zu Priestern erklärt. Diese Paradoxie soll Aufmerksamkeit wecken. Jeder Getaufte ist zum Glaubenszeugnis in Wort und Tat berufen. Jede ethisch zu verantwortende weltliche Aufgabe gründet genauso in einer Berufung durch Gott wie die Ordination in ein geistliches Amt.
Keiner der Reformatoren plante mit solchen Überlegungen den Übergang zu dem, was wir heute als Demokratie bezeichnen. Doch es bahnte sich ein Bild vom Menschen an, das den Übergang zu demokratischen Verfassungsformen in Kirche und Staat begünstigen konnte. Dass es dazu kam, war jedoch von vielen weiteren Bedingungen abhängig. Faktisch haben sich diese Impulse zunächst außerhalb Deutschlands stärker ausgewirkt als im deutschen Luthertum. Die amerikanische Entwicklung kann als Beispiel dafür dienen, dass reformatorische Anstöße die politische Beteiligung gestärkt, die Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen gefördert und der Demokratie gut getan haben. Dass das alles kein sicherer Besitz ist, zeigt sich in den politischen Entwicklungen der Moderne immer wieder – bis in unsere Gegenwart hinein.
Die lutherische Reformation in Deutschland war stärker auf die Anerkennung der Obrigkeit als auf die demokratische Umformung des Staats ausgerichtet. Martin Luther rief schon in der Schrift „An den christlichen Adel“ von 1520 die Fürsten dazu auf, die Reformation zu unterstützen. In den evangelischen Territorien wurden sie zu Schutzherren der Reformation. Ohne ihre Unterstützung wäre die Reformation auf Dauer wohl kaum erfolgreich gewesen. Dabei bezog sich die Rolle des Staates nicht nur auf den Schutz gegenüber päpstlichen Machtansprüchen, sondern ebenso auf die Errichtung verlässlicher Verwaltungsstrukturen im Inneren der Kirche. Darauf geht die staatsanaloge Struktur der deutschen evangelischen Landeskirchen zurück, die sich bis zum heutigen Tag erhalten hat. Von den fünf Jahrhunderten reformatorischen Kirchentums, auf die wir in diesem Jahr zurückblicken, waren in Deutschland nicht weniger als vier durch das Bündnis zwischen Thron und Altar geprägt, für das kein demokratisches Staatsverständnis ausschlaggebend war, sondern ein monarchisches. Das wird dadurch veranschaulicht, dass mit dem Ende der Monarchie im November 1918 auch die vierhundert Jahre des landesherrlichen Kirchenregiments an ein Ende kamen.
Unterscheidung der zwei Reiche
Zwar hatte die Reformation die politische Herrschaft entsakralisiert und das weltliche vom geistlichen Regiment unterschieden. Dennoch war es zu einer Aufwertung der Rolle der Landesherren nicht nur in politischer, sondern auch in kirchlicher Hinsicht gekommen. Allerdings wurde zugleich eine Grenze formuliert, die auf lange Frist von großer Bedeutung war. Zwar galt die Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, aber zugleich wurde der Satz Jesu aus dem Johannes-evangelium eingeschärft: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Die Obrigkeit durfte sich demgemäß nicht in die Aufgaben des geistlichen Amts einmischen. Markant sagte Luther im Jahr 1530: „Um so viel nun das ewige Leben das zeitliche Leben übertrifft, so weit und hoch geht auch das Predigtamt über weltliche Ämter hinaus.“
Ein schlichter Rückgriff auf das politische Denken der Reformationszeit greift nach alledem zu kurz. Eine politische Ethik für die Gegenwart hat sich unter anderem dadurch auszuweisen, dass sie zur Demokratie als Verfassungs- und Lebensform ein geklärtes und konstruktives Verhältnis entwickelt. Der Protestantismus tat sich damit lange schwer. Christlicher Gehorsam galt jeder Staatsform, im Deutschland bis 1918 ganz besonders der Monarchie. Dass der Protestantismus den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Demokratie aufs Ganze gesehen mehr schlecht als recht bewältigt hat, lässt sich nicht leugnen. Die historisch gewachsene Bindung gerade der evangelischen Kirchen an die überlieferte Staatlichkeit erwies sich als übermächtig. Und der als Schmach empfundene Versailler Friedensvertrag tat das Seine dazu. Vor allem aber zeigte sich unter den Bedingungen der jungen, schon bald gefährdeten Weimarer Demokratie: Der Protestantismus hatte keine Ethik der politischen Form entwickelt, er hatte die Frage nach der Gestalt politischer Herrschaft nicht zum Thema gemacht. Die Unvollkommenheit jeder Verfassung wurde nur allzu leicht zur Entschuldigung für eine Denkfaulheit, die sich der Frage nach Staatsform und Verfassung gar nicht erst stellte. Die Widerstandslosigkeit, mit der weite Teile des Protestantismus die Zerstörung der Weimarer Demokratie hinnahmen oder förderten, war die Kehrseite einer solchen Gleichgültigkeit gegenüber der Frage der politischen Form. „Ja zum Staat, Nein zur Demokratie“, hieß eine Parole, unter der viele Protestanten den Übergang zum nationalsozialistischen Führerstaat begrüßten.
Der Kirchenkampf nach 1933 bewirkte eine folgenreiche Wandlung in der evangelischen Ethik des Politischen. Das Schlüsseldokument der Bekennenden Kirche, die Barmer Theologische Erklärung von 1934, wandte sich entschlossen von jeder metaphysischen Verklärung des Staats ab und band dessen Handeln ausdrücklich und konsequent an die Aufgabe, in der Vorläufigkeit der „noch nicht erlösten Welt“ für Recht und Frieden zu sorgen. Allein in dieser Aufgabe hat dann aber auch die Loyalität der Bürger zum Staat ihren Grund, nicht in dessen metaphysischer Hoheit und Autorität. Indem die Barmer Theologische Erklärung auf die „gemeinsame Verantwortung von Regierenden und Regierten“ verwies, klang auch die Forderung nach einer Staatsform an, in der eine solche Verantwortung wahrgenommen werden kann: der Staatsform der Demokratie.
Nichts hätte näher gelegen, als dass die evangelische Kirche nach 1945 ihre Zustimmung zur neu errichteten demokratischen Verfassung in aller Form, in einer feierlichen Erklärung oder Denkschrift, niedergelegt hätte. Aber nichts dergleichen geschah. Einer der Gründe mag sein, dass evangelische Christen in Deutschland-Ost und Deutschland-West unter zwei höchst gegensätzlichen politischen Systemen zu leben hatten. Doch ein anderer Grund lag zweifellos darin, dass die Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Form den Protestantismus weiter begleitete. Kirchliche Äußerungen zu politischen Fragen häuften sich, aber die politische Form, die dem kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag so großen Raum einräumte, wurde nicht erörtert.
„Christen in der Demokratie“ ist unter zeitlicher Perspektive ein Thema, das in Deutschland noch kein Jahrhundert umfasst. „Christen in der Demokratie“ ist die Überschrift über einen mühevollen Lernprozess, den die Kirchen durchmachen mussten. Es ist aber auch die Überschrift über ein Zukunftsprojekt von hoffentlich unabsehbarer Dauer. Denn die christlichen Kirchen sind dem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen dankbar für die Bedingungen, unter denen sie hier und heute existieren können. Sie sind froh über die politische und rechtliche Ordnung der Demokratie und die vorzüglichen Gestaltungsmöglichkeiten, die diesen Individuen, politischen und zivilen Akteuren bietet. Mehr als dies: Sie sind in hohem Maße solidarisch mit der Demokratie, bejahen sie und sind bereit, sie gegen Gegner und Feinde, bei Herausforderungen und in Gefahren zu unterstützen und zu verteidigen. Zu Recht behauptet der Berliner Systematische Theologe Christof Gestrich: „Im heutigen Europa gehören die Kirchen im Zweifelsfall zu den überzeugtesten Verteidigern der Demokratie.“ Die EKD unterstrich das 1985 durch ihre Demokratiedenkschrift. Und die evangelische und katholische Kirche in Deutschland bekräftigt es 2006 durch ihr Gemeinsames Wort „Demokratie braucht Tugenden“.
Sowohl in der Demokratiedenkschrift von 1985 als auch im Gemeinsamen Wort von 2006 werden die notwendigen und inneren Affinitäten skizziert, die zwischen Christentum und Demokratie bestehen. Aus der Sicht des christlichen Glaubens gilt dabei zu allererst: Menschenwürde und Menschenrechte sind Kategorien, die nach christlichem Verständnis in der Gotteben-bildlichkeit des Menschen wurzeln. Die im christlichen Glauben gebotene Nächstenliebe hat wie die zu ihm gehörende Feindesliebe die anderen Menschen als Personen im Blick, die von Gott geliebt sind. Eben deshalb ist diese Liebe auf Frieden und Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Miteinander wie im Feld der Politik gerichtet. Politisches Handeln in der Demokratie ist darauf angewiesen, dass die Bürger und Bürgerinnen aus klaren und praxisfähigen ethischen Ressourcen heraus leben und ihre Normen, Werte und Ideale in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rolle aktiv in das Gemeinwesen einbringen.
Dabei ist unbestreitbar, dass auch die Wirtschaft, ja, sie in ganz besonderem Maße, Wichtiges zu Stabilität und Leistungsfähigkeit eines demokratischen Staatswesens beizutragen hat. Eine starke Wirtschaft kann eine Demokratie stärken, eine schwache Wirtschaft sie dagegen nachhaltig erschüttern. Aber auch im Blick auf die Wirtschaft kommt es nicht nur auf die Stärke an, sondern auch auf ihre Verträglichkeit mit Demokratie und Rechtsstaat. Eigensucht muss gezähmt, und Regelverletzungen müssen geahndet werden.
Hoffnung auf Gott
Mit persönlichen Haltungen, die Befolgung des Rechts eingeschlossen, ist aber noch kein Staat zu machen. Und auch eine gute Verfassung allein garantiert nicht den Erfolg des Gemeinwesens. Vielmehr muss beides zusammenkommen. Und darüber hinaus bedarf es einer begründeten und tragfähigen Hoffnung in den Herzen der Menschen. Christen in der Demokratie hoffen darauf, dass Gott diese Welt nicht im Stich lässt, sondern sie begleitet und für das Leben auf dieser Erde eine gute Zukunft will.
Indem Christen inmitten der demokratischen Gesellschaft leben, stehen sie zu ihr zugleich in einem Verhältnis kritischer Solidarität. Sie identifizieren sich mit der Demokratie, glorifizieren sie aber nicht. Sie treten genau deshalb für die Demokratie ein, weil sie unter allen Staatsformen am realistischsten mit der Revisionsbedürftigkeit von Entscheidungen und der Verführungskraft der Macht rechnet. Deshalb sehen sie in der Gewaltenteilung, der Verleihung von Herrschaft auf Zeit und dem Vorrang des Rechts vor der Macht hilfreiche Bestimmungsmomente der Demokratie. Die Bejahung der Demokratie schließt ein, dass jede demokratische Ordnung verbesserungsbedürftig, aber auch verbesserungsfähig ist. Mit der Absage an jedes politische Gottesgnadentum ist die Aufgabe beständiger Verbesserung verbunden. Kein irdisches Gemeinwesen ist mit dem Reich Gottes gleichzusetzen.
Zum Schluss bleibt zu bedenken: Das reformatorische Bild vom Menschen preist die von Gott dem Menschen geschenkte Gerechtigkeit, zieht aber zugleich die Sündhaftigkeit und Fehlerhaftigkeit des Menschen ins Kalkül. Auch in dieser Hinsicht plädiert aufgeklärtes christliches Denken für einen menschlichen, menschengemäßen Staat. Der demokratische Rechtsstaat nimmt Rücksicht auf die Grenzen der Verlässlichkeit von Regierenden und Regierten. Seine Mechanismen der Machtkontrolle sollen die Folgen menschlicher Fehler in Grenzen halten. So nüchtern dieser Impuls der Reformation klingt, so unentbehrlich ist er, wie ein Blick gerade in die heutige Welt zeigt.
Wolfgang Huber