Der Teufel ist eine Frau
Viel Neues darf man im Jahr 2017 sicher nicht erwarten. Weder zum Reformator selbst noch zu den Ereignissen rund um die Reformation, die mit der Veröffentlichung von 95 Thesen gegen den Ablasshandel vor 500 Jahren in Wittenberg ihren Ausgang nahm. Über Martin Luther dürfte mittlerweile so gut wie alles gesagt sein, was Nachgeborene überhaupt sagen können: Unzählige Historiker, Theologen, Schriftsteller, Filmemacher und andere Kulturschaffende haben sich seines Lebens und Wirkens angenommen, es von allen nur denkbaren Seiten beleuchtet - bis hin zu dem Speiseplan in seinem Haus, den man aus den Funden in der Abfallgrube rekonstruieren zu können glaubt.
Und da, passend zum 500. Reformationsjubiläum, kommt nun John von Düffel daher, und will Luthers Leben auf die Theaterbühne bringen. Was umso mehr wundert, als der atheistisch sozialisierte Schriftsteller und Dramaturg zwar schon etliche Stoffe bearbeitet hat vom „Schuh des Manitu“ bis zu „Joseph und seine Brüder“, aber mit Kirche sonst kaum etwas zu schaffen hat.
Allerdings habe er, so bekannte er kürzlich in einem Rundfunkinterview, als Kind, als er in der Schule in Berührung mit der Bibel kam, gemeint, Martin Luther sei deren Autor. Und als Erwachsener? Da sind es seinen eigenen Worten zufolge die Sprachgewalt und Standhaftigkeit Luthers, die ihn nachhaltig beeindrucken. Mit Sprachgewalt und einer Standhaftigkeit, die am Ende nicht weit entfernt ist von Trotz, Verbohrtheit und Fundamentalismus, so präsentiert John von Düffel dem Theaterpublikum seinen Luther. Überschrieben hat er das Stück „Martinus Luther - Anfang und Ende eines Mythos“. Uraufgeführt wurde es in dieser Spielzeit in Münster von einem kleinen, aber munter und engagiert aufspielenden Ensemble unter der Regie von Max Claessen.
Mit Sprachgewalt
Anfang und Ende, darum geht es in dem Stück: um Luthers Aufbegehren gegen den Vater, gegen den ihm vorgezeichneten Weg als Jurist, um seine urplötzlich - aus stürmischem Himmel - herniedergekommene Überzeugung, Mönch werden zu müssen. Und es geht um das Ende seines Lebens, um seine Verhärtung, um seinen Juden- und seinen Türkenhass.
In der Tat: Nicht viel Neues. Jedenfalls nicht für Luther-Kenner und sicher auch nicht für viele bewusste Protestanten, für die der ehemalige Augustinermönch und spätere Reformator noch immer fester Orientierungspunkt in ihrem Glauben ist. Für das Münsteraner Publikum hingegen schien vieles neu zu sein: die Lebensgeschichte, die inneren Konflikte, das Ringen um Gottes Gnade, die Höllenängste eines von mittelalterlichem Denken geprägten Mannes. Denn das war Luther ja: ein Mensch des Mittelalters, und als solchen zeigt ihn John von Düffel vor allem im ersten Teil seines mehr als zweistündigen Stückes, dessen Handlung mit dem Erlebnis bei Stotternheim, als Luther (Daniel Rothaug) auf dem Weg von Erfurt nach Mansfeld ist, seinen Ausgang nimmt. Ein Gewitter versetzt den jungen Mann in Todesangst und leitet die grundlegende Wende in seinem Leben ein. Kurz danach tritt er dem Augustinerorden in Erfurt bei.
„Vater“ - so heißt das erste Wort des Stückes, das er verzweifelt herausschreit. Und schnell wird klar: Es geht um zwei Väter: den himmlischen und den leiblichen.
Der leibliche: ein lebenspraktischer und eher antiklerikal eingestellter Mann (Gerhard Mohr), der das Stotternheimer Erlebnis abtut mit den Worten „Es war Gewitter halt“ und vom Mönchstum so gar nichts hält, weil er überzeugt ist: „Den Tätigen liebt Gott.“
Viel schwerer aber als die Auseinandersetzung mit seinem leiblichen Vater wiegt bei von Düffel und vermutlich auch in Luthers realem Leben der ewige Kampf darum, wie er es seinem himmlischen Vater Recht machen, wie er als „Knecht Gottes“ sein „Seelenheil retten“, seine „sündigen Gedanken“ und seine „Fleischeslust“ bändigen kann. Visionen vom Teufel, in der Münsteraner Inszenierung gespielt von einer Frau (Ulrike Knobloch), quälen ihn, Höllenängste, Verzweiflung und Zweifel. Und hinter allem steckt die Kernfrage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Es ist sein Mentor und Beichtvater Johann von Staupitz (Gerhard Mohr), der ihn immer wieder aufrichtet.
Zwischendrin singt der Chor und kommentiert nach antikem Vorbild das Geschehen. Mit Liedern Luthers wie zum Beispiel „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ und modernen evangelischen Ohrwürmern. „Die Internationale“ läutet schließlich das Aufbegehren des jungen Theologen gegen die Ablasshandel und kirchliche Missstände der Zeit ein. Der Teufel ist jetzt der Papst. Und Luther der Revoluzzer. Luther: „Ich schulde meinem Gewissen mehr als dem Papst.“
Papst als Teufel
Was nach einem kurzen Intermezzo mit dem Ablasshändler Tetzel (Ulrike Knobloch) folgt, ist, erstmals überhaupt in dem ganzen Stück, Theologie: Der junge Mann scheint plötzlich gefestigt, die Ängste und Teufelsvisionen sind Vergangenheit. Luther ist da angekommen, wo die Reformation ihre eigentliche Basis hat: bei der Rechtfertigungslehre: „Aus dem Glauben sind wir gerecht“, sagt er und zerschlägt symbolisch eine Miniatur-Kirche.
Teil zwei: Der alte Luther (Gerhard Mohr). Er zetert und pöbelt gegen den Papst, gegen Juden und Türken, gegen die Medizin, die er nehmen soll, gegen die Freitagsregel, kein Fleisch zu essen. Er schreit nach Wein, nach Blutwurst, Gulasch und Schweinebraten. „Wozu habe ich die Kirche reformiert?!“
Während das zeitgenössische Publikum voller Unverständnis auf die mittelalterlichen Ängste und seelischen Qualen des jungen Luther blicken muss, den späten Luther, so wie von Düffel ihn präsentiert, versteht es. Solche Menschen gibt es noch immer: Die alt sind und krank, dabei verbittert und zynisch. Und Luther wäre nicht Luther, wenn er nicht stets auch mit einem derben Spruch bei der Hand wäre - zum Beispiel: „Für die Toten Wein, für die Lebenden Wasser! Das ist eine Regel für die Fische.“ Oder: „Allein essen ist wie zu zweit scheißen“.
Aber der alte Martin Luther ist nicht nur eine unangenehme Erscheinung, er erregt auch Mitleid, wie er da so mit seinem Kopf auf den Armen über dem Tisch liegt, die Bierdosen darunter, eine Schachtel Zigaretten darauf, in einem Haus mit kaputtem Dach. „Heute keine Tischgesellschaft“, erklärt Katharina (Ulrike Knobloch) einem jungen Mann, der der Tochter Margarete den Hof machen will. Drei Worte, die alles sagen...
Ja, die guten Zeiten im Hause Luther/von Bora sind vorbei. Die Zeiten neuer Ideen, die Zeiten des Aufbruchs. Auch der Teufel ist noch immer nicht besiegt: Er „schläft viel näher bei mir als du“, sagt Luther, kurz bevor er stirbt, zu Katharina. Resignation macht sich breit. Luther ist überzeugt: „Es gibt keine Freiheit. Alle wichtigen Fragen entscheidet Gott, alles unwichtige wir“. Und Erkenntnis gibt es auch nicht: „Ehe wir klug werden, legen wir uns nieder und sterben.“
Versöhnliche Töne hat am Ende nur der Chor zu bieten. Er singt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen...“
Und Katharina? Sie ist eher eine Randnotiz in dem ganzen Drama. „Herr Käte“ - von Düffel stellt sie als lebenstüchtige, kluge und vor allem emanzipierte Frau vor, die nicht aus Liebe geheiratet hat - „Liebe wurde erfunden, damit Frauen sich unterwerfen“ - , sondern aus Respekt und weil sie, wie sie selbst sagt, ihn retten wollte. Wie er überhaupt in seinem Stück sehr nahe an den historischen Überlieferungen bleibt. Um den Anfang und das Ende Luthers geht es. Was dazwischen passiert, was den späten Luther zu einem „Hassprediger“, wie es in Rezensionen hieß, werden ließ - diese Erklärung oder zumindest ein Erklärungsversuch bleibt der Autor seinem Publikum schuldig. Das aber wäre gerade das Spannende gewesen: zu ergründen, wie aus jungen frischen Ideen gepaart mit fester Überzeugung und Standhaftigkeit am Ende nicht nur Starrsinn und Zynismus, sondern auch Fundamentalismus werden kann.
Dann wäre das Stück vielleicht ein Beitrag zu aktuellen Debatten gewesen. So wie es ist, mag es vielen Zuschauerinnen und Zuschauern manch Erhellendes über den Reformator, seine seelischen Irrungen und Wirrungen, seine Ideen und seine Zeit erzählen, viel mehr aber bietet es nicht.
Information
Die Auftragsarbeit „Martinus Luther“ von John von Düffel ist in der Inszenierung von Thomas Luft ab März in ganz Deutschland zu sehen. Mit dabei sind die Schauspieler Thomas Kügel, Anja Klawun, Sebastian Gerasch und Anno Kesting. Premiere ist am 5. März im Stadttheater Minden.
weitere Gastspiele
Interview mit John von Düffel
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock ist Journalistin. Sie lebt in Bielefeld.