Feldforschung im Kirchenraum

Bertram Schirr hat über die „Performance bei Fürbitten“ promoviert
Foto: Andreas Schoelzel
Foto: Andreas Schoelzel
Was passiert eigentlich bei den Fürbitten, und was bedeutet das für unsere Gottesdienst-Landschaft? Wir stehen vor einer Revolution, meint der praktische Theologe Bertram Schirr aus Berlin, der zurzeit Vikar ist.

Als ich ein Vorleseverzeichnis für Theologie in die Hand bekam, war es um mich geschehen, denn alles, was da drinstand, interessierte mich sehr. Dabei wollte ich eigentlich gar nicht Pfarrer werden. Meine Kindheit und Jugend habe ich auf dem schönen Burghof des Domes in Brandenburg an der Havel verlebt. Die Eltern aus allen Familien, die dort wohnten, waren bei der Kirche beschäftigt, und wir Kinder bekamen sie recht selten zu Gesicht. Damals dachte ich: „Das ist ein Deal, den man sich gut überlegen muss.“ Aber dann habe ich doch in Berlin und Greifswald Theologie studiert, und zwar ohne ständig über Gott reden zu wollen oder zu müssen, sondern ich bin mit Neugier und mit einem ganz allgemeinen und theoretischen Interesse an die Sache herangegangen und habe dabei viel gelernt.

Nach dem Gemeindepraktikum hatte ich trotzdem den Eindruck, dass ich meinen Blickwinkel erweitern muss und ging für einen Masterstudiengang nach Oxford. Dort war ich an einem sehr offenen baptistischen College, an dem man Praktische Theologie mit ganz vielen Leuten aus ganz verschiedenen christlichen Konfessionen aus aller Welt studieren konnte. Da gab es natürlich Anglikaner, aber auch Fundis aus den USA, Leute von der Zeltmission, Christen aus Asien und, und, und . Diese Vielfalt hat mich fasziniert und bereichert.

Nach dem Examen in Berlin war ich unschlüssig: Eigentlich wollte ich raus und mit Menschen zu tun haben. Andererseits wollte ich das im Studium Gelernte nochmal kompakt anwenden, indem ich längerfristig darüber nachdenke und in größerem Zusammenhang darüber etwas schreibe. Da ich dann das Glück hatte, drei Tage bevor meine Stelle als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theologie und Geschlechterstudien auslief, die Zusage für ein Promotionsstipendium zu bekommen, konnte ich das umsetzen. Der Titel meiner Dissertation, die ich gerade abgeschlossen habe, lautet: „Fürbitten als religiöse Performance – Eine ethnographisch-theologische Untersuchung in drei kontrastierenden Berliner Gottesdienstkulturen“. Sie knüpft an meine Examensarbeit an, in der es um die zeichentheoretische Bedeutung von Segensgesten ging. Nun interessierten mich die Fürbitten, also der Teil, der im Gottesdienst meist vor dem Segen kommt.

Ich bin natürlich mit Fürbitten aufgewachsen und habe mich schon als Kind gefragt: Was soll das? Was passiert da? Die Fürbitten sind ein Teil des Gottesdienstes, in dem sich viel ereignet, was nicht in der Hand des Pfarrers liegt. Um dies genauer zu analysieren, habe ich in drei sehr verschiedenen christlichen Gemeinden in Berlin akribisch Feldforschung betrieben, und zwar in einer gemäßigten Pfingstlergemeinde im Stadtteil Wedding, in einer postevangelikalen Hipstergemeinde in Berlin-Mitte und in einer sehr traditionellen, hochliturgischen landeskirchlichen Gemeinde ein paar U-Bahn-Stationen weiter. Die Ergebnisse waren natürlich sehr unterschiedlich, doch eines war bei allen dreien gleich: Fürbitten sind eine Interaktion und nicht nur eine Frontalaktion des Pastors oder der Pastorin.

In der Pfingstlergemeinde im Wedding, deren Gottesdienst in einem etwa 70 Quadratmeter großem überfüllten wohnzimmerähnlichen Raum stattfindet, ist viel „Action“: Alle machen mit, alle formulieren bei den Fürbitten gleichzeitig unterschiedliche Anliegen. Viele gehen dabei aus sich heraus, man wird berührt, man wird agitiert. Ja, es ist wie ein leichtes Kardiotraining, und es empfiehlt sich durchaus, leichte Kleidung anzuziehen. Auf jeden Fall tritt man in dieser Gemeinde an Gott heran, indem man den Körper bewegt.

Anders geht es in der jungen stylischen Gemeinde in Berlin-Mitte zu, die ihren Gottesdienst in einem Kino veranstaltet. Die Besucher können bequem in den Sesseln versinken, und es ist auch sonst so ähnlich wie im Kino: Die Gottesdienstbesucher müssen selbst nichts tun. Sie können sich in Ruhe überlegen, ob und wie sie an dem Geschehen teilnehmen wollen. Distanz ist wichtig, und die Besucher verhalten sich eher wie Konsumenten, was sich auch daran zeigt, dass längst nicht alle alles bei den Fürbitten mitsprechen. Und als dann einmal für die Fertigstellung des Berliner Flughafens gebetet wurde, haben einige gelacht.

Ganz anders ist es in der traditionellen hochliturgischen landeskirchlichen Gemeinde. In der backsteingotischen Kirche gibt es eine klare Ordnung im ganzen Gottesdienst und natürlich auch bei den Fürbitten. Die Kirchenbänke knarzen, wenn man sich bewegt, und das versucht man zu vermeiden, denn dann fällt man auf. Die typische Fürbittehaltung der Gemeinde ist, dass man den Kopf senkt und die Hände vor dem Körper faltet. Dort gibt es eine sehr traditionelle Antwort auf jede Fürbitte, sie lautet: „Herr, erbarme dich!“ Doch diese Treue zu Tradition und Haltung kommt gar nicht von den Pfarrern. Die versuchen häufig, freiere Formen bei den Fürbitten zu verwenden, sondern sie kommt aus der Gemeinde selbst.

Die Feldstudien aus den drei völlig unterschiedlichen Gottesdienstwelten bilden den Hauptteil meiner Arbeit. Das lohnt sich, denn so etwas ist bisher selten gemacht worden. In meinen drei Gemeinden gibt es drei völlig verschiedene Haltungen, um mit Gott in Kontakt zu kommen, einmal durch Bewegung, dann durch Entspannung und schließlich durch Disziplinierung. Mir liegt gar nicht daran, das zu bewerten. Aber meine Beobachtungen und die ausführlichen Interviews mit den Gottesdienstteilnehmern haben gezeigt, dass es in jeder dieser Gemeinden eine Art körperliches Wissen gibt, wie man sich zusammen vor Gott verhält. Und dieses Wissen wird nicht von den Pastoren verwaltet, sondern es wird in der Gemeinde weitergegeben. Die Präsentation und Auswertung dieser verschiedenen Gemeinde- und Gottesdienstformen mit einer Fokussierung auf die Fürbitten ist der Hauptteil meiner Arbeit. Ich sehe mein Thema aber auch noch vor einem größeren Hintergrund: Die vielen, ganz unterschiedlichen Gemeinden und Gottesdienste, die es in Berlin, wie in fast allen größeren deutschen Städten und zunehmend sogar auf dem Lande gibt, zeigen, dass die Globalisierung wirklich bei uns angekommen ist. Durch die Geflüchteten hat diese Entwicklung seit 2015 noch einmal einen Schub bekommen. In naher Zukunft wird sich die Frage stellen, ob wir unsere normalen Gottesdienste noch einsprachig halten können. Denn die Sprache ist eine ganz entscheidende Frage der Inklusion. Wenn wir uns da auf den Weg machen wollen, brauchen wir sinnvolle Strategien, um heterogene Gruppen sinnvoll in einem Gottesdienst zusammenführen zu können.

Ich hoffe, meine Untersuchung, mit ihrem tiefen Einblick in ganz unterschiedliche Formen der Fürbitte, kann für diesen notwendigen, revolutionären Wandel unserer Gottesdienstpraxis nützliche Anschauungen liefern.

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

Bertram Schirr

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