Brücke in den Orient

Protestanten spielen in Nahost eine wichtige Nebenrolle
Die evangelisch-lutherische Weihnachtskirche in Bethlehem. Foto: epd/ Friedrich Stark
Die evangelisch-lutherische Weihnachtskirche in Bethlehem. Foto: epd/ Friedrich Stark
Die Religionswissenschaftlerin und Politologin Katja Dorothea Buck schildert, wie der Protestantismus im Nahen Osten Fuß fasste und wie es evangelischen Christen dort heute geht.

Wer als Gast aus Deutschland in Kairo, Beirut oder Bagdad einen evangelischen Gottesdienst besucht, muss sich nicht sonderlich umstellen. Ein Großteil der Lieder folgt den bekannten Melodien. Wann Schriftlesung, Predigt, Fürbitte und Vaterunser dran sind, erschließt sich auch ohne Arabischkenntnisse. Und wie in Deutschland schüttelt der evangelische Pfarrer auch im Orient allen am Ausgang die Hand. Und auch beim anschließenden Smalltalk mit der Gemeinde gibt es kaum Verständigungsprobleme. In der Regel sprechen evangelische Christen im Nahen Osten Englisch oder Französisch, und das oft besser als ihre Gäste aus Deutschland. Wer nun glaubt, diese Erfahrungen sei für das Christentum im Nahen Osten repräsentativ, sollte am folgenden Sonntag wahlweise einen koptischen, assyrischen, armenischen, maronitischen, syrisch- oder griechisch-orthodoxen Gottesdienst besuchen. Ohne Vorkenntnisse wird er oder sie gar nichts verstehen.

Geringe Zahlen

Nirgendwo in der Welt sind die Unterschiede zwischen Kirchen, Liturgien und Theologien größer als im Nahen Osten. Die evangelischen Christen spielen in diesem Konzert der Konfessionen nur eine Nebenrolle. Sie sind in der Region die kleinste aller christlichen Minderheiten. In keinem Land schaffen sie es auf ein Prozent der Bevölkerung. In Palästina, im Irak, im Libanon, in Syrien oder in Jordanien liegen die absoluten Zahlen allenfalls im vierstelligen Bereich. Nur das bevölkerungsreiche Ägypten stellt eine Ausnahme dar. Dort kommen Protestanten mit 700?000 gleich an zweiter Stelle nach den Koptisch-Orthodoxen.

Doch die evangelische ist nicht nur die kleinste, sondern auch die jüngste christliche Minderheit. Der Protestantismus kann im Ursprungsgebiet des Christentums nicht auf eine lange Tradition zurückblicken. Amerikanische Missionare hatten die evangelische Lehre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Orient gebracht - um Muslime von ihr zu überzeugen. Als sie dabei keinen Erfolg hatten, konzentrierten sie sich auf die einheimischen, orthodoxen, orientalischen und katholischen Christen. Und von denen fanden einige Gefallen an der starken Fokussierung auf die Bibel und der Idee von der Eigenverantwortung vor Gott und gründeten die ersten evangelischen arabischen Kirchen.

Verständlicherweise gefiel dies den einheimischen Kirchen nicht. Der berechtigte Vorwurf, die evangelischen Missionare würden ihnen die Schäflein stehlen, stand lange im Raum und vergiftete das Klima zwischen den Kirchen. Auch behandelten die Missionare die einheimischen Christen nicht als ebenbürtige Geschwister. Sie fühlten sich ihnen überlegen, machten sich darüber lustig, dass orthodoxe Christen Ikonen küssen, beschuldigten sie der Bilderanbetung und verurteilten den Marienkult. Die Protestanten aus dem Westen sahen in den einheimischen Christen den eigentlichen Grund, warum Muslime noch nicht zum Christentum gefunden hatten.

Aber die Zeit der unverhohlenen Arroganz ist vorüber. Zwar gibt es nach wie vor evangelische Theologen, die der Überzeugung sind, dass es den Protestantismus im Nahen Osten vor allem deswegen braucht, damit die anderen Christen bessere Christen werden. Vor Nichtprotestanten würden sie dies so offen kaum sagen.

Aber auch in den anderen Kirchen gibt es Hardliner, die den Protestanten nach wie vor die Anerkennung verweigern und ihnen zu verstehen geben, dass sie in ihnen einen vom Westen verursachten Betriebsunfall der nahöstlichen Kirchengeschichte sehen. Doch insgesamt haben sich die Wogen geglättet. Offiziell stellt niemand mehr die Daseinsberechtigung der evangelischen Christen im Nahen Osten in Frage.

Im Gegenteil. Heute können orthodoxe Theologen sogar die positiven Auswirkungen auf ihre Kirchen benennen, die der Import des reformatorischen Gedankenguts durch die Missionare mit sich gebracht hat. „Die zentrale Rolle, welche die Bibel im Protestantismus spielt, und die Betonung von Diakonie und Bildung haben auch auf unsere Kirche ausgestrahlt und neue Türen in der Theologie geöffnet“, sagt zum Beispiel Serj Boghos Tinkjian, stellvertretender Dekan des Armenisch-Orthodoxen Priesterseminars im libanesischen Bikfaya. Er ist sich sicher, dass die Auseinandersetzung mit der Reformation seine Kirche letztendlich gestärkt hat. Und ähnliche Töne sind auch aus anderen nichtevangelischen Kirchen zu hören.

Der Einfluss des Protestantismus erstreckte sich auf die gesamte Gesellschaft im Nahen Osten. Neben der neuen Lehre brachten die Missionare moderne Bildung in die Region. Sie gründeten Schulen und Universitäten und öffneten diese für Mädchen. Allein das bedeutete schon eine Revolution. Ihre Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen zählen heute noch zu den besten. Nicht nur Christen, auch Muslime wissen die Qualität im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu schätzen. Und es ist kein Geheimnis, dass in diesen Einrichtungen der Dialog unter Christen und mit Muslimen gepflegt wird.

„Es kommt nicht darauf an, wie viele wir sind. Wichtig ist, wie gut wir unsere Arbeit machen und was wir für unsere Gesellschaft tun.“ Dieser mit viel Selbstbewusstsein gesprochene Satz gehörte lange Zeit zum Standardrepertoire evangelischer Kirchenführer aus dem Nahen Osten, wenn sie auf die geringen Mitgliederzahlen angesprochen wurden. Und in der Tat ist das Erbe des Protestantismus im Nahen Osten nicht zu unterschätzen. Aber im Bildungsbereich haben Katholiken und Orthodoxe längst aufgeholt. Ihre Schulen sind genauso attraktiv wie die evangelischen. Und auch die Diakonie ist nicht mehr ein Alleinstellungsmerkmal der Protestanten.

Der Stolz, mit dem evangelische Kirchenführer lange Zeit von Klasse statt Masse sprachen, ist mittlerweile einem Ton der Verunsicherung gewichen. Durch die schon seit Jahren andauernde Auswanderung aus dem Nahen Osten lichten sich die Reihen der Protestanten mehr und mehr. Da sie generell sehr gebildet und gut ausgebildet sind, können sie im Westen leicht einen Studienplatz, ein Praktikum oder eine Anstellung finden. Und zurück bleiben die Alten. Wird es noch eine evangelische Jugendarbeit geben, wenn fast alle jungen Leute ihre Zukunft im Ausland planen? Was ist, wenn kaum einer mehr Theologie studiert? Hinter der Zukunft des Protestantismus im Nahen Osten steht ein Fragezeichen.

Lob von anderen Kirchen

Was würde eigentlich verloren gehen, gäbe es im Nahen Osten irgendwann einmal keine Protestanten mehr? Noch ist dies eine hypothetische Frage. Aber sie muss gestellt werden, um sich über den spezifischen Beitrag klar zu werden, den evangelische Christen im Nahen Osten leisten. Nichtprotestantische Theologen sagen, dass der nahöstlichen Ökumene eine Stimme fehlen würde, die, wenn auch leise, so doch sehr wichtig sei.

Je größer und älter eine Kirche ist, desto stärker neigt sie zu Alleingängen. Als Kleinste unter den Kleinen haben evangelische Christen dagegen gelernt, dass sie nur überleben, wenn sie die Zusammenarbeit mit anderen suchen. Daher ist der holprige Pfad der nahöstlichen Ökumene von evangelischen Theologen geebnet worden.

Für Assaad Kattan, Professor für orthodoxe Theologie an der Universität Münster, spielen die evangelischen Christen im Nahen Osten aber noch eine andere, wichtige Rolle: „Europa hat seinen Weg in die Freiheit über die Reformation gefunden. Die Idee, dass auf einmal jeder die Bibel lesen und sich selbst eine Meinung darüber bilden darf, auch wenn sie im Widerspruch zu anderen steht, hat die Gesellschaft in Europa radikal verändert.“ Der Preis dafür sei gewesen, dass man nicht mehr mit einer Stimme sprechen könne. Aber für den absoluten Wert der Freiheit müsse dieser Preis gezahlt werden, meint Kattan. „Im Nahen Osten ringen die Menschen heute um Freiheit und Würde. Gerade deswegen ist der reformatorische Gedanke hier so wichtig.“ Und Kattan gibt noch eine andere Antwort auf die Frage, inwiefern die Protestanten für den Nahen Osten wichtig sind: „Es tut unseren Kirchen gut, wenn sie immer mal wieder daran erinnert werden, dass es auch weniger autoritär geht. Mit dem Arabischen Frühling ist deutlich geworden, dass die Autoritätsfrage in unseren Kirchen ein großes Problem darstellt.“

Doch vielleicht haben Protestanten im Nahen Osten noch eine andere wichtige Aufgabe. George Sabra, Präsident der Near East School of Theology in Beirut (nest), der Hochschule, an der so gut wie alle evangelischen Pfarrer aus dem Libanon, aus Syrien, dem Irak und Jordanien ausgebildet werden (siehe zz 3/2016), meint: „In einer Zeit, in der die legalistische Interpretation des Islam auch vielen Muslimen das Leben schwermacht, ist es gut, wenn jemand sagen kann, dass es ein Leben über der Scharia gibt und dass die Gnade über dem Recht steht.“

Doch auch den evangelischen Kirchen in Deutschland würde etwas Wichtiges verloren gehen, sollten ihre Partnerkirchen im Nahen Osten verschwinden. Eine wichtige Brücke in den Orient wäre dann zerstört. Die Wurzeln des Protestantismus im Nahen Osten liegen ja im Westen. Entsprechend leicht können westlichen Protestanten bei ihren Glaubensgenossen in Kairo, Beirut oder Bagdad anknüpfen, die kulturell und in der Mentalität im Orientalischen verortet sind. Wer könnte besser Brücken zum Islam und zu den orthodoxen und orientalischen Christen bauen?

Katja Dorothea Buck

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Katja Dorothea Buck

Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren zum Thema Christen im Nahen Osten, Ökumene und Dialog.


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